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Busen, Bier und Bayern-Feeling

Das Münchner Oktoberfest ist ein Paradebeispiel für kulturelle Globalisierung und regionale Identität. Menschen aus aller Welt kommen für Bier und Hähnchen auf die Theresienwiese. Über 200 Jahre Kulturgeschichte des bayerischen Volksfests gibt das Münchner Stadtmuseum einen Überblick.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 18.09.2010
    Für vier Euro Eintritt präsentiert sich das Oktoberfest von seiner kulturgeschichtlichen Seite: Eine historische Wiesn mit einem historischen Festzelt, historischen Karussells und sogar historischen Pferderennen findet dieses Jahr direkt neben der normalen Wiesn statt und erinnert daran, dass vor 200 Jahren alles mit einem Pferderennen angefangen hat. Selbst die ovale Form der heutigen Theresienwiese kommt daher: Mit einem Pferderennen sollte die Hochzeit des Wittelsbacher Kronprinzen Ludwig mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen volksnah gefeiert werden.

    Das erfährt man dieser Tage überall, nicht zuletzt in einer riesigen, mit 1000 Objekten bestückten Jubiläumsausstellung des Münchner Stadtmuseums. Man erfährt allerdings nicht, wie sehr solche Veranstaltungen vor 200 Jahren im Schwange waren und warum. Dazu müsste man einen Abstecher in die Schweiz machen. Denn dort hatte fünf Jahre vorher ein Alphirtenfest bei Interlaken im Berner Oberland stattgefunden und ein beachtliches Echo an den Fürstenhöfen von halb Europa hervorgerufen. Es war die Zeit, als der europäische Adel die Schweiz entdeckte und lieben lernte – trotz der republikanischen Traditionen der Eidgenossen. Nicht zuletzt wirkte die berühmte Schriftstellerin und Napoleon-Feindin Madame de Staël an der Schweiz-Werbung mit. Jedenfalls erlebten die ausländischen Gäste 1805 vor der Ruine Unspunnen bei Interlaken ein wohlorganisiertes, von sportlichen Wettkämpfen flankiertes Fest, bei dem Städter und Landbewohner, Patrizier und Bauern ihre von Napoleon geschürte Gegnerschaft überwanden und einander versöhnlich begegneten.

    So etwas schwebte wohl auch dem neuen bayerischen Herrscherhaus vor. Bayern war erst kurz zuvor zum Königreich erhoben worden, Mainfranken war ganz neu hinzugekommen und hatte das Territorium enorm vergrößert, und München musste seinen Ruf als Residenzstadt erst noch festigen. Ein großes Fest zur Identitätsstiftung kam da gerade recht, zumal es ein Jahr später, die Hochzeit des Prinzenpaares war schon Geschichte, wiederholt und um eine Landwirtschaftsausstellung bereichert wurde, die übrigens noch heute – allerdings im Vier-Jahres-Turnus – zum Oktoberfest gehört.

    So diente die Wiesn von Anfang an der gesellschaftlichen Versöhnung und Vermischung: Adel und Volk, Stadt- und Landbevölkerung, Jung und Alt kamen zusammen und schufen die Grundlagen dessen, was heute in Tausenden von Oktoberfesten weltweit nachgeahmt wird und dennoch in München einzigartig ist: ein Bierfest, das man als die größte offene Drogenszene der Welt beschreiben kann, ein Oktober-Karneval, bei dem alkoholische Enthemmung mit folkloristischer Verkleidung einhergeht, und ein Riesen-Rummel, bestehend aus Schaubuden, Fahrgeschäften und Gelegenheiten zum Kräftemessen, die den Wettkampftrieb der männlichen Besucher herausfordern.

    Dass alles schafft, wie es sich für einen Karneval gehört, eine durchaus erotische Atmosphäre. In der drangvollen Enge der Bierzelte ergibt sich Körperkontakt ganz von alleine, die Trachtenmode betont vom Dirndl-Dekolleté bis zur Stickerei auf der Lederhosen-Vorderseite die relevanten Bereiche und gemeinsam durchlebte Angst- und Schwindelgefühle auf Karussells und Achterbahnen tun ein Übriges, um das Triebleben auf Touren zu bringen. Ja, die Wiesn ist ein Brunftplatz, eine Loveparade avant la lettre, ein kollektiver Ausnahmezustand, der kollektiv geleugnet wird, indem man ständig "Ein Prosit der Gemütlichkeit" singt. Gemütlichkeit ist nämlich angesichts der rauschhaften Raserei von hunderttausend Menschen ein seltsam deplaziertes Wort.

    Dennoch geht es auch ums Gemüt. Zum Oktoberfest gehören auch jene Momente der Offenherzigkeit unter Fremden, die das soziale Leben erfreulich machen. In einer immer stärker fragmentierten Gesellschaft ist Geselligkeit ein hohes Gut. Entsprechend bekommt die Brauchtumspflege unter dem Horizont der Postmoderne wieder größere Bedeutung. Gerade unter jungen Leuten ist Trachtenkleidung angesagt, und nirgendwo sonst auf der Welt kann man soviel traditionsreiche Jahrmarktsattraktionen bestaunen und benutzen wie auf der Wiesn: von der Krinoline, einem Rundkarussell, über die Hexenschaukel bis zum Toboggan – lauter Geräte, die 80, 90 oder 100 Jahre alt sind.