18 Erzählungen vereint der neue Band, und in allen Erzählungen umkreist Dückers ein erstaunlich altmodisches Gefühl: die Liebe. Doch vom Konzept der romantisch selbstgenügsamen Zweisamkeit, wie es in Spielzone noch jenes Flower-Power-Pärchen Jason und Elida verkörpert, sind die Männer und Frauen, von denen die Geschichten in fast strenger Geschlechter-Abwechslung handeln, weit entfernt. Ernüchterung hat um sich gegriffen, Zweckpragmatismus und Zwangshandlungen scheinen die Liebe nicht nur wie ein Drittes zu choreographieren, sondern auch stets in ihr Gegenteil zu verwandeln. Es ist genau dieser faszinierende Moment einer psychischen Kippfigur, dem Dückers Augenmerk gilt: jener Moment einer Entgleisung, wo das Gefühl seine dunkle Kehrseite offenbart und den Blick umso exemplarischer freigibt auf eine ganz grundsätzliche Verstörung:
Wenn man vielleicht etwas zusammenfassen würde, worum die Geschichten gehen, könnte man sagen, dass sich die Protagonisten immer in Ausnahmesituationen befinden, dass sie entweder von Krankheit befallen sind, erotischen Obsessionen ausgeliefert sind oder zwanghaften Ritualen nachgehen, von Phobien verfolgt sind. Insofern sind das nicht nur Liebesgeschichten, sondern Liebe ist ein Bereich, in dem der Ausnahmezustand sichtbar werden kann.
Ein Ausnahmezustand wie z.B. der Wahn des jungen Mannes in der Erzählung "Ein Marmorkuchen". Der ist von der Mordabsicht seiner Frau überzeugt und lebt in Erleichterung und Furcht zugleich auf seinen eigenen Todestag hin. Bis zum Schluss der Geschichte lässt Dückers das Geschehen unauflösbar zwischen Realität und Imagination verharren. Schon in "Spielzone" hatte die Autorin sich als eine genaue Beobachterin zwischenmenschlicher Situationen erwiesen, und auch in "Cafe Brazil" fängt sie nicht allein jene psychischen Mechanismen ein, die wie Uhrwerke in ihren Charakteren ticken. Etwas Böses glitzert zudem in den meisten ihrer Erzählungen auf: Denn wie die Gegenmelodie zu jenen Obsessionen, von denen diverse ihrer Figuren getrieben sind, erklingt auch deren fast lustvolle Bereitschaft, zu . vernichten, was sich den eigenen Lebens- und Liebesregeln nicht unterwerfen lässt:
Ich würde nicht böse sagen, weil das so wertend ist und ich die Protagonisten nicht als pathologische Schauobjekte vorführen will. Eigentlich ist mein Blick eher sogar wohlwollend, also dass ich sehr viel Verständnis habe für diese Zweifel, Irrtümer, Abwege, Abgründe. 8/2.55 Selbst wenn es mal am Ende zu einem Mord kommt, geht es ja nicht um das Böse, sondern um das Abgründige, und das ist nicht das gleiche. Das Abgründige ist sehr nah auch verwandt mit dem Sympathischen und Liebevollen in ein und dergleichen Figur. Die Figuren sind ambivalent. Man hat ja oft auch Sympathie für sie und kann verstehen, wie sie zu einer Handlung kommen, die nicht gesellschaftlich akzeptabel ist.
Nicht alle Geschichten tragen dabei bis zum Schluss; das eine oder andere der beschriebenen Reaktionsmuster wirkt denn doch ein wenig wie auf dem Reißbrett entworfen, scheint bar jeden Realitätsgehalts. Oder liegt es nur fern unserer Vorstellung, wie der Mord, den die so harmlose, fast naiv wirkende Erzählerin in der Auftaktgeschichte "Lebenskästchen" vorgibt, aus einem Affekt heraus begangen zu haben? Schon in dieser Geschichte aber spielt Dückers mit einem Motiv, das den Erzählband wie ein roter Faden durchwebt. Mit einer an Verzweiflung grenzenden Inbrunst sucht diese junge Frau ihrem Leben eine sinnvolle Einheit zu verleihen, indem sie sich mit einer Art Reliquiensammlung umgibt: "für alles, was mir wichtig schien", so heißt es an einer Stelle, "habe ich ein materielles Äquivalent gefunden." Und sie ist nicht die einzige in "Cafe Brazil", die besessen scheint von diesem Drang zu sammeln, zu archivieren, das Leben zu fixieren:
Ich glaube, dass das schon ein zeitgenössisches Phänomen ist, also möglichst große Kontrolle über seine Umwelt ausüben zu können, da unser Lebensraum immer ausdifferenzierter und unüberschaubarer wird. Und dem meint man nur noch Herr werden zu können, indem man relativ obsessiv versucht, sein Leben im Griff zu behalten und dabei auch wiederum über sein Ziel hinaus schießt.
Es gibt ja die Geschichte Rote Federn, wo ein Mann noch den Schlüssel zur Wohnung seiner Exfreundin besitzt und dort sich heimlich hinein stiehlt und einfach nur ein paar Kleinigkeiten in ihrer Wohnung an einen anderen Platz legt, ganz kleine Eingriffe vornimmt, um so eine Minimalirritation hervorzurufen und irgendwie noch in ihrem Leben präsent sein zu wollen.
Insgesamt verstrahlen die Geschichten stark den Eindruck von Materialstudien, von skizzenartigen Momentaufnahmen. Einige wenige Geschichten wirken daher tatsächlich wie Rohentwürfe. Doch in den besten Erzählungen setzt eine Form von schockhaft beschleunigter Intensität ein, da man als Leser so gnadenlos aus der Innenwelt wieder entlassen wird, wie man unmittelbar in sie hineinversetzt wird. Reichlich Dialoge und eine sinnliche, fast haptische Schilderung der Lebenswelt - bei Dückers immer auch ein Spiegel der seelischen Innenwelttragen dazu ebenso bei wie die Binnenperspektive, aus der heraus Dückers ihre Figuren anschaulich zeichnet, ohne psychologisieren zu müssen:
Es ist immer leichter, jemanden mit einem distanzierten Blick zu beschreiben , als wenn man fast in diese Person hineinschlüpft und dann in einem viel stärkeren Maße auch mit der Verwirrung und Ambivalenz der Figur konfrontiert ist und versucht, ja aus dem Weltbild, der Mentalität, der Wahrnehmung dieser Figur heraus zu beschreiben. Das ist sehr viel interessanter, weil man als Leser dieser Figur sich sehr viel näher fühlt und, wenn es gelingt, auch plötzlich in der Lage ist, sich in einen Menschen mit merkwürdigem Verhalten einzufühlen, wo man normalerweise denken würde: das könnte mir aber nie passieren.
In einer der einfühlsamsten Geschichten taucht Dückers den Leser in die hermetische Wahrnehmung einer altersdementen einsamen Frau, und das mit einer Perfektion, die aufhorchen läßt. Und: es ist nicht die einzige Geschichte, die im Alter spielt - wie auch zwei Geschichten über Kinderängste in "Cafe Brazil" zu finden sind. Diese Auffächerung ist vielleicht die eigentliche Überraschung bei einer Autorin, die bislang unter dem Szene-Label vermerkt und vermarktet war:
Solche Medienklischees entstehen eben auch nur aufgrund von Reduktion. In "Spielzone" gibt es auch schon eine alte Dame, Rosemarie Minzlin. So was wurde dann auch gerne überlesen. In gewisser Hinsicht habe ich natürlich davon profitiert, ich kann als Autorin vom Schreiben leben. Aber gleichzeitig möchte man eben doch auch nicht so fest geschrieben werden, weil einen literarisch doch auch verschiedene Themen interessieren. Nur die Sprecherin für eine bestimmte Gruppe, für eine Jugendgruppe : in dieser Rolle zu fungieren, das ist eine Rolle, in der ich mich selber nie gesehen habe und mich nicht sehen möchte. Mich nervt auch diese Fixierung auf Jugend und Jugendprobleme heutzutage. Die Menschen werden immer älter, der Anteil der Älteren nimmt absolut zu, und ich finde diese Menschen keineswegs uninteressanter. Im Gegenteil. Und ja ich habe wirklich keine Lust, irgendeinen Jugendwahn zu bedienen, den alte grauhaarige Rezensenten sich vielleicht wünschen.