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Calibans Traum

Erst ist es ein Lüftchen bloß. Geigen in höchster Lage. Dann brummt und brodelt es in der Tiefe. Blech blitzt. Streicher spielen Wellen, die Bühne Zaubertheater. Unidentifizierte Flugobjekte in der Höhe, später wissen wir: es sind Luftgeister von Ariels Art, befehligt vom Herrn der Insel, der jetzt Prospero der Zauberer ist. Einst aber war er Herzog von Mailand, durch böse Bruderintrige verschlagen an diesen fernsten Ort. Der magisch entfachte Sturm treibt ihm nun seine Feinde zu. Fast würde daraus eine Rachetragödie, doch am Ende wird vergeben und vergessen, Prospero zerbricht seinen Zauberstab, das große Buch, das den längsten Teil des Abends die Spielfläche abgab, wird geschlossen. Die Menschen, die es an die Insel gespült hatte, reisen ab; zurück bleibt, der schon da war: Caliban, der Hexenbastard, die Kreatur, Sklave und Feind des Prospero. War wer hier?, wird er sich fragen, und wieder wird ihm das Leben als Traum erscheinen.

Von Holger Noltze |
    Es ist der reine Wohlklang, auch davor hat der gerade 32jährige Thomas Adès keine Angst. Er hat auch keine Angst, Liebesduette zu schreiben (für das Liebe-auf-den-ersten-Blick-Paar Miranda und Ferdinand, die Kinder der Feinde, die hier das Schicksal zusammenführt). Er hat keine Angst vor Textzeilen wie "In my night she is the light" (so der gerettete Ferdinand), und Miranda gesteht bald: "Love is strong – I am weak." Und vor Versöhnungsquintetten hat er gleich gar keine Angst und zeigt, was er kann, und das ist viel.
    Wann hat man in neuen Opern zuletzt soviel Metier gehört, soviel souveräne Selbstverständlichkeit in der Anwendung des Handwerks wie bei diesem Londoner Begabungsriesen. Der seine erste Oper schon vor acht Jahren schrieb, "Powder her face", ein Kammerstück um die nymphomane Skandalherzogin von Argyll; mit dessen Orchester-Geniestreich "Asyla" Simon Rattle seinen Einstand bei den Berliner Philharmonikern gab: Eine größere Bühne hat noch kein Komponist dieser Generation bekommen. Und jetzt also eine Auftragsoper für Covent Garden, nicht bloß für ein 14-Mann-Orchester, sondern für den ganz großen Apparat, und als Stoff gleich ein Allerheiligstes der englischen und Weltliteratur. Die australische Autorin Meredith Oakes hat aus Shakespeares "Sturm" für Adès nicht ungeschickt ein ziemlich konventionelles Opernlibretto destilliert, aus den fünfhebigen Iamben kurze, gut singbare Zeilen gemacht, mit ein paar echt und ein paar unfreiwillig komischen Reimen. Für die Weltpremiere gestern Abend im Royal Opera House standen ein paar der für die schwierigen Gesangsaufgaben denkbar besten Sänger zur Verfügung. Und doch...

    Und doch bleibt der erste Eindruck von Thomas Adès zweiter und erster großer Oper zwiespältig. Es gibt eine ganze Reihe schöner, ja wunderbarer "Stellen" in dieser Musik; wenn er für Prosperos Geister schreibt, für Ian Bostridges farbenreichen, öfter ins Falsett gezwungenen Caliban etwa, oder nachgerade extremistisch für den Luftgeist Ariel, mit halsbrecherischen Koloraturen und ganzen Kaskaden von Spitzentönen bis zum es. Cynthia Sieden gelingt sogar, das ganze nicht zum reinen Vokal-Stunt gefrieren zu lassen. Und doch fehlt Thomas Adès "Tempest" etwas von der Originalität, den dramaturgischen Geistesblitzen und der klanglichen Phantasie, die dem bisweilen unbekümmerten "new ecclecticism" seiner Musik sonst etwas ganz unmittelbar Einleuchtendes mitgaben. Wenn zum Beispiel nach allerlei Subtilwirkungen in Asyla ein brutal hirnentkrampfender Techno-Beat stampft. Hier aber geht es um große, um letzte Dinge, Opern auf Shakespeares "Sturm" haben schon Mozart und Beethoven und Verdi nicht komponiert, und die vollendeten Sturmopern haben es jedenfalls kaum zu größerer Verbreitung gebracht. Gleichzeitig hat die britische Presse dieses Projekt beinah zu einer Sache der Zukunftstauglichkeit des Genres Oper schlechthin stilisiert, - und dabei selten versäumt, auf die Gefährdetheit des jungen Genies hinzuweisen. Der Erwartungsdruck war enorm. Und womöglich deshalb hinterlässt Adès’ Musik, wo sie nicht Kunststücke vorführt, oder mit lange so nicht geschriebenen Kantilenen schmeichelt, oder Britten Mozart Strauss oder Bernstein zitiert, einen ein wenig verkrampft um "Seriosität" bemühten Eindruck, bei aller Gekonntheit.