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Call-Center Angela

Kanzlerin Angela Merkel hat eine neue Notrufnummer vorgeschlagen. Sie soll für alle täglichen und nicht alltäglichen Probleme und vor allem bei Ärger mit Behörden und Ämtern eine Lösung bereithalten: bei Schlaglöchern in der Straße und nicht geleerten Mülltonnen, bei zu lauten Kindern und zu komplizierten Formularen und überhaupt.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    In Prag lebte der Dichter, der das Modell aller Behördentätigkeit mit höchster Genauigkeit beschrieb. Sein Name war Franz Kafka. Er hatte den Regierungsapparat der K.u.K.-Monarchie vor Augen, jenes schlechthinnige Urbild von Amtsstuben-Dysfunktion, das sich gleichermaßen in einer afrikanischen Zollverwaltung, einem italienischen Rathaus oder einer indischen Polizeidienststelle inkarnieren kann. Das Prinzip besteht in einer alptraumhaften Mischung von Handeln und Nichtstun, von Kommunikation und Taubstummheit. Die Macht begegnet dem Untertanen in vollendeter Rätselhaftigkeit. Undurchschaubar sind ihm Sinn und Struktur des Apparates, dem er unterworfen ist.

    Genau dies ist das ultramoderne Gefühl, das uns Heutige befällt, wenn wir uns hilfesuchend an eine so genannte Hotline wenden. Zwar konnte Kafka von Call-Centern noch nichts wissen, aber auch die arbeiten nach den ehernen Gesetzen der Bürokratie: temporisieren, ignorieren, verkomplizieren. Was im Habsburgerreich "dilatatorische Behandlung" hieß, wird jetzt von telefonischen Warteschleifen erledigt. Anrufer, verrecke! Du wirst auf Dein Begehren niemals Antwort erhalten. Die menschliche Stimme, die kurz zu Dir redete, bevor die Endlosmusik eingeschaltet wurde, war bloß eine Simulation, ein zynisches Erwecken sinnloser Hoffnung vor dem Absturz ins kafkaeske Nichts.

    Nachdem der kommerzielle Kundenservice die Attitüde staatlicher Verwaltungsorgane übernommen hat, will sich jetzt umgekehrt der Staat an diesen Service-Hotlines orientieren. 115, die alte Notrufnummer in der DDR, geht der Bundeskanzlerin noch immer durch den Kopf. Auf einem Technologie-Symposium in Potsdam schlug sie vor, die Nummer als direkten Draht in den Behördenapparat zu schalten - ein Bürgertelefon nach New Yorker Vorbild, wo man rund um die Uhr Auskünfte einholen und Beschwerden loswerden kann.

    Wahrhaftig ist New York von K.u.K.-Traditionen weit genug entfernt, um mit so einer Service-Idee Ernst zu machen. Bei uns hingegen wird es sicher spaßig, eine Stelle anzurufen, die zwischen Bundes-, Landes- und Gemeindekompetenzen hin- und herschaltet und obendrein behauptet, sich persönlich um die Erledigung zu kümmern. Klingt eher nach einer neuen Vorabendserie: Behördennotruf 115 - oder so ähnlich. Wahrscheinlich wird sich jedoch etwas völlig anderes herausstellen: Call-Center liegen bekanntlich in einem ortlosen Ausland, auf der irischen Insel oder in Fernost. Irgendwann wird jemand herausfinden, dass auch der deutsche Verwaltungssachverstand in Telefonzentralen auf anderen Kontinenten ausgelagert wurde. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir feststellen: Auch die Regierung ist längst weggezogen, Adresse unbekannt.