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"Candide" im Berliner Schiller Thetaer

Leonard Bernstein ironisiert mit seiner Oper "Candide" musikalisch den Wohlstandsglauben der neuen Welt. In der Inszenierung von Wayne Marshall und Vincent Boussard schleicht sich jedoch in der zweiten Hälfte hilflose Langeweile ein.

Von Mascha Drost | 25.06.2011
    Die Zerstörung der Illusion von der "besten aller möglichen Welten" - sie beginnt mit Pauken und Trompeten. Mit einer Ouvertüre, in der rhythmischer Wahnwitz, überdrehte Melodien und wild gewordene Blechbläser einen munteren Reigen bilden - oder vielmehr: eine Burleske, die explosionsartig das ganze musikalische Material der Oper auf einmal verschießt.

    Candide, die arglose Hauptfigur, steckt derweil zutraulich den Kopf aus dem Vorhang - ein Vorhang, der wie bei einem Puppentheater immer wieder auf und zugezogen wird. Er gibt den Blick frei auf eine sparsame aber umso edler aussehende Bühne, kunststoffweiß schimmernde halbhohe Wände, in der Mitte eine Badewanne, ein Pappkarton - von oben herab blickt der Chor auf das Geschehen, wie in einem alten Hörsaal. Unten hält der Hauslehrer seinen Unterricht ab - ein wunderbarer Doppelgänger Karl Valentins, inklusive quäkender Stimme.

    Überhaupt die Darsteller - die scheinen nämlich tatsächlich aus einer besseren Welt zu kommen. Einer Sängergalaxie, in der Stimme, Aussehen und Bühnenpräsenz nicht getrennt vergeben werden. Leonardo Capalbo - ein verträumter, gutgläubiger Jüngling mit lockigem Haar und warmer, ausdrucksvoller Stimme, seine Liebste Cunegonde verkörpert von Maria Bengtsson - einer Sängerin, die, was lyrisch-dramatische Sopranrollen betrifft, gerade eine Weltkarriere angeht, mit ebenso viel Schmelz wie Strahlkraft, eleganten Koloraturen und der Präsenz einer Schauspielerin. Die war auch nötig, um neben der anderen Dame, der "Old Lady" zu bestehen - eine Lady, die alle an die Wand spielt, ob im Wespenkostüm und High Heels oder als Hausfrau mit Plüschpuschen - die Aufmerksamkeit zu bündeln, die Blicke auf sich zu ziehen, das kann Anja Silja wie nur wenige andere.

    Anja Silja tanzend auf dem Tisch, im roten Kostüm und schwarzem Fuchsschwanz, Maria Bengtsson in großer Abendrobe oder zartem Tüllkleid, die schwarzen Taftkleider der Chordamen - stellenweise präsentierten sich die Kostüme von Designer Christian Lacroix tatsächlich wie auf einem Laufsteg - wer aus rein ästhetischen Gründen in die Oper geht, kann nicht mehr erhoffen. Und was macht der Regisseur? Vielleicht hat sich Vincent Boussard, der seit Jahren mit Lacroix zusammenarbeitet, zu sehr auf Bühnenbild, Kostüme und Sänger verlassen, hübsche aber zu wenige eigene Einfälle hinzugefügt und sich dann zu schnell und bequem daran erfreut.

    Voltaires scharfe Zunge, Bernsteins kunstvoll-schmissige Musik und ein großartiges Ensemble aber stemmen zwei Stunden Opernabend trotzdem nicht allein - der Ansatz, das Stück als philosophisch-physikalisches Experiment anzulegen, dröselte sich langsam auf, hier ein witziger Einfall, da ein wenig Revue und eine ins kitschige abgleitende Schlussszene - das kann es nicht gewesen sein. Tatsächlich schleicht sich spätestens in der zweiten Hälfte hilflose Langeweile ein, da konnten auch die tapfersten Abwehrversuche der Darsteller nichts ausrichten. Immerhin aber spielte sich die Staatskapelle unter Wayne Marshall mit der Zeit frei - etwas rumpelig war man gestartet, im Laufe des Abends aber klang Bernstein immer mehr nach Bernstein und das innere Metronom der Musiker machte einem natürlichen Swing Platz. Zum Schluss: Warm-höflicher Applaus.