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Cannabis und Trauma

Medizin. - Die Medizinische Hochschule Hannover ist die Cannabis-Hochburg Deutschlands. Nicht dass die Ärzte dort mit einem Joint in der Hand arbeiten, nein: Die Hannoveraner Mediziner erforschen wie kein anderes deutsches Zentrum die therapeutische Wirkung der Hanfpflanze. In 15 klinischen Studien untersuchen sie die Effekte der Cannabis-Wirkstoffe, der so genannten Cannabinoide. Auf einem Symposium des Norddeutschen Suchtforschungsverbundes in Hannover wurden am Mittwoch Ergebnisse vorgestellt.

    Cannabis-Präparate könnten in der Therapie vielfältig eingesetzt werden, doch noch schreckt man vielerorts davor zurück, ein auch als Rauschdroge verrufenes Mittel in der Medizin zu verwenden. Dabei aktiviert der Wirkstoff das Immunsystem, vermindert Übelkeit und lindert Bewegungsstörungen etwa bei Multipler Sklerose oder der Parkinsonschen Krankheit. Professor Udo Schneider von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover nennt einige Anwendungsfälle: "Wir haben verschiedene Studien bei bestimmten Formen der Bewegungsstörungen durchgeführt und konnten zum einen bei Patienten mit Tourette-Syndrom zeigen, dass mit Delta-9-Tetrahydrocannabinol, also dem Wirkstoff aus der Cannabis-Pflanze, eine deutliche Reduktion der Tics eingetreten ist, der unwillkürlichen Bewegungen." Derzeit laufe eine gemeinsame Studie mit dem Institut für Musikermedizin, in der Musiker mit typischen Bewegungsstörungen ebenfalls mit Delta-9-THC behandelt werden - mit zum Teil sehr guten Erfolgen. Pianisten etwa, die häufig unter "Musikerkrämpfen" leiden, ließen sich mit Cannabis-Präparaten gut behandeln. Auch in der Schmerztherapie lässt sich Cannabis gut einsetzen, wie eine Studie an Unfallopfern gezeigt habe.

    Als eine unerwünschte Nebenwirkung können allerdings - wie auch beim Alkohol - massive Gedächtnisstörungen auftreten. Die Gefahr besteht vor allem in der Schmerztherapie, wo oft hohe Dosen verabreicht werden müssen. Für viele Drogensüchtige ist genau diese Wirkung aber das Motiv, Haschisch zu gebrauchen. Professor Martin Driessen vom Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin im Krankenhaus Bielefeld-Bethel, beobachtet, dass psychisch traumatisierte Menschen deutlich häufiger abhängig werden, weil sie schlimme Erlebnisse aus dem Gedächtnis verbannen wollen: "Das Vergessen spielt natürlich eine Rolle, weil die Droge den Menschen in einen Zustand versetzt, in dem er sich angenehmer, besser und sicherer fühlt."

    Verschiedene Studien deuten ebenfalls auf diesen Zusammenhang hin. Bei Betroffenen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden, ist die Gefahr einer Abhängigkeit beispielsweise deutlich höher. Eine Multicenter-Studie mit mehr als 500 Patienten soll nun klären, wie genau psychisch traumatisierte Menschen in die Drogenabhängigkeit geraten. Driessen: "Wir interessieren uns ganz speziell für Fragen, ob zum Beispiel die Suchtentwicklung bei Traumatisierten beschleunigt abläuft, ob es häufig zusätzliche Störungen gibt. Wir wissen, dass viele Suchtkranke auch depressive Störungen - Angststörungen - haben. Sie sind also nicht nur suchtkrank. Wir vermuten, dass diese multiplen Erkrankungen bei Traumatisierten häufiger sind als bei Nichttraumatisierten."

    Insbesondere amerikanische Wissenschaftler erwägen inzwischen, die das Vergessen fördernde Wirkung der Cannabinoide auch therapeutisch einzusetzen, um Erinnerungen an das traumatische Kindheitserlebnis gezielt auszulöschen. Erste Versuche mit einem cannabinoidähnlichen Stoff zeigten Erfolge: Die Patienten verloren ihre Angst. Der Bielefelder Psychiater Driessen bleibt noch skeptisch: "Eine Tablette kann unterstützend wirken, man kommt aber nicht daran vorbei, sich mit der eigenen Lebensgeschichte, mit der eigenen Biografie und wie es anders werden soll, zu beschäftigen und persönliche Strategien zu entwickeln, wie kann ich mein Verhalten ändern, so dass ich nicht auf eine zerstörerische Droge zurückgreifen muss."

    [Quelle: Michael Engel]