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Canzoniere

Ein düstrer Laden, ein Antiquariat, öffnet - in Triest - sich auf eine stille Gasse. Fleckiges Gold auf alten Bänden - das Aug, über die Regale schweifend, erfreut`s.

Gerhard Mahlberg |
    In dieser Atmosphäre lebt, für sich, ein Dichter. Mit den Toten in diesem lebensvollen Lapidarium tut er sein Werk, getreulich und auch froh, der Lieb` nachdenkend, unbekannt, allein.

    Von eingeschloss´ner Glut zerstört möchte er eines Tages sterben; die Augen schließen über den Papieren, Augen, die so viel geseh`n.

    Und was zu seiner Zeit ihm fernblieb, unerreichbar außerhalb des Raums, das malte schöner ihm die Kunst, und süßer macht es sein Gedicht.

    Dieses Gedicht - im Original übrigens ein strenggebautes, in gereimten Elfsilbern verfaßtes Sonett, was die deutsche Übersetzung (von Christa Pock und Peter Rosei) leider nicht mehr erkennen läßt - ist ein Selbstporträt von Umberto Saba; so könnte man meinen. Aber wenn man es genauer betrachtet, entpuppt es sich als das, was immer dann entsteht, wenn Dichter die eigene Person zum Gegenstand ihrer Poesie machen: es erweist sich als Selbststilisierung. Umberto Saba, der mit bürgerlichem Namen Umberto Poli hieß, besaß zwar ein Buchantiquariat in Trieste, in der engen Via San Nicolò - an unscheinbarem Ort gelegen, inmitten der Stadt; aber der Gegensatz von Kunst und gemeinem Leben, den Saba in seinem überschriftslosen Gedicht betont, ist eigentlich wenig typisch für ihn. Er verschmäht es nicht, den kleinen, scheinbar geringen Dingen sein poetisches Interesse zu schenken - und vielleicht liegt darin sogar seine Stärke. Es trifft auch zu, daß dem 1883 geborenen Umberto Saba gerade sein "Geschäft", das er bis 1938 betrieb, als er es aufgrund der faschistischen "Gesetze zum Schutz der Rasse" aufgeben mußte, die Chance des Rückzugs bot. In der "dunklen Höhle", wie es an anderer Stelle heißt, seines mit Büchern vollgestopften Ladens suchte Saba Zuflucht vor den alltäglichen Nötigungen der pompös auftrumpfenden Diktatur; denn auch wenn er alles andere als ein politisch engagierter Autor war, stand Umberto Saba dem Regime Mussolinis innerlich fern. Erst nach dessen Ende fand er - und da lag sein sechstes Lebensjahrzehnt schon hinter ihm! - in seiner Heimat Anerkennung. Heute zweifelt in Italien keiner mehr daran, daß Umberto Saba, neben dem Futuristen Marinetti und den Hermetikern Ungaretti, Montale und Quasimodo - von diesen allen aber grundverschieden! - zu den herausragenden Dichtern der ersten Jahrhunderthälfte zählt. Diese Kunde ist noch nicht zu uns gedrungen. Daher ist zu begrüßen, daß der Stuttgarter Klett-Cotta Verlag in zweisprachiger Ausgabe einen Auswahlband aus Umberto Sabas Hauptwerk, dem "Canzoniere", vorlegt. An dessen Ende ist ein nur zweizeiliges Gedicht gerückt, das Verbitterung spüren läßt. Es zeigt, wie unzufrieden Saba mit der Aufnahme war, die er bei den Lesern gefunden hat:

    EPIGRAPH

    Im Leben sprach ich zu einem Volk von Toten. Totem Lorbeer sage ich ab und ford`re Vergessen.

    Das aber darf man einem Schriftsteller wie Umberto Saba nicht gewähren! Er verdient die Aufmerksamkeit, die er als Dichter verstand, den einfachen Menschen und Dingen zu widmen, die geläufigem Urteil zufolge als banal, jedenfalls kaum poesiefähig gelten. Bei Umberto Saba gewinnen sie ihre Würde zurück. Dabei sieht er allerdings von ihrer pathetischen Rehabilitation ab. Vielmehr ist seine Haltung ihnen gegenüber eine der Anteilnahme und Bescheidung, einer Demut, die sich bei aller Kunstfertigkeit so aufrichtig und schlicht ausspricht, daß sie auf jede metaphysische Überwölbung verzichten kann. In Sabas außerpoetischem Weltverständnis ist dafür durchaus Platz; aber er befrachtet damit nicht seine Gedichte, die von dieser ideologischen Zurückhaltung profitieren. Doch Umberto Saba ist kein Dichter der Restitution. Er gibt sich nicht der Illusion hin, sein Schreiben könne heilen, den Lauf der Geschichte ändern. Im Gegenteil, ihn prägt die Erfahrung des Verlusts. Sabas Blick, der unterhalb der Ebene der Großereignisse soviel Gegenwart einfängt, so vieles, das, strahlend oder schon beschädigt, aufscheint, um gleich darauf zu verschwinden, ist melancholisch - eigentlich schon immer rückwärtsgewandt. Umberto Saba, der, wie er wiederholt betonte, das 19. dem 20. Jahrhundert vorzog, widerstrebte die Zeitgenossenschaft. Er schätzte Nietzsche nicht aufgrund seiner Lehre vom Übermenschen, sondern als Verfasser der "Unzeitgemäßen Betrachtungen"; er verehrte ihn als Vorläufer Freuds. An dessen Psychoanalyse faszinierte ihn vor allem die Auslotung des Unbewußten, die Tiefenschau in sich selbst zurück, aufs Unbegriffene des eigenen Daseins. Denn die Vergangenheit - und zwar in ganz individueller Hinsicht: die eigene Kindheit - stellt für Umberto Saba das teuerste, immer schon verlorene Gut dar. Ihm schreibt er nach, obwohl er weiß, daß er es durch keine poetische Beschwörung zurückerlangen wird. Darum sind seine Gedichte dem Schmerz abgerungen. Im "canto", im Gesang nahm er sich vor, ihn zu überwinden.

    Den "Canzoniere" hat der 1957 verstorbene Umberto Saba als Summe seines dichterischen Schaffens von den Anfängen des Jahrhunderts bis ins Jahrzehnt des Zweiten Nachkriegs angelegt. Auch diesem Bestreben, sein ganzes Werk, dem Beispiel Petrarcas folgend, in einem einzigen Buch zu ordnen, haftet etwas Anachronistisches an. Die jetzt bei Klett-Cotta herausgekommene zweisprachige Edition des "Canzoniere" bietet unter dem Titel des Gesamtwerks nur eine Textauswahl. Sie legt dabei den Schwerpunkt auf die späten Gedichte. Dadurch aber wird das Bild des Autors, zu dem sich die Texte des "Canzoniere" fügen, verzeichnet. Dem deutschen Leser, der den Original-"Canzoniere" nicht kennt, tritt Umberto Saba vor allem als Altersdichter entgegen. Auf einige der prägnantesten Gedichte, gerade aus dem frühen Zyklus "Trieste e una donna", hat man bedauerlicherweise verzichtet. Saba liefert darin unübertroffene - fast möchte man schwärmen: ewigkeitsgültige - Momentaufnahmen seiner abgelegen-betriebsamen Geburtsstadt zwischen Meer und Karst. Sie fangen ihre Sprödigkeit und Anmut ein, begründen seinen Ruf als triestiner Dichter vor allen anderen. Doch auch aus der Perspektive der Abklärung gelingt es Umberto Saba, ergreifende Gedichte zu schreiben. Zum Beispiel das folgende, das die Gefühle kontrastiert, die ein Theaterbesuch bei jung und alt hinterläßt - und das zugleich die Parade des Lebens als anderes Spektakel zu erkennen gibt, dessen Ausgang immer schon feststeht. Die Empfindung der Vergeblichkeit erweist sich auf Dauer stärker, als das Glücksversprechen:

    SCHAUSPIEL

    Nicht enttäuscht verläßt du das Schauspiel, wo Liebschaften und Abenteuer dich verzaubern, und du siehst in diesen geschminkten Figuren all deine jungen Träume in Verwirrung.

    Als ich wie du war, vergoß ich andere süße, gestohlene Tränen.

    Jetzt ist es zu spät. Es entkleiden sich die Dinge, und wir berühren ihr Skelett. Ein Kleid gefällt noch, wenn es schön. Öfter jedoch ist`s die unnötige Lüge, die uns langweilt.

    Umberto Saba blieb immer ein Außenseiter des italienischen Literaturbetriebs. Er begriff sich selbst als "periferico", als Mann vom Rand, was mit seiner Herkunft aus Triest zusammenhängt. Zur Zeit seiner Kindheit gehörte die Stadt noch gar nicht zu Italien, sondern war Adriahafen des Habsburgerreichs. Aber gerade dort vermengten sich auch die kulturellen Einflüsse verschiedener Völker. In der Erfahrung des Autors hat sich das niedergeschlagen, der sich obendrein selbst - und darin klingt Ironie an und Rechtfertigung - als "misto", Produkt einer Mischung, definierte. Weil nur seine Mutter jüdischen Glaubens war, nicht aber sein Vater, der sie noch vor der Geburt des Sohns verließ. Saba bekannte sich aus eigenem Antrieb zu Italien, als das noch keiner von ihm forderte; er leistete schon vor dem Ersten Weltkrieg freiwillig in Salerno den Militärdienst ab. Zum Nationalismus, der sich seiner Auffassung nach zum Patriotismus verhält wie die Neurose zur Gesundheit, neigte er indessen nie. Aber er beanspruchte stolz und völlig im Ernst, "der italienischste der italienischen Dichter seiner Generation" zu sein - in ganz unfaschistischem Sinne freilich! Daß das keiner annehmen wollte, verdroß Saba nicht wenig. - Augenfälliger an seiner Dichtung ist dagegen ihr Traditionalismus der Form. Wenige blieben dem für die klassische italienische Lyrik charakteristischen elfzeiligen Versmaß, dem endecasillabo, so treu, wie der aller Experimentierwut abgeneigte Saba. Daß er aus Triest stammt, ist in seinen Augen selbst einer der Gründe, weshalb er in literarischen Dingen als Bewahrer auftrat. Seine im Maßstab der Nation periphere Geburtsstadt habe der kulturellen Entwicklung des übrigen Italien hinterhergehinkt. In vielem sei das Triest seiner Kindheit noch eine "romantische Stadt" gewesen, bemerkt Saba. Diese besondere Situation hat ihm aber nicht zum Nachteil gereicht. Seine Poesie bezieht ihre Kraft gerade aus der Spannung zwischen der Modernität des Inhalts und dem Festhalten an der überlieferten Form. Saba versagt sich die Sprengung, erlaubt sich statt dessen syntaktische Verzögerungen und gewagte Zeilensprünge. Manchen seiner Gedichte verleiht das manierierte Züge. In den deutschen Übertragungen, die Gerhard Kofler, Christa Pock und Peter Rosei in der "Canzoniere"-Auswahl des Klett-Cotta Verlags vorstellen, werden diese verstärkt. So daß man sich nicht durchweg zwar, aber mitunter schon fragt, warum sich der Dichter so preziös windet. Zum Glück korrigieren die Originale Umberto Sabas den Eindruck! Sie geben raffinierte und bescheidene, dem Leben abgelauschte große Gedichte zu lesen.