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Care-Studie
"Die Kinderheiratsquote ist in Niger am höchsten"

Die Hilfsorganisation Care hat eine Studie veröffentlicht, die festhält, dass Mädchen in vielen Ländern der Welt keine weiterführende Schule besuchen - unter anderem weil sie früh verheiratet werden. Zwischen diesen frühen Kinderheiraten, chronischer Armut, fragiler Staatlichkeit sowie anhaltender Gewalt habe die Organisation eine klare Verbindung festgestellt, sagte Sabine Wilke von Care im DLF.

Sabine Wilke im Gespräch mit Sandra Pfister | 06.10.2015
    Der Blick in ein Container-Klassenzimmer
    "Schule ist nicht gleich Schule - auch die Qualität der Schulbildung muss verbessert werden", sagte Sabine Wilke von der Hilfsorganisation Care. (picture-alliance / dpa/Bernd Weißbrod)
    Sandra Pfister: Es gibt Länder, da ist es für Mädchen wahrscheinlicher, dass sie heiraten müssen, als dass sie den Klassenraum einer Schule von innen sehen. Es gibt zu viele dieser Länder: 26 hat die Hilfsorganisation Care jetzt gezählt, und mit deren Sprecherin, Sabine Wilke, sprechen wir jetzt. Frau Wilke, alle zwei Sekunden wird irgendwo auf der Welt ein Mädchen, das eigentlich in die Schule gehört, nie mehr eine Schule betreten. Die Gründe, sagen Sie, sind vielfältig, aber einer der häufigsten ist, dass dieses Mädchen zwangsverheiratet wurde. Ich dachte immer, bei der Beschulung von Mädchen sei man vorangekommen – erleben wir da jetzt gerade einen Rückfall?
    Sabine Wilke: Wir können nicht unbedingt von einem Rückfall sprechen, was die Bildungsrate angeht, aber der Unterschied, den wir hier machen mit dem Bericht, ist die weiterführende Schule. Wir haben in den letzten 15 Jahren durchaus Erfolge erzielen können mit der Grundschulbildung von Kindern, sowohl von Jungen als auch von Mädchen. Aber was Care in diesem Bericht herausgestellt hat, ist, dass es eben für Mädchen in diesen 26 Ländern inzwischen doch realistischer ist, zu heiraten, bevor sie 18 sind, als eine weiterführende Schule zu besuchen. Und mit jedem Schuljahr, das sie länger eben unterrichtet werden und auch Bildung bekommen, steigt ihre Chance dann wiederum auch, sich selber versorgen zu können, gesünder zu sein, weniger Kinder zu bekommen und so weiter. Das heißt, die Grundschulbildung, ja, da gibt es Erfolge. Was allerdings die weiterführenden Schule gerade für Mädchen angeht, da sehen wir tatsächlich jetzt weiterhin eine große Lücke, die auch geschlossen werden muss.
    "In vielen Ländern ist inzwischen Kinderheirat eigentlich gesetzlich verboten"
    Pfister: Das heißt, viele Regierungen haben da ihre Hausaufgaben gemacht, aber bei den weiterführenden Schulen sind sie einfach noch nicht weitergekommen.
    Wilke: In vielen Ländern ist Kinderheirat eigentlich auch inzwischen gesetzlich verboten, aber man muss ganz klar sagen, dass es natürlich die Normen und auch die gemeinschaftlichen Regeln häufig so zulassen, dass Mädchen weiterhin verheiratet werden, bevor sie 18 sind. Das hat zum einen ganz klar ökonomische Gründe. Man muss sich vorstellen, Eltern wollen natürlich immer das Beste für ihre Kinder, das gilt in Deutschland genauso wie in einem Land wie Bangladesch. Aber sie haben oft nicht die Möglichkeit, alle ihre Kinder zu versorgen. Und wenn dann eben ein Mann vorbeikommt und sagt, dass er das Mädchen heiraten würde, und sie ist erst 16, dann stellt man sich natürlich die Frage als Eltern auch, ob man diesem Kind vielleicht durch diese Heirat ein besseres Leben ermöglicht als das, was es zu Hause haben kann. Da wollen wir aber ganz klar ansetzen, dass eben Eltern auch mehr Anreize dafür bekommen, ihre Mädchen weiterhin zur Schule zu schicken und diese Heiraten ein paar Jahre hinauszuzögern.
    Pfister: Noch mal vorneweg: Von welchen Ländern reden wir? Liegen die vorwiegend in Afrika?
    Wilke: Tatsächlich sind bis auf zwei Länder alle in Subsahara-Afrika. Das heißt aber nicht, dass es ein Problem ist, das ausschließlich sich auf diese Region beschränkt. Was wir feststellen, ist, dass es eine ganz klare Verbindung gibt zwischen chronischer Armut und auch zwischen fragiler Staatlichkeit, anhaltender Gewalt und diesen frühen Kinderheiraten. Unser trauriger Spitzenreiter ist der Niger. Das ist auch in anderen Tabellen immer sozusagen das ärmste Land der Welt. Da herrscht chronische Armut, anhaltende Dürren, Hunger und eben auch Unterentwicklung und Armut. Und da sehen wir, dass zum einen die Kinderheiratsquote am höchsten ist - 76 Prozent der Mädchen heiraten, bevor sie 18 sind -, und wiederum die Schulungsrate für Mädchen am niedrigsten - nur zehn Prozent der Mädchen im Niger besuchen eine weiterführende Schule. Und man kann sich ungefähr vorstellen, was das dann für ihre weitere Zukunft bedeutet.
    "Wir brauchen einen langen Atem"
    Pfister: Wenn die äußeren Bedingungen so schlecht sind, bei Armut, Dürre und so weiter, wie überzeugen Sie dann die Eltern, dass sie die Kinder weiter zur Schule gehen lassen sollen, insbesondere ihre Mädchen?
    Wilke: Es gibt natürlich keine schnellen Lösungen für so was, und wir brauchen immer einen langen Atem. Hilfsorganisationen, und das ist nicht nur Care, arbeiten in den Gemeinden ganz klassisch mit Sozial- und Aufklärungsarbeit. Was wir allerdings sehen, was besonders erfolgreich ist, ist, dass wir eben vor allen Dingen auch die Väter mit einbeziehen, Väter und Wortführer in den Gemeinden, die positive Vorbilder sind. Die eben auch zu ihren Nachbarn gehen und sagen, meine Tochter durfte weiter zur Schule gehen, und seht, ihr Leben ist heute besser. Sie kann selber für ihr Einkommen sorgen, ihre Kinder sind gesund, und auch ihr Mann kann ein besseres Leben haben.
    Dann gibt es ganz klar Anreize, die wir schaffen können in den Gemeinden, um Mädchen zur Schule zu schicken. Das sind zum Beispiel Mahlzeiten, das können aber auch Hygieneartikel sein. Denn sobald die Mädchen ihre Monatsblutung bekommen, ist häufig die Scheu da, die Schule zu besuchen, weil das eben an den Gegebenheiten fehlt, um dort hygienisch auch sich an einen Ort zurückziehen zu können. Ein anderer Punkt sind mehr weibliche Lehrerinnen oder auch Stipendienprogramme. Und ganz wichtig: Schule ist nicht gleich Schule - auch die Qualität der Schulbildung muss verbessert werden, und das ist auch eine klare Forderung von Care an Regierungen, dass eben Sprachbarrieren in multilingualen Gemeinden auch überwunden werden und dass Mädchen gezielt gefördert und integriert werden, damit sie eben nicht unter das Radar fallen und die Schule dann frühzeitig verlassen.
    Pfister: Hört sich an, als wäre noch eine ganze Menge zu tun. Aber das war Sinn unseres Gesprächs, das auch noch mal herauszustellen. Sabine Wilke war das von der Hilfsorganisation Care. Sie haben eine Studie veröffentlicht, in der steht, dass Mädchen in vielen Ländern der Welt keine weiterführende Schule besuchen, vielleicht besuchen können, weil sie schwanger werden oder weil sie zwangsverheiratet werden. Danke Ihnen, Frau Wilke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.