Samstag, 20. April 2024

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Carissimo Simenon / Mon cher Fellini

Das Die erste Begegnung zwischen Georges Simenon und dem siebzehn Jahre jüngeren Federico Fellini fand 1960 in Cannes statt, anläßlich des Filmfestivals. Simenon war, wenn auch widerwillig, Mitglied der Jury geworden und hatte nicht unwesentlichen Anteil daran, daß die Goldene Palme an den noch kaum bekannten Fellini für seinen Film "La dolce vita" ging. Nicht nur der Film, auch der Preis für ihn war damals eine Provokation, wurden die Preise doch nach film- und außenpolitischen Rücksichten verteilt, wenn man Simenons Erinnerungen glauben darf. Daß ihn die Filme Fellinis mit ihren abenteuerlichen, grotesken und abgründigen Charakteren ansprachen, läßt sich bei einem Blick in seine Romane leicht nachvollziehen.

Jochen Schimmang | 01.01.1980
    Die kurze Begegnung hatte jedoch zunächst keine weiteren Folgen, von einer Einladung Simenons an Fellini im gleichen Jahr abgesehen, die dieser aus zeitlichen Gründen ablehnen mußte. Der Briefwechsel, soweit er erhalten ist, intensiviert sich erst Ende der 60er Jahre. Im September 1969 hatte Fellini der Pariser Zeitung L’Express ein Interview gegeben, in dem er unter anderem auch seine Bewunderung für Simenon zum Ausdruck brachte. Der schreibt zwei Tage später aus Lausanne an Fellini:

    "Schon beim vierten Absatz staunte ich über Ihre Antworten und dachte, daß ich selber genau das gleiche gesagt hätte. Ich fand da sowohl meine eigenen Vorstellungen über das Schöpferische in der Kunst wieder, als auch meine Einstellung zu den verschiedenen Problemen des Lebens. Es ist immer etwas Wunderbares, wenn man irgendwo einen Bruder entdeckt."

    Dieses Gefühl, einen Bruder entdeckt zu haben, bestand auf beiden Seiten. Immer wieder geben der Schriftsteller und der Regisseur in ihren Briefen und selbst in den Telegrammen, die sie sich zeitweise schicken, ihrer gegenseitigen Bewunderung Ausdruck, und der Ton verrät, daß es sich hier nicht um pure Höflichkeit handelt. Es ist die künstlerische Arbeit, die sie verbindet und über die sie sich austauschen, eine Arbeit, die nicht darin besteht, noch einen Roman zu schreiben und noch einen Film zu machen, sondem ein jeweils eigenes Universum zu schaffen.

    Die praktische Seite dieser Arbeit bei beiden läßt sich unterschiedlicher nicht denken. Auf der einen Seite Simenon, der beinahe wie ein Einsiedler in Lausanne an seinen Büchern schreibt, die sich in den siebziger Jahren von der Fiktion ab- und dem Autobiographischen zuwenden. Auf der anderen Seite der inzwischen weltberühmte Regisseur, der sich mit Produzenten streitet, um Gelder kämpft, in der Cinecittà potentielle Komparsen für seine Filme begutachtet und sich den Kopf über die Dialoge in seinem Film zerbricht. Fellinis Briefe zeigen immer wieder tiefe Zweifel an seiner Arbeit, am "Casanova"-Film etwa, weil ihm Casanova keineswegs sympathisch ist, oder an "Die Stadt der Frauen":

    "Was für ein merkwürdiger Film! Oder vielmehr: Was für merkwürdige Dinge mir mit diesem Film passieren! Noch nie habe ich mich angesichts eines Projekts, das ich verwirklichen muß, so passiv, leer und fremd gefühlt. Und auch der Film zeigt sich mir gegenüber ebenso gleichgültig und unerreichbar, wie von einer kompakten Undurchdringlichkeit umgeben. Wir mißachten uns gegenseitig. Wir vermeiden es, uns zu begegnen ... Jedenfalls ist das einzige Gefühl, das ich bei dieser ganzen Sache zu haben meine, eine gewaltige Neugier, wie das enden soll und wer diesen Film machen wird. Ich sicher nicht."

    Natürlich hat er ihn dann doch gemacht. Aber depressive Anwandlungen dieser Art wiederholen sich immer wieder, und an einer Stelle hat er selber den Verdacht, "daß ich es übertreibe und meiner Arbeit gegenüber ungerecht bin, die doch die einzige Art zu leben ist, die ich kenne." Seinen Antwortbrief darauf eröffnet Simenon wie ein strenger Vater mit dem lapidaren Satz: "Mein lieber Fellini, you will never have it the easy way."

    Fellinis Traumimago von Simenon als weisem Mönch, dem die Kinder zu Füßen sitzen und freudig bei der Arbeit zusehen, sagt einiges über sein eigenes Verhältnis zu dem belgischen Autor. Das Bruderverhältnis zwischen beiden ist durchaus asymmetrisch. Fellini ist auf jeden Fall der jüngere Bruder und in Szenen wie dieser eher der Sohn. Auch Simenon spürt das, beginnt er doch einen seiner Briefe mit dem Satz: "Lieber Fellini, mein Bruder, in Anbetracht unseres Altersunterschiedes müßte ich wahrscheinlich »mein Sohn« schreiben."

    Entsprechend ist es Fellini, der in einigen Briefen Rat sucht, niemals umgekehrt. Simenon drückt seine Bewunderung aus für die Arbeit des Regisseurs, er berichtet auch von der eigenen Arbeit, etwa mit dem auf die intimem Memoiren bezogenen Satz: "Ich bereite mich darauf vor, das Werk zu schreiben, das mein wichtigstes werden soll", aber er klagt nicht. Inzwischen auf das achtzigste Lebensjahr zugehend, weiß er, daß ihm nicht mehr viel anderes übrig bleibt, als in seinem Haus an seinem letzten großen Buch zu schreiben. Fellini dagegen träumt dann und wann von einem großen Schnitt in seinem Leben, davon, aus Italien wegzugehen, etwa nach Amerika, und ganz von vorn zu beginnen. Jedoch ist er zu klug, um nicht zu wissen, daß solcher Ortswechsel nichts bewirken würde:

    "Aber eines schönen Tages habe ich dann begriffen, daß ich nie weggehen würde, daß es nur an den bedrückenden Lebensumständen in Italien lag, an den Haaren, die immer dünner werden, so daß ich bald kahl sein werde, an der Angst, nichts mehr zu sagen zu haben, dies waren die Gründe, weshalb ich eine Luftveränderung herbeiwünschte, um anderswo neu geboren zu werden."

    Und später dankt er der wundersamen Wirkung der künstlerischen Arbeit, die die Gesundheit zurückbringt und die Gespenster vertreibt, sobald man sich einmal mit der ganzen Person in sie hineingestürzt hat. Darum geht es bei beiden, bei Simenon wie Fellini: die Gespenster zu bannen, die sie verfolgen, und sie in Literatur beziehungsweise Kino zu verwandeln. Über diesen Prozeß verrät uns der vorliegende Briefwechsel sehr viel, und das vor allem macht ihn lesenswert.