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Carl Schüddekopf: Im Kessel. Erzählen von Stalingrad

Der eisige Frost-Wind, der über die Steppen vor Stalingrad weht... - Für viele Soldaten der Wehrmacht und der Roten Armee waren dies damals die letzten Laute, die sie hörten, bevor sie qualvoll starben, bevor sie erfrierend einschliefen. Ergänzend zur Deutschlandfunk-Serie "Feldpostbriefe aus Stalingrad" möchten wir Ihnen heute fünf Bücher vorstellen, die sich ausschließlich mit dieser Stadt an der Wolga, mit dem Kampf um Stalingrad auseinandersetzen. Ein Kampf, der als Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg gilt, der den blutigen Untergang des deutschen Aggressors einleiten und besiegeln sollte. Immer noch gespenstisch - aber wie wir heute wissen: im Kern ja wahr - klingt diese anonyme, unheilverkündende Stimme aus dem fernen Russland, die in diesen dunklen Dezembertagen des Jahres 1942 hartnäckig das abendliche Streichkonzert des Deutschlandsenders unterbricht, unerbittlich in die warme Atmosphäre deutscher Wohnzimmer eindringt - Kunstwelt und Kriegswirklichkeit als brutaler Kontrast. Wie es aber an solchen Tagen rund 2000 Kilometer weiter östlich aussah, welche Stimmung dort unter den deutschen Soldaten herrschte, dafür hat sich Carl Schüddekopf in einem jetzt im Piper-Verlag erschienen Buch interessiert: "Im Kessel. Erzählen von Stalingrad" - so heißt der Band, der ehemalige deutsche Teilnehmer an dem Gemetzel zu Wort kommen lässt.

Ralph Giordano |
    Carl Schüddekopf hat mit dem Buch "IM KESSEL ERZÄHLEN VON STALINGRAD" einen Ausschnitt erschütternder Wirklichkeit aus dem Gesamtkomplex Zweiter Weltkrieg dokumentiert, eine Fleiß- und Sisyphusarbeit sondergleichen. Aber es muss einiges dazu gesagt werden. Was sich da auftut, ist ein Planet kollektiven Leidens von Deutschen - von Deutschen allerdings, die ihrerseits ein Universum an Leid über andere, Überfallene und Besetzte, gebracht haben. Wird diese elementare, diese Grundwahrheit aus den acht Fallbeispielen, die der Autor aus den wenigen Überlebenden als Zeitzeugen herausgefunden hat, auch ersichtlich? Das ist eine Frage, die sich fortwährend auf den fast 400 Seiten stellt. Dazu kommt ein ebenfalls bleibender (und assoziativ beklemmender) Eindruck, nämlich der eines geradezu phänomenalen, bis in die letzten Kapillaren zurückreichenden Erinnerungsvermögens, das ohne weiteres als minutiös, ja sekundös bezeichnet werden kann:

    Der nächste Einschlag kam in dem Moment, als wir abgedreht hatten, es war ja Sommer und ich konnte die Staubwolke neben uns gut sehen...

    Das Geschilderte liegt an die sechzig Jahre zurück.... Und warum ist solche Gedächtnisfähigkeit "assoziativ beklemmend"? Weil sie in striktem Gegensatz steht zu der fast monolithischen Erinnerungslosigkeit der gleichen Generation, sobald es um kriminelle Geschehnisse jenseits von Kriegshandlungen geht. Ihre Verdrängung ist bekanntlich jahrzehntelang das Charakteristikum der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft gewesen und hat die politische Kultur der Republik noch bis hinein in unsere Tage der Wiedervereinigung wesentlich mitbestimmt. Nach dieser Demonstration eines überwältigenden Rekapitulationsvermögens glaube ich jedenfalls keinem ehemaligen Landser mehr, er habe "von nichts gewusst". Irgendwo und irgendwann ist jedem von ihnen an der Ostfront die Spur des Serien-, Massen- und Völkermords begegnet. Hier setzte eine innere Blockade ein, die sich auch in dem Buch widerspiegelt.

    Eine weitere rasche Erkenntnis, die sich durchgehend bestätigt: Dass der Krieg, dieser von Hitlerdeutschland ausgelöste Krieg der Waffen sein Hauptverbrechen war (das Auschwitz und alles, was der Namen symbolisierte und materialisierte überhaupt erst ermöglichte), und das jeweilige Fallbeispiel sein Molekül, das scheint in diesen Erinnerungen nur selten auf. So wenig, wie der Gedanke, dass die Wehrmacht der große Unglückbringer war, der mit Bomben, Granaten und Kugeln weit mehr Menschen, Soldaten und Zivilisten, getötet hat, als durch den Vernichtungsapparat des Reichssicherheitshauptamtes umgekommen sind.

    Übrigens war der siegreiche Vormarsch der 6. Armee 1941/42 gepflastert von ihrer direkten und indirekten Teilnahme am Holocaust und anderen Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen. Dann die große Frage über allem:

    Was wollten sie da, an der Wolga, Tausende von Kilometern fern der Heimat, nahe der Grenze zu Asien? Wer hatte sie geholt, was hatten sie da zu suchen?

    Sie wird, auch so lange danach noch, eher peripher gestellt und ungenügend beantwortet. Einige der Befragten geben ganz offen zu, wenn auch verniedlichend verbalisiert, dass "Verhärtungen" eintraten - "auf beiden Seiten". Das jedoch weitgehend ohne Bewusstsein dafür, dass die Motivationen bei den Okkupierten nicht die gleichen sein konnten wie bei den Okkupanten. Dazu passt im Umkehrschluss die sattsam bekannte Legende vom "guten Einvernehmen" zwischen Besatzern und Einheimischen, gerade als handele es sich um Nachbarschaft und ohne sich die Frage zu stellen, wie viel davon bei den "guten Russen" wohl taktisches Verhalten gewesen sein mochte. Ungewiss auch immer wieder, was in den Berichten an posthumen Erkenntnissen über den Charakter des NS-Systems antizipiert wird, also später gewonnene Ansichten mit den damaligen verschmelzen. Schließlich das, was sich dem Leser durch die Schilderungen wie von selbst suggeriert - die Opferfrage.

    Ganz zweifellos: Im Sinne von Kanonenfutter waren gerade sie, die damals jungen und ganz jungen "Stalingrader", Opfer. Aber eben doch solche, die ihrerseits als Aggressoren Opfer forderten. Ich mag die Opfer, die im Kampf für Hitler und seine Sache erbracht wurden, auch in diesem Fall nicht auf die gleiche Stufe stellen mit denen, die im Kampfe gegen die deutschen Okkupanten fielen oder ermordet wurden. Es gibt schon genug absichtsvolle Nivellierungen, samt Umkehrung und Austausch von Ursache und Wirkung.

    Aber niemand, der sich ein mitfühlendes Herz bewahrt hat, kann den Befragten, damals sämtlich Jugendliche, Anteilnahme an ihrem Schicksal verweigern. Zu drastisch wird die Hölle an der Wolga beschrieben, zu authentisch klingt der persönliche Report.

    Und natürlich haben sich die Befragten aus ihrer damaligen Sicht der Dinge inzwischen gelöst. Doch gerade ihre unvermeidliche Heraufbeschwörung bestätigt nur noch einmal, wie fest Hitlers Ungeist nicht nur die Jungen und ganz Jungen, sondern die Mehrheit der Nation in seinem Griff hatte. Manche Stelle im Text lässt aber auch erkennen, wie sehr damals geprägte Denkweisen und Geschichtsinterpretationen, wenngleich oft unbewusst, über ein ganzes Leben hin erhalten blieben - Hitler also, unheimlich genug, der sozusagen unsichtbare Begleiter.

    Carl Schüddekopf, ich wiederhole es, hat von einer klaren demokratischen und human bestimmten Position aus einen erschütternden Bericht zusammengestellt über die Katastrophe von Stalingrad, und einige von den Wenigen, die sie überstanden hatten und heute noch leben, befragt. Bleibt abzuwarten, was an Reaktionen auf die Lektüre die Oberhand behalten wird - die These von Deutschland, dem eigentlichen Opfer der Geschichte, oder die Erkenntnis, dass sich gerade dahinter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die größte Täterschaft in der Geschichte der Menschheit aufgebaut hat.

    Eingedenk deutscher Weltmeisterschaft in Selbstbeweinung, befürchtet der Pessimist in mir die erste Möglichkeit, während der Optimist hofft auf die Reaktionen einer in demokratischer Sozialisation aufgewachsenen Generation, die sich bei den Befragten für ihre Auskunftsbereitschaft bedankt - mit einem "Nie wieder!"

    Ralph Giordano besprach: Carl Schüddekopf: "Im Kessel. Erzählen von Stalingrad." Erschienen ist der Band im Piper Verlag München. 393 Seiten - 22 Euro 90.