In der Osteuropa-Forschung, die einen eigenen Zweig der Wissenschaft besetzt, gilt als unumstritten, dass die Ostslaven erst nach der Völkerwanderung, also nach dem 6. Jahrhundert unserer Zeit, von Südwesten kommend, in ihre Siedlungsgebiete einsickerten. Aber vor drei Jahrzehnten noch schrieb Günther Stöckl in seinem Standardwerk über die Geschichte Russlands, das diese frühen Ostslaven in ihrer sozialen und politischen Organisation für uns merkwürdig unprofiliert blieben.
Der Historiker Carsten Goehrke baut seine Geschichte des Russischen Alltags chronologisch auf, wird sie also mit der Gegenwart einmal abschließen. Den zunächst vorgelegten ersten Teil beginnt er im 9. Jahrhundert, da, wo verwertbare Spuren auftauchen und es - neben einem einzigen arabischen Reisebericht - an schriftlichen Zeugnissen noch fehlt. Dem Autor liegt nicht daran, selbst neue Fundstücke in die Lücken zu setzen. Sein Ansatz ist vielmehr, das von den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen erarbeitete Material unter dem Gesichtspunkt "Alltag" zusammenzufassen und daraus Folgerungen zu ziehen. Einfach zu lesen ist das nicht, und Goehrkes Hoffnung "Leserinnen und Leser zu erreichen, die keine Fachhistoriker" sind, wird wohl Hoffnung bleiben.
Eine Gesamtschau des ostslawischen beziehungsweise russischen Alltags vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, selbst in drei Bänden zu fassen, ist unmöglich. Daher beschränke ich mich darauf, neun Zeitfenster in die Vergangenheit zu öffnen, die es erlauben, charakteristische Veränderungen des täglichen Lebens zu registrieren, die zwischenzeitlich geschehen sind.
Das erste dieser Zeitfenster öffnet sich dem 9. Jahrhundert. Die frühen Ostslaven folgten meist den Wasserläufen in den Wald-, Taiga- und Steppengürtel. Die Flüsse bieten Frischwasser, in der langen Frostperiode günstige Transportwege und sichere Uferstellen. Die winzigen Häuser suchen tief im Boden natürlichen Schutz, lichtdurchlässige Fenster sind so unbekannt wie Rauchabzug durchs Dach. Rodung schafft für Hirse- und Roggenanbau Land, ist der Boden ausgelaugt, wird neu gerodet. Rinder, Schweine und Schafe weiden im alles umgebenden Wald, ihm verdankt man das Wild und den Honig. Die Besiedlung des Landes ist dünn, stadtähnlich funktionieren allenfalls vereinzelte Handelsplätze, ansonsten trifft man auf ländliche, auch befestigte Siedlungen von bis zu hundert, selten aber mehr Menschen. Diese Welt ist vorchristlich, sie kennt eigene Götter und Naturgeister. Familie, Sippe und Stamm lenken das Interesse der sozialen Gemeinschaft. Drei Dinge bestimmten das bescheidene Leben der Ostslaven jener Zeit.
Die Routinearbeit vom frühen Morgen bis tief in den Abend; das Bewusstsein, sein Schicksal nicht aus eigener Kraft meistern zu können, sondern eingebunden zu sein in das Ganze der Natur wie der menschlichen Gemeinschaft, in der man lebte; schließlich die Vorfreude auf die seltenen Glanzlichter der gemeinschaftlichen Rituale und Feste.
Goehrke kommt zu dem Schluss, dass es zwar geringe Ansätze zur Arbeitsteilung gegeben habe, die Unterwerfung unter die persönliche Herrschaft eines einzelnen aus ihrer Mitte aber schwer vorstellbar sei. Vor allem die marxistisch orientierte sowjetische Wissenschaft war ja in minutiöser Forschungsarbeit jahrzehntelang bemüht, die frühe Herausbildung antagonistischer Klassen zu belegen.
Dafür gibt es auf Grund der schriftlichen Quellen und der bisher vorliegenden archäologischen Befunde keine eindeutigen Anhaltspunkte.
Die von Goehrke behandelten Jahrhunderte sind - dank reicher Quellen - von der Osteuropaforschung bereits umfassend dargestellt worden. Das erlaubt hier etwas zu summieren.
Die Kiever Fürsten nehmen das Christentum an, ein Staat beginnt sich zu organisieren, der Machtkampf rivalisierender Fürsten bereitet den zweieinhalb Jahrhunderten der Mongolenherrschaft den Boden. Moskau bringt dann das russische Land unter seine Herrschaft, auch hier Rivalität, Invasionen von außen, bis Ivan IV. einen Staat zusammenschmiedet, den er nach Sibirien erweitert. Schließlich wird das Jahrhundert vor Peter dem Grossen fast ausschließlich durch das Bestreben der Moskauer Großfürsten charakterisiert, die Alleinherrschaft zu festigen.
Carsten Goehrke zeigt an Hand dieses staatlich-politischen Geschichtsablaufs die jeweilige Abhängigkeit und die Verflechtung mit dem russischen Alltag. Weder bildet sich nämlich eine ritterlich-höfische Kultur noch entsteht ein städtisches Bürgertum als politisches Gegengewicht. Russland bleibt ein Bauernland, und der Bauer existiert aus der Sicht von oben allein, damit möglichst ein Maximum aus ihm herausgepresst werden kann. Der Bauernstand verliert im Verlaufe der Zeit immer mehr Freiheit. Die kaum veränderten Lebensumstände, widrige Klimaperioden, Hunger und Kriege, Krankheit und Alkohol lassen die Menschen durchschnittlich nicht viel mehr als dreißig Jahre alt werden. Russisches Schwitzbad, einfache ländliche Vergnügungen, Marktszenen, Hausbau, Gottesdienst, Verkehrswesen, Kleidung und die täglichen Gerichte: Goehrke nutzt zu ihrer Darstellung neben angefügten zeitgenössischen Quellen aus Russland und dem Ausland auch die neuesten archäologischen Funde sowie die günstige nachsowjetische Forschungslage. Er lädt zum Schluss dem russischen Volk eine schwere Hypothek auf.
Wenn ich alle indirekten Hinweise aus den mir bekannten Quellen zusammentrage, so muss man die psychische Befindlichkeit der Untertanenschaft des Zaren am ehesten mit den Begriffen Hilflosigkeit, Passivität, Schicksalsergebenheit, Gleichmut, Hass, Kriechertum beschreiben.
Ob sich diese Negativeigenschaften einlösen, wird Goehrke im Alltag der folgenden Jahrhunderte belegen müssen - hier klingt es jedenfalls sehr behauptet und mit Verlaub fast gefährlich einseitig.
Klaus Kuntze über den ersten Band von Carsten Goehrkes Trilogie über das Alltagsleben in Russland. "Russischer Alltag - Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart" ist das Gesamtprojekt des Züricher Chronos Verlag überschrieben. Band 1 trägt den Untertitel "Die Vormoderne", umfasst 472 Seiten und kostet Euro 39.60. Die ausstehenden Bände sind für den Oktober dieses Jahres bzw. für März 2004 angekündigt.
Der Historiker Carsten Goehrke baut seine Geschichte des Russischen Alltags chronologisch auf, wird sie also mit der Gegenwart einmal abschließen. Den zunächst vorgelegten ersten Teil beginnt er im 9. Jahrhundert, da, wo verwertbare Spuren auftauchen und es - neben einem einzigen arabischen Reisebericht - an schriftlichen Zeugnissen noch fehlt. Dem Autor liegt nicht daran, selbst neue Fundstücke in die Lücken zu setzen. Sein Ansatz ist vielmehr, das von den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen erarbeitete Material unter dem Gesichtspunkt "Alltag" zusammenzufassen und daraus Folgerungen zu ziehen. Einfach zu lesen ist das nicht, und Goehrkes Hoffnung "Leserinnen und Leser zu erreichen, die keine Fachhistoriker" sind, wird wohl Hoffnung bleiben.
Eine Gesamtschau des ostslawischen beziehungsweise russischen Alltags vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, selbst in drei Bänden zu fassen, ist unmöglich. Daher beschränke ich mich darauf, neun Zeitfenster in die Vergangenheit zu öffnen, die es erlauben, charakteristische Veränderungen des täglichen Lebens zu registrieren, die zwischenzeitlich geschehen sind.
Das erste dieser Zeitfenster öffnet sich dem 9. Jahrhundert. Die frühen Ostslaven folgten meist den Wasserläufen in den Wald-, Taiga- und Steppengürtel. Die Flüsse bieten Frischwasser, in der langen Frostperiode günstige Transportwege und sichere Uferstellen. Die winzigen Häuser suchen tief im Boden natürlichen Schutz, lichtdurchlässige Fenster sind so unbekannt wie Rauchabzug durchs Dach. Rodung schafft für Hirse- und Roggenanbau Land, ist der Boden ausgelaugt, wird neu gerodet. Rinder, Schweine und Schafe weiden im alles umgebenden Wald, ihm verdankt man das Wild und den Honig. Die Besiedlung des Landes ist dünn, stadtähnlich funktionieren allenfalls vereinzelte Handelsplätze, ansonsten trifft man auf ländliche, auch befestigte Siedlungen von bis zu hundert, selten aber mehr Menschen. Diese Welt ist vorchristlich, sie kennt eigene Götter und Naturgeister. Familie, Sippe und Stamm lenken das Interesse der sozialen Gemeinschaft. Drei Dinge bestimmten das bescheidene Leben der Ostslaven jener Zeit.
Die Routinearbeit vom frühen Morgen bis tief in den Abend; das Bewusstsein, sein Schicksal nicht aus eigener Kraft meistern zu können, sondern eingebunden zu sein in das Ganze der Natur wie der menschlichen Gemeinschaft, in der man lebte; schließlich die Vorfreude auf die seltenen Glanzlichter der gemeinschaftlichen Rituale und Feste.
Goehrke kommt zu dem Schluss, dass es zwar geringe Ansätze zur Arbeitsteilung gegeben habe, die Unterwerfung unter die persönliche Herrschaft eines einzelnen aus ihrer Mitte aber schwer vorstellbar sei. Vor allem die marxistisch orientierte sowjetische Wissenschaft war ja in minutiöser Forschungsarbeit jahrzehntelang bemüht, die frühe Herausbildung antagonistischer Klassen zu belegen.
Dafür gibt es auf Grund der schriftlichen Quellen und der bisher vorliegenden archäologischen Befunde keine eindeutigen Anhaltspunkte.
Die von Goehrke behandelten Jahrhunderte sind - dank reicher Quellen - von der Osteuropaforschung bereits umfassend dargestellt worden. Das erlaubt hier etwas zu summieren.
Die Kiever Fürsten nehmen das Christentum an, ein Staat beginnt sich zu organisieren, der Machtkampf rivalisierender Fürsten bereitet den zweieinhalb Jahrhunderten der Mongolenherrschaft den Boden. Moskau bringt dann das russische Land unter seine Herrschaft, auch hier Rivalität, Invasionen von außen, bis Ivan IV. einen Staat zusammenschmiedet, den er nach Sibirien erweitert. Schließlich wird das Jahrhundert vor Peter dem Grossen fast ausschließlich durch das Bestreben der Moskauer Großfürsten charakterisiert, die Alleinherrschaft zu festigen.
Carsten Goehrke zeigt an Hand dieses staatlich-politischen Geschichtsablaufs die jeweilige Abhängigkeit und die Verflechtung mit dem russischen Alltag. Weder bildet sich nämlich eine ritterlich-höfische Kultur noch entsteht ein städtisches Bürgertum als politisches Gegengewicht. Russland bleibt ein Bauernland, und der Bauer existiert aus der Sicht von oben allein, damit möglichst ein Maximum aus ihm herausgepresst werden kann. Der Bauernstand verliert im Verlaufe der Zeit immer mehr Freiheit. Die kaum veränderten Lebensumstände, widrige Klimaperioden, Hunger und Kriege, Krankheit und Alkohol lassen die Menschen durchschnittlich nicht viel mehr als dreißig Jahre alt werden. Russisches Schwitzbad, einfache ländliche Vergnügungen, Marktszenen, Hausbau, Gottesdienst, Verkehrswesen, Kleidung und die täglichen Gerichte: Goehrke nutzt zu ihrer Darstellung neben angefügten zeitgenössischen Quellen aus Russland und dem Ausland auch die neuesten archäologischen Funde sowie die günstige nachsowjetische Forschungslage. Er lädt zum Schluss dem russischen Volk eine schwere Hypothek auf.
Wenn ich alle indirekten Hinweise aus den mir bekannten Quellen zusammentrage, so muss man die psychische Befindlichkeit der Untertanenschaft des Zaren am ehesten mit den Begriffen Hilflosigkeit, Passivität, Schicksalsergebenheit, Gleichmut, Hass, Kriechertum beschreiben.
Ob sich diese Negativeigenschaften einlösen, wird Goehrke im Alltag der folgenden Jahrhunderte belegen müssen - hier klingt es jedenfalls sehr behauptet und mit Verlaub fast gefährlich einseitig.
Klaus Kuntze über den ersten Band von Carsten Goehrkes Trilogie über das Alltagsleben in Russland. "Russischer Alltag - Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart" ist das Gesamtprojekt des Züricher Chronos Verlag überschrieben. Band 1 trägt den Untertitel "Die Vormoderne", umfasst 472 Seiten und kostet Euro 39.60. Die ausstehenden Bände sind für den Oktober dieses Jahres bzw. für März 2004 angekündigt.