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Casablanca
Stadt der weißen Häuser

Casablanca ist mit über drei Millionen Einwohnern die größte Stadt Marokkos. Hier leben Araber, Berber, europäische Emigranten und Juden friedlich nebeneinander und Künstler, Modemacher sowie Kreative werden von der Stadt an der Atlantikküste magisch angezogen. Um das Zentrum mit repräsentativen Gebäuden entstehen allerdings am Stadtrand auch Slums.

Von Barbara Weber | 07.12.2014
    Blick über Casablanca
    Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wächst Casablanca rapide. (dpa - picture alliance / WOSTOK PRESS/MAXPPP)
    "Casablanca. Avenue FAR. Cinema Rif. Erbaut 1957. Architekt: Dottore Dominico Basciano, Preisträger des Prix du Rome." (Filmausschnitt)
    Der Film, der heute gezeigt wird, ist ein Film über die Bewohner der Stadt, über einfache Leute aus den trostlosen Vororten, über Intellektuelle, Autoren und Künstler. Es ist ein Film über Casablanca, eine weltoffene, multikulturelle Stadt, sagen seine Bewohner stolz.
    Das Jugendstil-Kino Rif gehört Hassan Belkady. Der stolze Besitzer hat zehn Jahre in Washington gelebt, und als er zurückkam, das Kino gekauft.
    "Vor vier Jahren habe ich das Kino gekauft und aufwändig renoviert. Eigentlich bin ich Zahnarzt. Aber dann habe ich meine Leidenschaft für die alten Kinos entdeckt. Ich habe noch zwei Art Déco Kinos."
    Wie überall auf der Welt sind Multiplex-Kinos auch in Casablanca auf dem Vormarsch und verdrängen die schönen alten Jugendstil- und Bauhaus-Spielstätten. Selma Zerhouni, Gründerin und Direktorin der Zeitschrift Architecture du Maroc:
    "Historisch gesehen sind die ersten Kinos in Casablanca seit 1912 im Zentrum der Stadt gegründet worden. Sie übernahmen eine wichtige Rolle wie auch der Hafen oder die Cafés, weil sich dort die Menschen getroffen und kommuniziert haben. Ausgegangen ist diese Entwicklung 1912 vom französischen Protektorat."
    Casablanca ist mit seinen über drei Millionen Einwohnern die größte Stadt Marokkos. Araber, Berber, europäische Emigranten und Juden leben hier friedlich nebeneinander. Aber es gibt auch große Armut. Die Kluft ist groß zwischen Arm und Reich. Um das Stadtzentrum mit seinen repräsentativen Jugendstil- und Bauhaus-Gebäuden wuchern am Stadtrand die Slums.
    Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wächst Casablanca rapide, ein Grund für die zahlreichen Neubauten. Casablanca ist eine moderne Stadt, eine schöne Stadt, wie die Bewohner meinen, die stolz auf die Metropole sind.
    Karim Rouissi, Architekt und Vizepräsident von Casamemoire, einer Organisation, die sich der Pflege der modernen Architektur der Stadt widmet:
    "Der Charme von Casablanca liegt in der Architektur der klaren, weißen Häuser und dem einmaligen, hellen Licht, das die Struktur der Gebäude formt und den Reichtum der Fassaden zeigt."
    Dabei gilt es, mit einem Irrtum aufzuräumen, betont der Architekt:
    "Es gibt die Tendenz, Casablanca als eine Stadt des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen, dabei ist es eine Stadt mit einer alten Geschichte, eine Stadt, die immer wieder zerstört und wieder aufgebaut wurde, zum Beispiel durch die Portugiesen, die es zerstörten, weil hier Piraten lebten. Die Einwohner von Casablanca haben etwas rebellisches, was in der Geschichte dazu führte, dass sie mit der marokkanischen Obrigkeit, den Dynastien, aneinandergerieten. Auch das führte zur Zerstörung der Stadt. Letztendlich ist es eine Geschichte von Zerstörung und Wiederaufbau. Eigentlich war Casablanca immer eine Stadt des Widerstandes."
    Händler aus unterschiedlichsten Ländern
    Die mit Beginn der zunehmenden Dampfschifffahrt Ende des 18. Jahrhunderts eine große Blüte als Handelszentrum erlebte. Im 19. Jahrhundert zogen aus unterschiedlichsten Ländern Menschen hierher. Briten, Franzosen, Italiener, Portugiesen und Deutsche ließen sich hier nieder, was das soziale und wirtschaftliche Leben der Stadt stark veränderte. Schon damals war Casablanca mit anderen marokkanischen Städten nicht zu vergleichen.
    "Die Region um Casablanca wurde geprägt von verschiedensten Kulturen, denn hier haben sich Händler aus unterschiedlichsten Ländern niedergelassen. Casablanca war Handelszentrum für Wolle und für Lebensmittel wie Weizen. Nicht nur internationale Händler bestimmten die Märkte, auch Marokkaner aus Marrakesch, Fèz und Juden aus Essaouira kamen nach Casablanca."
    Um die Zuströme zu bewältigen und zu verhindern, dass die neuen Einwohner in Hütten kampierten, entstand 1917 das Quartier des Habous, entworfen von dem Architekten Henri Prost. Im Stil traditioneller mauretanischer Architektur bot sie den Neuankömmlingen Platz in einem kleinteilig gegliederten Viertel, das mit seinen Rundbögen aus Naturstein, reichhaltigen Verzierungen und schmucken Arkaden eher an Geschichten aus 1001 Nacht erinnert als an moderne Architektur.
    Hier befindet sich auch die neue Medina mit ihren bunten Ständen und Geschäften, kleinen Cafés und Marktplätzen, auf denen Teppiche, Kleinmöbel, Gewürze, Schmuck und all das angeboten wird, was die Bewohner zum täglichen Leben benötigen und Touristen so lieben. Der neue Markt sollte die alte Medina an der Hafenbucht entlasten.
    Schmelztigel und Experimentierfreude
    "Schon am Ende des 19. Jahrhunderts war deutlich, dass Casablanca nicht den anderen Städten Marokkos gleicht, sondern offener ist. Man kann von Casablanca als einen Melting Pot sprechen, mit einer Moschee, einer Kirche, einer jüdischen Synagoge. Die Offenheit Ende des 19. Jahrhunderts hatte zur Folge, dass Anfang des 20. Jahrhunderts, die urbanistischen Visionen, die man in Frankreich und anderswo hatte, hier umgesetzt wurden. Hier fand man die Experimentierfreude, um sowohl in der Städteplanung als auch in der Architektur Neues zu entwerfen und zu bauen. Das war damals absolut avantgardistisch."
    Und seine Kollegin Selma Zerhouni ergänzt:
    "Dadurch, dass Marokko geografisch gesehen zwischen Mittelmeer und Atlantik liegt, war es offen für Inspirationen aus allen europäischer Kulturen, was gemeinsam mit der marokkanischen den Geist geöffnet hat. Zum Beispiel kann man die Einflüsse der portugiesischen Kultur heute noch im Quartier Mâarif sehen. Italienische und französische Impulse finden Sie überall in der Stadt, im Norden den Einfluss der Deutschen. Alle diese Kulturen haben den Geist geöffnet. Das gilt für die Mentalität der Bewohner wie auch der Architektur. Casablanca ist eine Stadt mit internationalen Wurzeln, die ihr Herz in Europa und Afrika hat."
    Vermutlich ist das auch der Grund, warum die Zeit des französischen Protektorats zwischen 1912 und 1956 von vielen Bewohnern nicht als Besatzungszeit empfunden wird.
    "Man spürt hier förmlich die außerordentliche Energie, die diese Stadt ausstrahlt. Jeder, der etwas bewegen möchte, geht nach Casa. Viele Menschen sind gar nicht in Casablanca geboren, aber sie kommen hierher, weil die Stadt positive Energie versprüht."
    Die alten Schlachthöfe
    Künstler, Modemacher und Kreative zieht die Stadt magisch an. Sie treffen sich zum Beispiel an Orten, wie "den Abbatoirs", das sind die alten, nicht mehr genutzten Schlachthöfe in Casablanca, "die 1922 am Stadtrand erbaut wurden in dem Stadtviertel Hay Mohammadi".
    Ein Wohn- und Industriegebiet, in dem überwiegend arme Bevölkerungsgruppen wohnen, erklärt die Berliner Künstlerin Lisa Schmitz.
    "Auch kulturell sehr dicht und heterogen. Hier sind viele Kulturschaffende aus diesem Stadtviertel hervorgegangen. Es geht hier manchmal sehr ruppig zu aber immer sehr lebendig und voller Überraschungen. Hier befindet sich La Fabrique culturelle, die Kulturfabrik, hier ist ein wunderbarer Ort, um kulturell zu arbeiten, denn dieser Ort hat 20.000 Quadratmeter zur Verfügung."
    Auch Lisa Schmitz hat hier gearbeitet und auf Einladung des Goethe-Institut Marokko mit 26 marokkanischen, deutschen und russischen Studenten einen Workshop veranstaltet und ein Kunst- und Ausstellungsprojekt in einer der großen Hallen realisiert. Das Thema "Körper und Raum" betraf die Auseinandersetzung mit dem französischen Protektorat, mit der Architektur der Abattoirs, ihrer kulturhistorischen und aktuellen Bedeutung im Stadtteil Hay Mohammadi.
    Der wurde von einigen marokkanischen Studenten zum ersten Mal wahrgenommen, denn die Kluft zwischen einer reichen Oberschicht und der verarmten Mehrheit resultiert auch aus der mangelnden Kommunikation miteinander.
    "Das Gelände verfügt über mehrere Gebäude und war so angelegt, dass Straßen, Plätze und sogar Gartenanlagen realisiert worden waren und einige Gebäude, in denen man wohnen konnte."
    Einen fantastischen Überblick über den Ort bietet das Dach des Hauses der Häute, vormals der Ort, an dem die Tiere gehäutet und die Häute anschließend getrocknet wurden.
    "Da ist Casa Voyageur, einer der wichtigsten Bahnhöfe der Stadt, Wohngebiet, die Bahn unterteilt es, und wir sehen hier Industriegebiet aber schon angrenzend auch Wohngebiet, das ist Hay Mohammadi."
    Der Blick schweift über das Zentrum von Casablanca zum Hafen, über den Bahnhof und Wohngebiete, über den Markt, der keine 20 Meter von den alten Schlachthöfen entfernt ist. Hier boten die Bauern ihre Kühe, Schafe, Pferde und manchmal Dromedare an.
    "Erstaunlicherweise Schweine auch, denn in den Abattoirs, den alten Schlachthöfen, wurde ebenfalls nicht nur nach islamischen, sondern auch nach christlichen und jüdischen Riten geschlachtet. Wir sehen links außen das Gebäude, in dem die Pferde und Dromedare untergebracht waren, vorgelagert die offenen Halterungen für Kühe und Schafe, die dann über die Eingangsstraße geführt wurden in die Schlachträume, die wir direkt vor uns sehen, und um die Tiere über Nacht bei der Hitze frisch zu halten, hat man sie in diesem großen Gebäude, was wir hier sehen, was zur Hälfte zusammengefallen ist, ein sehr imposantes großes Gebäude, das können wir bezeichnen als einen riesigen Eisschrank."
    Werkstätten, Wohnungen für Arbeiter, eine Administration in einer großen alten Villa untergebracht, daneben das Haus des Direktors. Dort befindet sich auch der Gebetsraum, der heute noch genutzt wird.
    "Wir befinden uns hier in dem Teil der Schlachthöfe, wo die Schlachtungen stattgefunden haben."
    Über ein ausgeklügeltes Beförderungssystem gelangten die Tiere in einen großen Tunnel, in dem sie auf Lastwagen geladen werden konnten, und der etwa 2.000 Quadratmeter groß ist. Hier hat auch die erste Kunstbiennale in Casablanca stattgefunden.
    "Das ist das überraschende und beeindruckende, dass dieses Haus einen imposanten Eindruck hinterlässt, und wie ich hörte, waren die Menschen sehr traurig, als das Haus geschlossen wurde, denn mit dieser Geschichte verbindet sich für viele die Arbeit im Viertel über Generationen hinweg. Gerade kommt Breja an, dessen Vater hier über zwanzig Jahre ..."
    Breja erzählt, dass er gerade in der Moschee war und gebetet hat.
    "Für meinen Vater war das hier eine wunderbare Arbeit, er hat sie sehr geliebt. Er ist morgens früh um vier Uhr aufgestanden und hat um fünf Uhr mit der Arbeit begonnen. Er hat geputzt und die Kanalisation von dem Blut gereinigt. Bis um elf war er hier. Dann kam er nach Hause und hat immer ein Stück Fleisch mitgebracht oder Innereien, und dann wurde gegessen. Danach hat er eine Siesta genommen und hatte nachmittags frei, denn seine Arbeit war hauptsächlich zwischen fünf Uhr morgens und elf. Es war eine schöne Zeit damals."
    Abseits der Touristenpfade
    Es ist das andere Gesicht Marokkos, das Casablanca zeigt. Es ist authentischer und nicht ein für Touristen herausgeputzter Ort. Es gibt so viel zu sehen, zum Beispiel die große Moschee Hassan II. Nach dem Heiligtum in Mekka soll sie die zweitgrößte Moschee der Welt sein. Oder die arabische Altstadt, am Hafen gelegen, mit der Alten Medina.
    Unweit der Altstadt liegt der vielleicht künstlichste Ort, den Casablanca zu bieten hat: In einer alten Villa ließ die Amerikanerin Kathy Kriger Rick's Café nachbauen. Nach der Idee einer amerikanischen Diplomatin, entworfen von einem amerikanischen Architekten, finanziert von einer marokkanisch-amerikanischen Investorengruppe.
    Die Einrichtung ist dem Filmvorbild getreu im Stil der 1930er-Jahre gebaut: Holzschnitzereien, Messing und Pflanzen. Im ersten Stock im Rauchersalon mit seinen schweren Ledersesseln läuft in einer Endlosschleife der Film, der den Mythos der Stadt kreierte.
    Kathy Kriger hat 1974 zur Eröffnung dem anwesenden CNN-Korrespondenten gesagt: "Wenn eine amerikanische Frau so etwas hier realisieren kann, sagt das schon eine Menge darüber aus, wie tolerant die Menschen hier sind."