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"Castor et Pollux"

Die barocke Oper als Liebesfest. Nicht mit Liebestod, sondern Sieg der Liebe über den Tod. Ein Gleichnis auf den guten Herrscher und die Macht der Liebe unter den Menschen.

Von Frieder Reininghaus |
    Zur Ouvertüre, die auch 1754 bereits Züge "gelehrter" Musik und eines feinen Snobismus zeigte, präsentierte die Ausstatterin Julia Hansen einen großen Treppenaufgang in dunklem Holz mit Ahnen-Galerie. Vor den nachgedunkelten Ölgemälden tummeln sich auf dem blankgewienerten Parkett Castor und Pollux als Kinder. Sie raufen in brüderlicher Verbundenheit. Indem der Gesang einsetzt, entspinnt sich zu Hochzeitsvorbereitungen der Choristinnen – Achtung: Zeitsprung! – eine Hofintrige. Wohl ging es damals am Hof von Versailles so zu wie jetzt im Wiener Treppenhaus und die Zeitgenossen hatten etwas zum Schmunzeln. Heute wirkt die Intrige, die Anne Sofie von Otter mit ihrem pointiert eingesetzten Mezzosopran anzettelt, als hätte sie Fernsehserien wie "Dallas" oder "Hanna folge deinem Herzen" versäumt.

    Mariame Clément, die an der Flämischen Oper zuletzt Francesco Cavallis "Giasone" quicklebendig und mit Anspielungen auf heutige belgische Dekadenz inszenierte, hat im Theater an der Wien "Castor und Pollux" fast gänzlich ruhiggestellt. Sie rückte die Handlung der griechischen Götter und Heroen in das Ambiente eines in der Erbschaft besserer früherer Zeiten überlebten Großbürgertums. Die großen Musikstrecken, die nach den Intentionen der Urheber dem Ballett dienten, wurden mit pantomimisch bestrittenen Rückblenden auf die Kindheit und Jugend des Musterbrüderpaars überbrückt.

    Das trug stark zur Entzauberung des Werks bei, von dem einst auf die musikalischen Parteigänger des französischen Hofes eine gewisse Faszination ausgegangen sein muss (die Aufklärer hielten es damals mit der frisch-frechen italienischen Buffo-Oper). Man mag in Cléments Übertragung eine gewisse Parallelität zu Ingmar Bergmans Familiendarstellungen erkennen. Ebenso gut aber auch eine Annäherung an die allgegenwärtige unverbindlich-ahistorische Opernverwertungsroutine der Herren Loy, Guth et cetera.

    Nach der Halbzeitpause kommt in die Wiener Treppenhaus-Monotonie etwas Leben durch ein von oben herab schwebendes Sterbezimmer und ein Totenwasch-Ritual, mit dem die Regisseurin der Verlegenheit begegnet, den Hades zeigen zu müssen. Aber, so fragt sich nach drei zäh in die Länge gehenden Theaterstunden der historisch informierte Hörer und Zuseher: Warum nur wurde diese handwerklich gewiss gediegene, aber von höherer kompositorischer Inspiration gänzlich freie Repräsentationskunst dergestalt kostenintensiv aus dem Archivschlaf erweckt?

    Unschwer ist eine Parallelität zwischen der Glück spendenden Opernfigur Jupiter und dem zum Entstehungszeitpunkt des Werks regierenden Monarchen zu erkennen – ja, das Werk ist förmlich auf diesen Huldspruch hin angelegt. Ludwig XV. aber war einer der größten Nieten aller Zeiten und hätte verdient, dass ihn eine Revolution wegfegte (wie es seinem gutmütigen Nachfolger dann ja tatsächlich widerfuhr).

    Doch die Aufklärer, die gerade erst mit der legendären "Encylopédie" begannen, hatten den Boden noch nicht bereitet. Der illustre 15. Louis, der politische Gegner gelegentlich öffentlich vierteilen und verbrennen ließ, schaffte es immerhin damals gerade, durch den Siebenjährigen Krieg nicht nur alle indischen Besitzungen Frankreichs, sondern auch das gesamte Nordamerika von Louisiana bis Quebec an die Engländer zu verspielen.

    Rameaus späte Werke hatten kaum eine andere Funktion, als von den politisch-militärischen Desastern des Absolutisten, dessen Günstling er war, abzulenken. Im Sinne von Geschichtskontinuität ist die Übertragung von Mariame Clément auf ein mit psychischer Befindlichkeit befasstes Besitzbürgertum wahrscheinlich folgerichtig. Das Theater war im Fall von "Castor et Pollux" in verblüffend offener Form Appendix einer terroristisch aufrecht erhaltenen Herrschaft. Wer in so zugespitzten historischen Momenten wie denen der Pariser Opernquerelen des 18. Jahrhunderts auf der Seite des Machterhalts steht, den kann die Nachwelt so grausam bestrafen, wie sie es im Falle Rameaus tat. Die heutigen Theatermacherinnen sollten dies Schicksal im Auge behalten.