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Castorf für Kinder?

Nach seinem mehrjährigen Ausflug in die russische Literatur und insbesondere zu Fedor Dostoevskij ist Frank Castorf in gewohnte theatralische Gefilde zurückgekehrt. Es sind nicht mehr Spiele zwischen Innen- und Außenraum, Wirklichkeit und virtueller Widerspiegelung, Theater und Video, mit denen der Regisseur dieses Märchen erzählt. Wir schauen auf einen privat genutzten Durchgangsraum mit scheußlicher Imitat-Kassettendecke und deprimierender Holzpaneele hinter zerwühlter Schlafcouch und durchgesessenem Ostalgie-Sessel. Links führt eine Treppe zur Tür nach draußen und immer wenn die sich öffnet, dann dröhnt eine Maschine los und wirbelt Theaterschnee in den Saal. Echt an diesem gemachten Theatermärchen, das immer auch quasi programmatisch vor Augen führen will, dass es etwas Artifizielles, Gemachten ist, sind drei Ziegenböcke und eine Krähe, die natürlichen Helfer bei Gerdas verzweifelter Suche nach dem geliebten Kay, der in Andersens berühmtem Märchen in die Fänge der Schneekönigin geraten ist, in ein kaltes Reich der Vernunft, kalter Küsse, vereister Herzen, die nur eine unbedingte Liebe und die Gerdas Suche überwinden kann.

Von Eberhard Spreng |
    Die Dauer und der zeitliche Aufbau des Castorf-Abends erinnert an gewohnte Rituale. Etwa 1 ¾ Stunden dauert die Beschäftigung mit dem Märchen, dann aber will der Theatermann nur noch vom Autor erzählen, dem er sich im Rahmen einer "temporären Symbiose" anverwandelt, wie es die Pressemitteilung bezeichnet. Und er nennt seinen Abend "Meine Schneekönigin", so als wäre sie eine Bastelarbeit, sein Werkstück. Deutlicher als an anderen Arbeiten hat Castorf mit Andersen gezeigt, dass er immer schon der Pygmalion des deutschen Theaters ist, ein Schöpfer schöner leibhaftiger aber immer etwas abweisenden Statuen, Frauenfiguren, die schillernd zwischen Pin-Up und Göttin changieren. Andersens Bekenntnisse der unerfüllten Sinnlichkeit interessieren Castorf, dessen Erotik des verlangenden Blicks. Die Grundmetapher und der narrative Impuls des Märchens ist ja gerade ein Spiegel des Teufels. In ihm sehen die Menschen allerdings nur das Groteske und Böse und das Gute verschwindet, und einmal geborsten und als Splitter im Auge des Protagonisten Kay geraten, ist es um dessen Liebe zu Gerda geschehen, ist er dem kalten Trugbild verfallen. Eine Meditation über Sehen und Täuschen wird also der Castorf-Abend, der als Menage à troi beginnt: Birgit Minichayr spielt die gut-menschige Gerda als harmloses girl-next-door. Jeanette Spassova die Schneekönigin etwas unbeholfen in Stöckelschuh und Tütü, geradezu akrobatisch ist mitunter die Darstellung des kleinen Kay durch Alexander Scheer. Als älteres Pendant hat ihm Castorf Herbert Fritsch zur Seite gestellt, als Double, der – en passant der "Kragen" aus einem anderen Märchen des Hans Christian Andersen zu spielen hat, wenn ihm Volker Spengler mit spektakulär dampfendem Bügeleisen über den nackten Hintern fährt.

    In Castorfs Andersen-Pandämonium findet sich auch die spätere Entsprechung zur Schneekönigin, die von den Schweizreisen des Dichters inspirierte "Eisjungfrau". In der zeige sich, so die Dramaturgie der Volksbühne, die Skepsis des dänischen Dichters gegenüber dem Genre des Märchens, die der Frank Castorfs gegenüber dem Theater entspreche. Wohl wahr, denn spätestens jetzt, wie immer in der letzten Stunde, hat Castorf bewiesen, dass er der Anti-Pygmalion des deutschen Theaters ist, weil er dem selbstgeschaffenen Charme des Showbiz, mit seinen echten Tieren und falschen Stoff-Elchen, seinem tollen Nacktschneckenkostüm, seinen Spinnenmenschen, Primaballerina und Maschinen-Schneegestöber den Gar-Aus macht, die Wand-Panellen wegreißt, das Spielfeld zertrümmert. Und dann hat er, in einem wilden Spiel der gedanklichen Beziehungen mit sich als Theatermensch Schluss gemacht und tut so, als wäre er doch lieber Dichter geworden und nicht Bildermacher.