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Castorf gegen Wagner

Richard Wagners Bühnenfestspiel "Die Meistersinger von Nürnberg" wurde in der Nazizeit als nationalistisches Weihespiel missbraucht. In unseren Tagen hat das Regie-Theater dem Werk oft mit psychoanalytischer Klugheit oder politischem Witz zugesetzt. Wenn Frank Castorf mit seiner Volksbühnen-Truppe sich die "Meistersinger" vornimmt, dann kann das allerdings immer so oder so ausgehen. Die Ko-Produktion mit dem Grand Théâtre Luxemburg hatte gestern Abend dort Premiere.

Von Frieder Reininghaus |
    Es ist ein verranzter Olymp, den der Ausstatter Jonathan Meese für den erhaben konzipierten Anfang der "Meistersinger" bereitstellte (und vielleicht eine Anspielung auf die Walhalla bei Regensburg): Auf vier weiße Lappen, die vom Bühnenhimmel herunterhängen, wurden klassizistische Säulen gemalt und die Namen der Himmelsrichtungen, aber auch Null und jail. Zwischen diesen Objekten liegen Skelette und andere Menschen- oder Tier-Reste herum. Auf das majestätisch-behäbige Orchester-Vorspiel wird verzichtet – der Chor der werktätigen Volksbühne, der aus begeisterten Laien-Sängern und ein paar professionellen Stimmführerinnen besteht, schlurft herein und tritt (wie dann mehrfach noch mit dieser Nummer) in Aktion.
    Unvermittelt geht es hinein in die Geschichte vom Junker Walther von Stolzing, der um jeden Preis erringen will – sei es als Preis im Meistersinger-Wettbewerb, sei es mit List oder Gewalt; der Tenor Christoph Homberger, der mit Herbert Wernicke und Christoph Marthaler so wunderbar schräge, parodistische und tiefsinnige Dekonstruktionen klassischer Werke lieferte, tritt im Superman-Kostüm und Parodie seiner selbst an, um Eva zu umwerben, die sich – wie alle große Frauenfiguren Wagners – auf den ersten Blick in Stolzing verliebte. Sophie Rois gibt dieses Urbild aller deutschnationalen Frauen als heiseres, gereiztes und sich mit überschlagender Stimme zierendes Mimöschen.
    Frank Castorf und seine Truppe haben die "Meistersinger-Partitur in Episoden zerlegt, eingekürzt, für 2 Klaviere und ein hochvariables Bläserquintett umarrangiert – und mit Texten aus Ernst Tollers recht fatalem Drama "Masse Mensch" versetzt. Mit professionalisierten Dilettantismus, jener Mischung aus Inbrunst, ausgereiztem stimmlichen und darstellerischem Unvermögen, Chuzpe und Zynismus sorgt die Familie der Stimmungs-Werktätigen für einen raschen und mit grellen "Einfällen" gespickten Eil-Durchgang durch die Story, die immer wieder auf die Real-Geschichte hinter der Rezeptionsgeschichte anspielt und die Zuschauer vorsätzlich strapaziert (das ohnedies nur zu einem Drittel frequentierte Grand Théâtre leerte sich nach und nach noch weitergehend).

    Vor einem Kunstobjekt, das seine Inspiration vielleicht von der Geisterbahn des Jahrmarkts empfing und das vollgeschmiert ist mit Worten, die zur Assoziation einladen – Manitu, Falscher Hase, Babyinflation, Tanz den Popanz, Yeah de Pippi – Go home – vor dieser absichtsvoll wirren und verwirrenden Knallchargenkunst geht es zur Bekundung der Meistersinger-Regeln und zum Vor-Casting, zur Schusters-Intrige im nächtlichen Nürnberg, zu Beckmessers missglückendem Ständchen und der grandios dilettantischen "Prügelfuge" als szenischem Ruhepunkt.

    Das nennen wir Dialektik! Auch, dass ein unvermittelt hereingeführtes Trojanisches Kamel kotzt, wenn vom Fliederduft gesungen wird. Ein knatternder Jeep belebt das Geschäft ebenso wie seine mit automatischen Waffen versehenen Insassen oder das ebenfalls auf die Großväterzeit anspielende, aus Holz gezimmerte "Flugboot 121" mit Militär-Emblem. Schließlich kommt es zum Show-down zwischen Beckmesser und Stolzing, aus dem bekanntlich die vom Dichterkomponisten autobiographisch gestaltete Figur des Schusters und Poeten Hans Sachs als Sieger hervorgeht.

    Generös geht Frank Castorf mit der Lebenszeit seiner Kundschaft um, deren zahlender Anteil in traditionell-demokratischen Zonen sich in engen Grenzen hält. Nach knapp zwei Stunden hat er sein Pulver restlos verschossen. Dennoch streckt er die Sache mit immer neuen Reprisen und Schlüssen in die Länge, bis auch die Toller-Text-Surrogate zu Masse, Macht und Führer hinreichend gebrochen erscheinen und das Spiel mit dem Verstoß gegen political correctness so scharfsinnig ausbalanciert ist, dass der Vorwurf, hier würde auch ein wenig mit rechtsradikalen Denkmustern kokettiert, am Schwall der teils unverständlichen Worte und der ins Bild geschleuderten Begriffe abprallt.

    Castorf hat seine "Meistersinger"-Prüfung bestanden.