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CDU-Außenpolitiker Röttgen
"Wir müssen der Eroberung Afghanistans durch die Taliban etwas entgegensetzen"

Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen befürchtet einen Bürgerkrieg in Afghanistan und die Flucht von Millionen von Menschen, sollte der Westen dem aktuellen Vormarsch der Taliban tatenlos zusehen. Die USA hätten die Verpflichtung einzugreifen - und Deutschland müsse Hilfe anbieten, sagte Röttgen im Dlf.

Norbert Röttgen im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 10.08.2021
Aktuell, 19.05.2021, Berlin, Dr. Norbert Roettgen im Portrait bei seiner Rede Aktuelle Stunde zu den Raketenangriffen auf Israel und der Eskalation der Gewalt bei der 229. Sitzung des Deutschen Bundestag in Berlin
"Es geht nicht um einen neuen Bundeswehreinsatz", sagte Außenpolitiker Norbert Röttgen im Dlf. (picture alliance / Flashpic | Jens Krick)
Dass die radikal-islamischen Taliban in Afghanistan auf dem Vormarsch sind, bezeugen Medienberichte seit mehreren Wochen. Große Teile der ländlichen Gegenden sind schon länger unter der Kontrolle der Taliban. Auch die Provinzhauptstadt Kundus wurde inzwischen erobert – ausgerechnet die Stadt, in der die Bundeswehr eingesetzt war, um dort für Stabilität zu sorgen. Ein Schock für viele Afghanen, aber auch ein Schock für die Außenpolitiker in Deutschland. Aus diesem Anlass hat Norbert Röttgen (CDU), Auswärtiger Ausschuss, die Forderung aufgestellt, dem Vormarsch etwas entgegenzusetzen, auch mit Hilfe der Bundeswehr. Der Abzug der internationalen Truppen ist fest vereinbart und das amerikanische Pentagon teilte jetzt mit, dass es einen Abzug vom Abzug nicht geben werde.
Deutschland müsse über das Thema mit den USA sprechen und dabei auch eigene Fähigkeiten anbieten, sagte Röttgen im Deutschlandfunk. Dies könne beispielsweise Logistik oder eine andere Form der Hilfe sein. Schließlich fliege das US-Militär von Katar aus auch weiterhin Luftangriffe gegen die Taliban.
Ein afghanischer Soldat mit Waffe auf deinem Militärfahrzeug in Nangarhar in Afgahnistan am 23. Juli 2021.
Abzug aus Afghanistan
Die USA und ihre Verbündeten ziehen sich aus Afghanistan zurück, die Taliban sind auf dem Vormarsch und könnten die Macht in Kabul schon bald übernehmen. Was also ist für Afghaninnen und Afghanen das Ergebnis von 20 Jahren "Krieg gegen den Terror"?
Röttgen betonte, es gehe ihm nicht um eine Revision des Abzugs deutscher Soldaten aus Afghanistan oder einen neuen Bundeswehreinsatz. Dennoch sei die Feststellung des früheren Verteidigungsministers Peter Struck (SPD) weiterhin richtig, wonach "die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt" werde. Nichtstun indes werde Folgen haben wie etwa einen neuen Bürgerkrieg mit Millionen von Flüchtlingen, warnte der CDU-Politiker. Ziel des internationalen Drucks müsse sein, die Taliban zu einer politischen Lösung zu zwingen. Sonst gefährde man nach 20 Jahren Einsatz alles Erreichte und Afghanistan drohe wieder zu einem Nest für Terroristen zu werden.

Das Interview im Wortlaut:
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Röttgen, die Taliban rücken immer weiter vor. In den vergangenen Tagen fielen mehrere Provinzhauptstädte, darunter auch Kundus. Wenn der Vormarsch so weitergeht, wann fällt Kabul, und ist Afghanistan verloren?
Norbert Röttgen: Genau das sind die Fragen, die jetzt noch schneller Wirklichkeit werden können, als man befürchtet hatte – auch all diejenigen, zu denen ich zähle, die die voreilige, verfrühte, unnötige, ohne jede Konsultation mit den Alliierten erfolgte einseitige Entscheidung der USA bekanntgegeben wurde, sich zurückzuziehen aus Afghanistan in dieser Weise. Es geht noch viel schneller und das ist der jetzt auch strategische Moment für Afghanistan, nicht so sehr die ländlichen Gegenden dort. Dass dort die Taliban vorrücken, war nicht so überraschend. Aber wenn sie die Provinzhauptstädte eine nach der anderen erobern, dann auch die Hauptstadt erobern, dann ist Afghanistan wieder in den Händen der Taliban. Und dass das dann nicht wieder auch ein Nest und ein Ort der Vorbereitung und der Ausführung von Terrorakten von El-Kaida wird, das ist überhaupt alles andere als gesichert.
Afghanische Sicherheitskräfte gehen in der Provinz Nangarhar in der Nähe des Grenzübergangs Torkham an der Grenze zu Pakistan gegen Taliban-Kämpfer vor 
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Die afghanischen Sicherheitskräfte seien in der Breite viel zu schwach und zu schlecht ausgerüstet, um sich behaupten zu können, kommentiert Klaus Remme. Eine politische Lösung sei in weite Ferne gerückt.

"Selbstbeschädigung amerikanischer Glaubwürdigkeit"

Heckmann: Die amerikanische Administration argumentiert aber, das ist ein afghanisches Problem und darum hat sich die afghanische Regierung und das afghanische Militär zu kümmern.
Röttgen: Das ist ja wirklich absurd nach 20 Jahren des Einsatzes dort. Der übrigens ja begonnen hat, weil die USA zum ersten Mal in der Geschichte nach 9/11 den Bündnisfall der NATO aktiviert haben und die NATO-Alliierten wie Deutschland und andere sich auch als bündnistreu erwiesen haben. Wenn die jetzt nach 20 Jahren sagen, das ist alles eine afghanische Angelegenheit, dann ist das auch eine Selbstbeschädigung amerikanischer Glaubwürdigkeit. Es werden jetzt ja auch Ziele ausgegeben, Afghanistan zu einer modernen Demokratie zu machen. Das hat ja nie einer verfolgt. Das ist wirklicher Unsinn und den behauptet jetzt keiner.
Ich war vor drei Wochen in Washington. Das, was viele dort gesagt haben, das amerikanische Engagement war auf einem sehr geringen Niveau nach langen Jahren von Toten, über 200.000 Tote, viele Verletzte, Traumatisierte, zwei Billionen Dollar. Alles das hat man eingesetzt. Das war jetzt auf einem sehr geringen Niveau der Truppenpräsenz, auch der Verletzungen, der Schäden, dass, wenn man das fortgeführt hätte, eine friedliche Entwicklung des Landes möglich gewesen wäre. Jetzt hat man die Nachhaltigkeit all dessen, wofür man sich 20 Jahre eingesetzt hat, mehr als hoch gefährdet und ich glaube, man darf dem einfach nicht zuschauen, sondern man muss sich dem entgegensetzen.
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Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sieht das Ziel des Afghanistan-Einsatzes erreicht. Der weitere Prozess zwischen Regierung und Taliban sei eine innerafghanische Angelegenheit, sagte sie im Dlf.

"Das Nichtstun wird Folgen haben"

Heckmann: Genau das haben Sie ja gefordert, den Taliban etwas entgegenzusetzen, auch mit der Bundeswehr. Das haben Sie gesagt. Von Ihrem Parteikollegen, dem Verteidigungsexperten Wadephul, kam stante pede ein Nein: "Der Bundeswehreinsatz wurde auf NATO-Ebene beendet. Ich sehe weder politisch, noch militärisch einen Ansatzpunkt für eine neue Einsatzentscheidung." Herr Röttgen, ist Ihr Appell nicht total jenseits jeder Realpolitik, die ganze Entscheidung des Abzugs zurückzudrehen?
Röttgen: Das ist auch nicht meine Formulierung, den Abzug jetzt zu revidieren, sondern meine Formulierung war genau die, die Sie verwendet haben: Wir müssen der Eroberung Afghanistans durch die Taliban etwas entgegensetzen – erstens aus der Verantwortung von vergangenem Tun über 20 Jahre hinweg, zweitens aus unseren eigenen Sicherheitsinteressen. Das Nichtstun wird Folgen haben. Es wird einen dauerhaften Bürgerkrieg geben und die Menschen werden fliehen, und zwar nicht nur zu Hunderttausenden, sondern zu Millionen. Es wird eine nachträgliche Delegitimierung der Außenpolitik der NATO, der USA und Deutschlands geben, wenn das nach 20 Jahren so endet. Es sind unsere Interessen, die immer betroffen waren. So haben wir 20 Jahre argumentiert. Es geht um unsere Interessen. Sie erinnern sich: Peter Struck - "die Sicherheit Deutschlands wird am Hindukusch verteidigt". Genauso ist es. Wir können unsere Sicherheit nicht nur innerhalb unserer Mauern verteidigen und darum hat man jetzt die Möglichkeit, das zu stoppen, bis der Winter einsetzt. Das ist in Afghanistan schon im Oktober. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, die Taliban zu zwingen, nicht sich wieder zurückzuziehen, sondern einer politischen Lösung zuzustimmen. Sie glauben im Moment zu Recht, das brauchen wir nicht, weil wir militärisch das Land wieder erobern. Darum geht es, um diese relativ minimale, klar begrenzte Zielsetzung.
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Heckmann: Okay, Herr Röttgen. So weit, so klar. Dennoch: Die Formulierung, dem etwas entgegensetzen – Sie haben es gerade noch mal gesagt -, ist ein bisschen wolkig, mit Verlaub. Was genau wollen Sie entgegensetzen?
Röttgen: Es findet ja jetzt schon etwas statt. Die Amerikaner tun so, als würden sie es nicht tun. Die Amerikaner haben unklugerweise ihre Luftbasen in Afghanistan aufgegeben und sie haben jetzt Luftschläge von ihrer Militärbasis in Katar aus intensiviert und sie versuchen, das Tempo zu verlangsamen, mit dem die Taliban vorgehen. Das wird auch weiter geschehen. Es wird auch intensiviert werden. Es bleibt trotzdem bei der amerikanischen Rhetorik, auch innenpolitisch. Das wird geschehen.

"Es geht nicht um einen neuen Bundeswehreinsatz"

Heckmann: Das heißt für Deutschland und für die Bundeswehr?
Röttgen: Das heißt erst mal politisch, dass wir mit den USA reden müssen und ihnen sagen müssen, was sie gerade für einen ersten schwerwiegenden Fehler machen. Wir können nicht immer nur alles abnicken, was von den USA kommt. Das sage ich als engagierter Transatlantiker. Sondern wir müssen mit ihnen klar reden. Aber wenn wir das tun wollen, dann können wir das natürlich nicht aus einer Position, in der wir zuerst mal festlegen, wir sagen euch vorab mal, wir machen gar nichts, aber wir haben klare Erwartungen an euch. So wird transatlantische Partnerschaft nicht mehr funktionieren und so wird auch nicht die Sicherheits- oder die Stabilitätspolitik im Nahen und Mittleren Osten und in anderen Regionen formuliert. Also müssen wir sagen, das was wir können, das bieten wir an!
Heckmann: Herr Röttgen, guter Punkt. Sie haben in einem Interview der FAZ gesagt, wenn es militärische Fähigkeiten der Europäer, auch der Deutschen gibt, die jetzt benötigt würden, dann sollten wir sie zur Verfügung stellen. Herr Röttgen, welche sind das konkret, die Ihnen da vorschweben? Was soll die Bundeswehr jetzt in Zukunft noch machen? Soll sie in Afghanistan bleiben? Soll sie mitbombardieren?
Röttgen: Nein. Es geht nicht um einen Verbleib am Boden. Es geht nicht um einen neuen Bundeswehreinsatz, um das ganz klar zu sagen. Es geht nicht um die Revision des Abzugs, sondern es geht jetzt, um es noch mal präzise zu sagen, darum: Es gibt eine Offensive der Taliban und der kann man etwas entgegensetzen. Die USA tun das auch. Sie müssen es intensiver tun. Und wir müssen im Bündnis sagen, ihr habt jetzt auch die Fähigkeit als Amerikaner und die Verpflichtung, es zu tun. Wenn es etwas gibt, was wir tun können dazu, in welcher Weise auch immer …

"Das ist nicht mehr die Welt des 21. Jahrhunderts"

Heckmann: Zum Beispiel?
Röttgen: Das ist eine fachliche Frage. Ob es Logistik ist, ob es andere Hilfe ist, die sie brauchen, dann sollten wir sagen, selbstverständlich sind wir bereit, die einzusetzen, weil es das Ziel ist, das wir gemeinsam weiterverfolgen müssen. Mir geht es im Grunde um unseren politischen Ansatz. Wenn wir eine Niet-Politik betreiben, wenn wir von uns immer sagen, wir machen nichts, aber wir wollen, der UN-Sicherheitsrat soll sich beschäftigen, die USA sollen etwas tun, dann wird nichts passieren. Das ist nicht mehr die Welt des 21. Jahrhunderts, wie Sicherheit für Deutschland organisiert wird, indem die Deutschen sagen, wir machen nichts, aber Erwartungen an andere formulieren. Das ist die Veränderung, die wir hinkriegen, und dann werden wir mal sehen, was die Amerikaner sagen. Ja, wenn wir das machen, dann müsst ihr dies und jenes tun. Dann müssen wir sagen, dann müssen wir bereit sein, darüber zu reden. Mehr sage ich nicht.
Soldaten der Bundeswehr sind vor dem Transportflugzeug vom Typ Airbus A400M der Luftwaffe zum Abschlussappell angetreten. Die letzten Soldaten des deutschen Afghanistan-Einsatzes sind auf dem niedersächsischen Fliegerhorst ankommen. Am Vorabend war der Einsatz nach fast 20 Jahren beendet worden. Die Soldaten waren mit vier Militärmaschinen aus dem Feldlager in Masar-i-Scharif im Norden von Afghanistan ausgeflogen worden.
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Die letzten Bundeswehrsoldaten haben Afghanistan verlassen. Doch auch diejenigen, die im Weltbild der Taliban keinen Platz haben – zum Beispiel Akademiker oder Vertreterinnen der Zivilgesellschaft – wollen nicht bleiben.
Heckmann: Einen Aspekt möchte ich sehr gerne noch ansprechen. Die Bundesregierung arbeitet weiter daran, abgelehnte Asylbewerber abzuschieben. Zuletzt wurde ein Flug gestoppt. Die Regierung sagt aber, das geht weiter. Es gebe sichere Gebiete in Afghanistan. Muss die Bundesregierung jetzt nicht zu dem Schluss kommen, wir stoppen diese Flüge ins Ungewisse, und zwar sofort?
Röttgen: Ich glaube, das Auswärtige Amt muss seine Bewertung der Sicherheitslage in Afghanistan anpassen an die Realität. Ich glaube, dass Abschiebungen nach Afghanistan jetzt überhaupt kein Thema sind – praktisch. Man muss nicht das Prinzip verändern, grundsätzlich wird abgeschoben. Im Moment ist das, glaube ich, überhaupt kein praktisches Thema.
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Unions-Fraktionsvize Thorsten Frei hält Abschiebungen von Straftätern und Gefährdern nach Afghanistan nach wie vor für vertretbar. Es bestehe nicht grundsätzlich eine Gefahr für Leib und Leben, sagte er im Dlf.

"Sicherheitslage ist jetzt eine andere als vor drei Monaten"

Heckmann: Hat das Auswärtige Amt da geschlafen?
Röttgen: Dass die Sicherheitslage jetzt eine andere ist als vor drei Monaten, ist doch offensichtlich. Das muss auch dokumentiert werden. Da müssen Schlüsse draus gezogen werden. Es geht um was ganz anderes. Es geht darum, dass wir jetzt verhindern, dass weitere Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kommen, und es geht darum, dass die Ortskräfte in Afghanistan, die für uns gearbeitet haben, dass die alle, und zwar großzügig nach Deutschland kommen, denn die werden sonst mit Sicherheit abgeschlachtet, weil sie für Deutsche und Deutschland gearbeitet und Dienst getan haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.