Nein, Rumänien ist kein Land, das nur Autoschieber, Drogendealer und korrupte Eliten hervorbringt. Wohl aber ein Land, das sich schwer tut - wo Fortschritte langsamer stattfinden als anderswo. Ein Land, das immer wieder unter Generalverdacht steht und mit Klischees überhäuft wird: Eine verrohte Gesellschaft, heißt es hier und da, gebrandmarkt durch die Diktatur Ceausescus. Irgendwie langsamer als die anderen. Und damit ein Sonderschüler, gegen den Länder wie Ungarn oder Slowenien wie Musterknaben wirken. Dennoch soll der Bad Guy aus Osteuropa demnächst EU-Mitglied werden, also macht Olli Rehn in diesen Tagen gewaltig Druck. Der Finne ist zuständig für die Erweiterung der Europäischen Union, und damit derzeit Rumäniens wichtigster Ansprechpartner in Brüssel. Bedeutende Fortschritte hat Rehn den Rumänen jüngst bescheinigt, aber tatsächlich bleibt noch eine ganze Menge zu tun. Für die EU geht es vor allem um die großen Fische, um Korruption und organisierte Kriminalität.
Für Rumänien selbst geht es aber auch und gerade um die "Kleinen". Um die "ganz normalen" Verbrecher, die mitten aus dem Volk kommen. Um Räuber, Schläger, Mörder. Sie alle haben eine, aber meist nicht diese Strafe verdient, nicht den Dreck, den Drill - die oft unerträglichen Haftbedingungen. Ein erster Blick hinter die Mauern.
Für Rumänien selbst geht es aber auch und gerade um die "Kleinen". Um die "ganz normalen" Verbrecher, die mitten aus dem Volk kommen. Um Räuber, Schläger, Mörder. Sie alle haben eine, aber meist nicht diese Strafe verdient, nicht den Dreck, den Drill - die oft unerträglichen Haftbedingungen. Ein erster Blick hinter die Mauern.
Läuse, Drill und ein verpfuschtes Leben
Ein Besuch im Hochsicherheitsgefängnis Bukarest-Rahova
Ein Besuch im Hochsicherheitsgefängnis Bukarest-Rahova
Sechs Uhr dreißig morgens im Hochsicherheitsgefängnis Bukarest-Rahova, Abteilung zwei, Männer. Der Wärter Ghita Gheorghe öffnet die beiden Eisentüren einer Zelle. "Aufstehen!", schreit er, "raus aus den Betten!" Die Männer erheben sich widerwillig. "Probleme?", fragt der Wärter. "Keine", antwortet ein Gefangener. "Gut!", sagt der Wärter und schließt wieder ab.
Abteilung zwei, Zelle 35, Kategorie "Hohe Strafen". Zehn Männer, verurteilt zu zehn bis 22 Jahren Haft wegen schwerer Körperverletzung, Totschlags oder wegen Mordes. Zehn Männer, sechzehn Quadratmeter, 23 Stunden täglich eingeschlossen, alle rauchen ununterbrochen. In der Zelle: fünf schmale Doppelstockbetten, ein Fernseher, an den Wänden Bilder nackter Frauen und der Muttergottes. Es ist kalt. Heizung: morgens und abends ein bis zwei Stunden. Warmes Wasser im kleinen Bad nebenan - einmal in der Woche abends. Es sind die besten Haftbedingungen, die Constantin Marian bisher erlebt hat. Er ist 35 Jahre alt, sitzt seit 1992 wegen Totschlags und kennt schon fast alle rumänische Gefängnisse.
" Hier sind die Verhältnisse noch einigermaßen gut. Anderswo, im Untersuchungsgefängnis Jilava zum Beispiel, ist es ein totales Desaster. Da leben 100 Leute in einer Zelle mit 40 Betten, und alles ist voller Läuse. Aus dem Wasserhahn kommt dreckiges Wasser. Wir sind im Gefängnis, weil wir leiden müssen für das, was wir getan haben. In Ordnung. Aber sie sollen nicht unser Leben zerstören."
Die Wärter hören den Beschwerden der Gefangenen ungerührt zu. Sie haben selbst keine Heizung und kein Warmwasser in ihrem Acht-Quadratmeter-Büro. Draußen, im Land, leben die meisten Menschen nur unwesentlich besser als hier in den Gefängnissen. Überhaupt, sagt der Wärter Ghita Gheorghe, sei es gefährlich die Gefangenen zu bemitleiden.
" Sie sind nicht so schlecht und böse, wie ich dachte, als ich hier anfing zu arbeiten. Aber sie tanzen dir auf der Nase herum, wenn du dich nicht streng an die Vorschriften hältst. Sie können dich sofort einschätzen, sie lesen in dir wie in einem Buch, und sie appellieren an deine sentimentale Seite. Aber du darfst keine Sympathie zeigen. Wenn du nicht hart bleibst, dann verlierst du und hältst nicht stand."
Hofgang für Abteilung drei, Kategorie "Kleine Strafen", eine der wenigen Abwechslungen am Tag. Der Hof ist ein riesiger Käfig, dreißig mal zehn Meter, inklusive vergittertem Dach. Die Männer laufen hin und her wie Tiere im Zoo. Einer von ihnen ist Valentin Vijulan, 25 Jahre. Für mehrfachen Autoradio-Diebstahl hat er sechs Jahre Gefängnis bekommen, acht Monate muss er noch absitzen. Draußen warten seine Freundin und sein kleiner Sohn auf ihn. Er weiß nicht, ob die Beziehung noch hält, wenn er freikommt. Es ist alles den Bach runter gegangen, sagt er.
Dass Rumänien der Europäischen Union beitreten wird, steht fest. Die Frage ist nur: Wann? In genau zehn Tagen, am 16. Mai, soll in Brüssel die Entscheidung fallen, je nachdem, welche Empfehlung die EU-Kommission in ihrem neuesten Fortschrittsbericht gibt. 2007, spätestens 2008, wird Rumänien EU-Mitglied sein. Natürlich aber wird das Land mit dem Beitritt seine Vergangenheit nicht einfach abstreifen können. Die Ära Ceausescu, die Mitte der sechziger Jahre begann und 1989 endete, hat eine Gesellschaft hinterlassen, die nicht nur Kenner, sondern auch viele Rumänen selbst als immer noch brutal bezeichnen. Es gibt wenig Miteinander, statt dessen viel Ignoranz - auch das eine Altlast. Berauscht vom Größenwahnsinn lebte der Diktator Ceausescu seinerzeit in Saus und Braus, während das Volk Hunger und Kälte litt. So hat der permanente Mangel von damals bis heute Spuren hinterlassen; die hohen Kriminalitäts-Raten sind eine davon. Vorbilder gibt es hingegen immer noch wenige - Politiker, Richter, die so genannten Eliten, sie alle haben einen miserablen Ruf im Lande. Amnesty International berichtet zudem über Misshandlungen und Folter auf Polizeirevieren, und immer wieder auch über die erbärmlichen Zustände in Rumäniens Gefängnissen.
Häftlinge sind zusammengepfercht auf engstem Raum, zu den Mahlzeiten wird oftmals serviert, was kaum den Namen Essen verdient, und in vielen Zellentrakten herrscht Krieg mit den Wärtern. Eines aber kommt noch hinzu. Für die meisten Häftlinge beginnt die Tortur nicht erst im Gefängnis, sondern schon im Gerichtssaal: Victoria Gal trat als Totschlägerin vor den Richter und kam als Mörderin in den Knast:
Abteilung zwei, Zelle 35, Kategorie "Hohe Strafen". Zehn Männer, verurteilt zu zehn bis 22 Jahren Haft wegen schwerer Körperverletzung, Totschlags oder wegen Mordes. Zehn Männer, sechzehn Quadratmeter, 23 Stunden täglich eingeschlossen, alle rauchen ununterbrochen. In der Zelle: fünf schmale Doppelstockbetten, ein Fernseher, an den Wänden Bilder nackter Frauen und der Muttergottes. Es ist kalt. Heizung: morgens und abends ein bis zwei Stunden. Warmes Wasser im kleinen Bad nebenan - einmal in der Woche abends. Es sind die besten Haftbedingungen, die Constantin Marian bisher erlebt hat. Er ist 35 Jahre alt, sitzt seit 1992 wegen Totschlags und kennt schon fast alle rumänische Gefängnisse.
" Hier sind die Verhältnisse noch einigermaßen gut. Anderswo, im Untersuchungsgefängnis Jilava zum Beispiel, ist es ein totales Desaster. Da leben 100 Leute in einer Zelle mit 40 Betten, und alles ist voller Läuse. Aus dem Wasserhahn kommt dreckiges Wasser. Wir sind im Gefängnis, weil wir leiden müssen für das, was wir getan haben. In Ordnung. Aber sie sollen nicht unser Leben zerstören."
Die Wärter hören den Beschwerden der Gefangenen ungerührt zu. Sie haben selbst keine Heizung und kein Warmwasser in ihrem Acht-Quadratmeter-Büro. Draußen, im Land, leben die meisten Menschen nur unwesentlich besser als hier in den Gefängnissen. Überhaupt, sagt der Wärter Ghita Gheorghe, sei es gefährlich die Gefangenen zu bemitleiden.
" Sie sind nicht so schlecht und böse, wie ich dachte, als ich hier anfing zu arbeiten. Aber sie tanzen dir auf der Nase herum, wenn du dich nicht streng an die Vorschriften hältst. Sie können dich sofort einschätzen, sie lesen in dir wie in einem Buch, und sie appellieren an deine sentimentale Seite. Aber du darfst keine Sympathie zeigen. Wenn du nicht hart bleibst, dann verlierst du und hältst nicht stand."
Hofgang für Abteilung drei, Kategorie "Kleine Strafen", eine der wenigen Abwechslungen am Tag. Der Hof ist ein riesiger Käfig, dreißig mal zehn Meter, inklusive vergittertem Dach. Die Männer laufen hin und her wie Tiere im Zoo. Einer von ihnen ist Valentin Vijulan, 25 Jahre. Für mehrfachen Autoradio-Diebstahl hat er sechs Jahre Gefängnis bekommen, acht Monate muss er noch absitzen. Draußen warten seine Freundin und sein kleiner Sohn auf ihn. Er weiß nicht, ob die Beziehung noch hält, wenn er freikommt. Es ist alles den Bach runter gegangen, sagt er.
Dass Rumänien der Europäischen Union beitreten wird, steht fest. Die Frage ist nur: Wann? In genau zehn Tagen, am 16. Mai, soll in Brüssel die Entscheidung fallen, je nachdem, welche Empfehlung die EU-Kommission in ihrem neuesten Fortschrittsbericht gibt. 2007, spätestens 2008, wird Rumänien EU-Mitglied sein. Natürlich aber wird das Land mit dem Beitritt seine Vergangenheit nicht einfach abstreifen können. Die Ära Ceausescu, die Mitte der sechziger Jahre begann und 1989 endete, hat eine Gesellschaft hinterlassen, die nicht nur Kenner, sondern auch viele Rumänen selbst als immer noch brutal bezeichnen. Es gibt wenig Miteinander, statt dessen viel Ignoranz - auch das eine Altlast. Berauscht vom Größenwahnsinn lebte der Diktator Ceausescu seinerzeit in Saus und Braus, während das Volk Hunger und Kälte litt. So hat der permanente Mangel von damals bis heute Spuren hinterlassen; die hohen Kriminalitäts-Raten sind eine davon. Vorbilder gibt es hingegen immer noch wenige - Politiker, Richter, die so genannten Eliten, sie alle haben einen miserablen Ruf im Lande. Amnesty International berichtet zudem über Misshandlungen und Folter auf Polizeirevieren, und immer wieder auch über die erbärmlichen Zustände in Rumäniens Gefängnissen.
Häftlinge sind zusammengepfercht auf engstem Raum, zu den Mahlzeiten wird oftmals serviert, was kaum den Namen Essen verdient, und in vielen Zellentrakten herrscht Krieg mit den Wärtern. Eines aber kommt noch hinzu. Für die meisten Häftlinge beginnt die Tortur nicht erst im Gefängnis, sondern schon im Gerichtssaal: Victoria Gal trat als Totschlägerin vor den Richter und kam als Mörderin in den Knast:
Victorias Geschichte
Wenn Totschlag zum Mord erklärt wird
Wenn Totschlag zum Mord erklärt wird
Tîrgsor, ein Frauengefängnis in Südrumänien, morgens um halb sieben. Im Hof vor dem Zellentrakt sind die Frauen in Kolonnen angetreten. Das Alarmsignal ertönt, dann geben die Wärter Anweisung zum Abmarsch. Einige Frauen machen sich auf den Weg zur Schweine- und Rinderfarm, direkt neben der Haftanstalt, die meisten Frauen gehen in die gefängniseigene Textilfabrik auf der anderen Seite des Innenhofes.
Victoria Gal steht an ihrem Arbeitsplatz in der Textilfabrik, sie schneidet Fäden aus den Nähten von Röcken ab. Eine kleine, rundliche Frau, 53 Jahre alt, mit kindlich-gutmütigen Augen und grauen Haaren unter ihrer Wollmütze. Die Frauen um sie herum reden laut miteinander. Sie selbst ist still, sie schaut nicht auf und macht ihre Arbeit so gleichförmig wie eine Maschine.
Victoria Gal stammt aus einem entlegenen Dorf in Ostrumänien. Dort war sie ihr Leben lang Bäuerin und Hausfrau. Sie lebte in bescheidenen Verhältnissen und hat drei Kinder großgezogen, zwei Töchter und einen Sohn. Vor viereinhalb Jahren erschlug sie ihren Ehemann.
Frühstückspause. Mit einem fingergroßen Tauchsieder erhitzt Victoria Gal Wasser in einer Blechtasse, dann schüttet sie etwas Kaffee und Zucker hinein. Sie setzt sich abseits von ihren Arbeitskolleginnen auf einen Stuhl, legt ihre Hände auf die Knie und blickt zu Boden. Langsam und sehr leise erzählt sie, so als ob sie noch einmal ein Geständnis ablegen würde.
" Ich habe 1973 geheiratet, im Monat Mai, am dreißigsten. Als mein Mann und ich uns kennen lernten, mochten wir uns sehr. Es war eine Heirat aus Liebe, keine Heirat, die uns unsere Eltern vorgeschrieben hatten. Anfangs trank er nur ab und zu, mal ein Bier, mal ein Glas Schnaps."
" Unsere Streitereien fingen an, da war er schon über vierzig. Meistens ging es um Geld. Er machte Schulden, um zu trinken, später begann er, Sachen von zuhause zu versetzen. Manchmal tauschte er ein ganzes Huhn für ein Glas Schnaps ein. Ich war mehrmals in der Psychiatrie mit ihm, aber der Arzt sagte, wenn er nicht aufhören würde zu trinken, könne er nichts machen. Ich schämte mich, wir waren die einzigen im Dorf, bei denen es immer Streit gab. Schließlich schlug ich vor, uns zu trennen, bevor etwas passiert. Aber ich wollte ihn nicht wie einen Hund auf die Straße setzen oder zu seiner Mutter zurückschicken."
" Es war am 17. September 2001, morgens. Er lag noch im Bett und hatte schon eine Schnapsflasche in der Hand, Rum oder Wodka, ich weiß es nicht mehr. Ein paar Tage vorher hatte er überall in der Nachbarschaft verkündet, dass er etwas Furchtbares tun würde. Er würde mich umbringen, hatte er gesagt, er würde die Kinder verjagen und das Haus anzünden. Ich kam zu ihm ins Zimmer. Als er mich sah, stand er auf und sagte: Ich bringe dich um. Ich war völlig überrascht."
" Er nahm eine Eisenstange und schlug damit auf mich ein. Ich riss ihm die Stange weg und wollte fortlaufen, aber er packte mich bei den Haaren und würgte mich, so dass ich kaum mehr Luft bekam. Ich schlug wie wild mit der Eisenstange auf ihn ein, erst auf die Beine und die Rippen, und dann auf den Kopf, solange, bis er zwischen zwei Sessel fiel. Dann rannte ich aus dem Zimmer. Normalerweise verfolgte er mich bis in den Hof, aber diesmal nicht. Nach einer Weile ging ich zurück ins Zimmer. Da lag er. Aus seiner Nase floss Blut. Ich stand da und dachte: Lieber Gott, was habe ich getan!"
Victoria Gal wurde wegen Mordes zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Sie nahm das Urteil widerspruchslos hin. Kurz darauf kam sie ins Frauengefängnis Tîrgsor. Seitdem arbeitet sie in der Textilfabrik. Für jeden Monat Arbeit werden ihr acht Tage von der Haftstrafe abgezogen. Weil sie sich gut führt, wird ihr außerdem ein Viertel der gesamten Strafe erlassen. Deshalb kommt sie vielleicht schon Ende nächsten Jahres frei.
Nachmittags, drei Uhr im Speisesaal. Eine Köchin verteilt aus Blechkübeln das Mittagessen, wässrige Suppe und geschmorten Kohl. Wütend schreien einige Frauen, das Essen sei Fraß für Schweine.
Victoria Gal lässt die Suppe stehen, lustlos löffelt sie etwas Kohl in sich hinein. Von dem Essen, sagt sie, wird man mehr krank, als dass man gesund bleibt.
Raum 51 des Zellentraktes, 60 Quadratmeter für 36 Frauen, sechs Reihen mit je drei schmalen Doppelstockbetten hintereinander. Victoria Gal geht zu ihrem Bett. "Hier ist seit viereinhalb Jahren meine Wohnung", sagt sie:
" Am Anfang schien es mir hier so furchtbar weit weg von der Familie. Lauter fremde Menschen, von überall her. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Es herrscht Ruhe bei uns. Die Frauen sind alle sehr sauber. Wir verstehen uns gut, und wir haben keine Probleme."
Zehn Jahre für Mord. Wollte sie keinen Einspruch erheben? Die Frage überrascht Victoria Gal.
" Der Richter und alle, die beim Prozess waren, fragten mich zwei Mal: Bist du mit der Strafe zufrieden? Ja, sagte ich, wenn Sie mir diese Strafe geben... Dann durfte ich mich setzen. Der Anwalt kam zu mir. Er flüsterte: Victoria, dein Mann wollte dich doch umbringen, sag das dem Richter. Ich stand auf, aber mir wurde schwindelig, und ich fing an zu weinen. So ist es bei den zehn Jahren geblieben."
Victoria Gal sitzt auf ihrem Bett und blickt lange zu Boden. Rund um das Bett hat sie einen Vorhang gespannt, an die Innenseite ein Heiligenbild und Fotos ihrer Familie und ihrer drei Kinder geklebt. Ihr Sohn und eine Tochter haben inzwischen selbst Kinder, die jüngste Tochter ist Nonne in einem Kloster. Sie kommen selten zu Besuch ins Gefängnis, denn die Fahrt dauert lange und kostet viel Geld. Aber sie schicken regelmäßig Lebensmittelpakete. Victoria Gal betrachtet die Fotos und beginnt zu weinen.
" Niemand aus der Familie hat zu mir gehalten. Meine Geschwister haben mir immer vorgeworfen, dass ich einen Säufer zum Mann genommen habe. Jetzt wollen sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Sie sagen, dass ich sie vor aller Welt zum Gespött gemacht habe. Natürlich schäme ich mich! Was werden die Leute sagen, wenn ich zurückkomme? So etwas ist bei uns auf dem Land nie vorgekommen! "
Der Priester hat die Frauen zum Gottesdienst in den Gebetssaal auf dem Hof gerufen. Victoria Gal ist sehr gläubig. Während des ganzen Gottesdienstes blickt sie starr zu Boden und presst die Hände zusammen. Sie ist das Abbild einer Büßerin. Später, im Raum 51, sitzt sie auf ihrem Bett. Mein Gewissen plagt mich, sagt sie. Ja, bis ans Ende meiner Tage werde ich ihn auf dem Gewissen haben. Ich wünschte, es wäre nicht geschehen.
"Lebenslänglich in Rahova." So heißt eine Sammlung von Protokollen, die der rumänische Journalist Eugen Istodor letztes Jahr herausgegeben hat. Darin kommt auch Gavrila zu Wort, heute 29 Jahre alt. Als er 19 war, wurde er verurteilt bis an sein Lebensende wegen Raubmordes. Gavrila erinnert sich:
Victoria Gal steht an ihrem Arbeitsplatz in der Textilfabrik, sie schneidet Fäden aus den Nähten von Röcken ab. Eine kleine, rundliche Frau, 53 Jahre alt, mit kindlich-gutmütigen Augen und grauen Haaren unter ihrer Wollmütze. Die Frauen um sie herum reden laut miteinander. Sie selbst ist still, sie schaut nicht auf und macht ihre Arbeit so gleichförmig wie eine Maschine.
Victoria Gal stammt aus einem entlegenen Dorf in Ostrumänien. Dort war sie ihr Leben lang Bäuerin und Hausfrau. Sie lebte in bescheidenen Verhältnissen und hat drei Kinder großgezogen, zwei Töchter und einen Sohn. Vor viereinhalb Jahren erschlug sie ihren Ehemann.
Frühstückspause. Mit einem fingergroßen Tauchsieder erhitzt Victoria Gal Wasser in einer Blechtasse, dann schüttet sie etwas Kaffee und Zucker hinein. Sie setzt sich abseits von ihren Arbeitskolleginnen auf einen Stuhl, legt ihre Hände auf die Knie und blickt zu Boden. Langsam und sehr leise erzählt sie, so als ob sie noch einmal ein Geständnis ablegen würde.
" Ich habe 1973 geheiratet, im Monat Mai, am dreißigsten. Als mein Mann und ich uns kennen lernten, mochten wir uns sehr. Es war eine Heirat aus Liebe, keine Heirat, die uns unsere Eltern vorgeschrieben hatten. Anfangs trank er nur ab und zu, mal ein Bier, mal ein Glas Schnaps."
" Unsere Streitereien fingen an, da war er schon über vierzig. Meistens ging es um Geld. Er machte Schulden, um zu trinken, später begann er, Sachen von zuhause zu versetzen. Manchmal tauschte er ein ganzes Huhn für ein Glas Schnaps ein. Ich war mehrmals in der Psychiatrie mit ihm, aber der Arzt sagte, wenn er nicht aufhören würde zu trinken, könne er nichts machen. Ich schämte mich, wir waren die einzigen im Dorf, bei denen es immer Streit gab. Schließlich schlug ich vor, uns zu trennen, bevor etwas passiert. Aber ich wollte ihn nicht wie einen Hund auf die Straße setzen oder zu seiner Mutter zurückschicken."
" Es war am 17. September 2001, morgens. Er lag noch im Bett und hatte schon eine Schnapsflasche in der Hand, Rum oder Wodka, ich weiß es nicht mehr. Ein paar Tage vorher hatte er überall in der Nachbarschaft verkündet, dass er etwas Furchtbares tun würde. Er würde mich umbringen, hatte er gesagt, er würde die Kinder verjagen und das Haus anzünden. Ich kam zu ihm ins Zimmer. Als er mich sah, stand er auf und sagte: Ich bringe dich um. Ich war völlig überrascht."
" Er nahm eine Eisenstange und schlug damit auf mich ein. Ich riss ihm die Stange weg und wollte fortlaufen, aber er packte mich bei den Haaren und würgte mich, so dass ich kaum mehr Luft bekam. Ich schlug wie wild mit der Eisenstange auf ihn ein, erst auf die Beine und die Rippen, und dann auf den Kopf, solange, bis er zwischen zwei Sessel fiel. Dann rannte ich aus dem Zimmer. Normalerweise verfolgte er mich bis in den Hof, aber diesmal nicht. Nach einer Weile ging ich zurück ins Zimmer. Da lag er. Aus seiner Nase floss Blut. Ich stand da und dachte: Lieber Gott, was habe ich getan!"
Victoria Gal wurde wegen Mordes zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Sie nahm das Urteil widerspruchslos hin. Kurz darauf kam sie ins Frauengefängnis Tîrgsor. Seitdem arbeitet sie in der Textilfabrik. Für jeden Monat Arbeit werden ihr acht Tage von der Haftstrafe abgezogen. Weil sie sich gut führt, wird ihr außerdem ein Viertel der gesamten Strafe erlassen. Deshalb kommt sie vielleicht schon Ende nächsten Jahres frei.
Nachmittags, drei Uhr im Speisesaal. Eine Köchin verteilt aus Blechkübeln das Mittagessen, wässrige Suppe und geschmorten Kohl. Wütend schreien einige Frauen, das Essen sei Fraß für Schweine.
Victoria Gal lässt die Suppe stehen, lustlos löffelt sie etwas Kohl in sich hinein. Von dem Essen, sagt sie, wird man mehr krank, als dass man gesund bleibt.
Raum 51 des Zellentraktes, 60 Quadratmeter für 36 Frauen, sechs Reihen mit je drei schmalen Doppelstockbetten hintereinander. Victoria Gal geht zu ihrem Bett. "Hier ist seit viereinhalb Jahren meine Wohnung", sagt sie:
" Am Anfang schien es mir hier so furchtbar weit weg von der Familie. Lauter fremde Menschen, von überall her. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Es herrscht Ruhe bei uns. Die Frauen sind alle sehr sauber. Wir verstehen uns gut, und wir haben keine Probleme."
Zehn Jahre für Mord. Wollte sie keinen Einspruch erheben? Die Frage überrascht Victoria Gal.
" Der Richter und alle, die beim Prozess waren, fragten mich zwei Mal: Bist du mit der Strafe zufrieden? Ja, sagte ich, wenn Sie mir diese Strafe geben... Dann durfte ich mich setzen. Der Anwalt kam zu mir. Er flüsterte: Victoria, dein Mann wollte dich doch umbringen, sag das dem Richter. Ich stand auf, aber mir wurde schwindelig, und ich fing an zu weinen. So ist es bei den zehn Jahren geblieben."
Victoria Gal sitzt auf ihrem Bett und blickt lange zu Boden. Rund um das Bett hat sie einen Vorhang gespannt, an die Innenseite ein Heiligenbild und Fotos ihrer Familie und ihrer drei Kinder geklebt. Ihr Sohn und eine Tochter haben inzwischen selbst Kinder, die jüngste Tochter ist Nonne in einem Kloster. Sie kommen selten zu Besuch ins Gefängnis, denn die Fahrt dauert lange und kostet viel Geld. Aber sie schicken regelmäßig Lebensmittelpakete. Victoria Gal betrachtet die Fotos und beginnt zu weinen.
" Niemand aus der Familie hat zu mir gehalten. Meine Geschwister haben mir immer vorgeworfen, dass ich einen Säufer zum Mann genommen habe. Jetzt wollen sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Sie sagen, dass ich sie vor aller Welt zum Gespött gemacht habe. Natürlich schäme ich mich! Was werden die Leute sagen, wenn ich zurückkomme? So etwas ist bei uns auf dem Land nie vorgekommen! "
Der Priester hat die Frauen zum Gottesdienst in den Gebetssaal auf dem Hof gerufen. Victoria Gal ist sehr gläubig. Während des ganzen Gottesdienstes blickt sie starr zu Boden und presst die Hände zusammen. Sie ist das Abbild einer Büßerin. Später, im Raum 51, sitzt sie auf ihrem Bett. Mein Gewissen plagt mich, sagt sie. Ja, bis ans Ende meiner Tage werde ich ihn auf dem Gewissen haben. Ich wünschte, es wäre nicht geschehen.
"Lebenslänglich in Rahova." So heißt eine Sammlung von Protokollen, die der rumänische Journalist Eugen Istodor letztes Jahr herausgegeben hat. Darin kommt auch Gavrila zu Wort, heute 29 Jahre alt. Als er 19 war, wurde er verurteilt bis an sein Lebensende wegen Raubmordes. Gavrila erinnert sich:
Der Coup
Wir dachten, es würde der große Coup werden. Ich wusste, dass der Typ ans Meer fahren würde und dass er Geld hatte. Aber es ging daneben. Wir sind ins Haus rein. Als wir drin waren, artete das Ganze plötzlich in eine furchtbare Schlägerei aus, und am Ende gab es einen toten Menschen. Als wir gingen, war er bewusstlos, aber noch am Leben. Paun sagte, wir sollten aufhören, auf ihn einzudreschen, wir würden ihn sonst umbringen. Ich bedauerte sehr, was ich getan hatte, mein Gewissen ließ mich nicht schlafen, und drei Tage später versuchte ich, mich umzubringen. Ich nahm 150 Schlaftabletten. Ich hoffte, so meine Sünden zu bezahlen. Ich war zehn Tage im Koma. Als ich aufwachte, konnte ich nicht glauben, dass ich am Leben war. Paun war mein Glück oder mein Pech. Es tat mir leid, dass ich am Leben war. Jetzt denke ich anders, und ich hab angefangen, wieder im Fluss des Lebens zu schwimmen. Was die ganzen Aussagen angeht, die wir machten, um die Schwere der Tat herunterzuspielen, da verhedderten wir uns vollkommen. Ich denke, wenn wir ehrlich gewesen wären, hätten wir nicht lebenslänglich bekommen, es wäre bei 25 Jahren geblieben. Jetzt weiß ich, dass Bedauern immer zu spät kommt.
Die Rechtssprechung in Rumänien gilt auch 17 Jahre nach dem Ende der Ceausescu-Diktatur immer noch als fragwürdig. Für relativ harmlose Straftaten, einen kleinen Diebstahl oder zwei, verhängen viele Richter bis heute erschreckend hohe Haftstrafen. Das ist mit ein Grund dafür, dass mancher sprichwörtliche Eierdieb im Gefängnis erst recht kriminell wird. Rumäniens Justizministerin Moníca Macovei hat dieser Entwicklung nun den Kampf angesagt. Und sich damit nicht nur Freunde gemacht. Die an sich beliebte Politikerin, die mit ihrem Kampf gegen die Korruption in Politik und Justiz auch den Westen beeindruckt, will nun ein reformiertes Strafgesetzbuch durchsetzen. Macovei will mehr Transparenz in den Gerichtssälen, sie will die oft endlos lange Prozessdauer verkürzen. Und sie will geringere Strafen. Die meisten Rumänen aber wollen die Angeklagten "wegschließen - am liebsten so lange wie möglich." Strafe und Abschreckung versus Hilfe und Aufarbeitung - ein Schritt vor und zwei zurück. Das Gefängnis als Verwahr-Anstalt - das ist eine immer noch weit verbreitete Ansicht; in Rumänien und auch anderswo. Die Justizministerin gehört da mit ihrer zeitgemäßen Rechtsauffassung einer Minderheit an im Lande, aber ganz alleine ist sie nicht.
Die Rechtssprechung in Rumänien gilt auch 17 Jahre nach dem Ende der Ceausescu-Diktatur immer noch als fragwürdig. Für relativ harmlose Straftaten, einen kleinen Diebstahl oder zwei, verhängen viele Richter bis heute erschreckend hohe Haftstrafen. Das ist mit ein Grund dafür, dass mancher sprichwörtliche Eierdieb im Gefängnis erst recht kriminell wird. Rumäniens Justizministerin Moníca Macovei hat dieser Entwicklung nun den Kampf angesagt. Und sich damit nicht nur Freunde gemacht. Die an sich beliebte Politikerin, die mit ihrem Kampf gegen die Korruption in Politik und Justiz auch den Westen beeindruckt, will nun ein reformiertes Strafgesetzbuch durchsetzen. Macovei will mehr Transparenz in den Gerichtssälen, sie will die oft endlos lange Prozessdauer verkürzen. Und sie will geringere Strafen. Die meisten Rumänen aber wollen die Angeklagten "wegschließen - am liebsten so lange wie möglich." Strafe und Abschreckung versus Hilfe und Aufarbeitung - ein Schritt vor und zwei zurück. Das Gefängnis als Verwahr-Anstalt - das ist eine immer noch weit verbreitete Ansicht; in Rumänien und auch anderswo. Die Justizministerin gehört da mit ihrer zeitgemäßen Rechtsauffassung einer Minderheit an im Lande, aber ganz alleine ist sie nicht.
Hilfe statt Drill
Das Frauengefängnis Tirgsor und seine besonnene Direktorin
Das Frauengefängnis Tirgsor und seine besonnene Direktorin
Halb acht Uhr früh im Frauengefängnis Tîrgsor, Zelle 28. Zinica Trandafirescu, die Direktorin des Gefängnisses, begrüßt die Insassen und wendet sich einer älteren Gefangenen zu.
"Guten Morgen, guten Morgen! Was gibt's denn? Möchtest du mit mir unter vier Augen sprechen?"
"Nicht nötig, Frau Direktor, ich möchte Sie bloß fragen, ob Sie nicht meinen Sohn zu einem Besuch herbringen können, denn er hat selbst kein Geld für die Reise. Ich habe ihn schon ein Jahr lang nicht gesehen."
Zinica Trandafirescu verspricht, sich um das Anliegen zu kümmern.
Zinica Trandafirescu ist eine große, schlanke Frau mit langen, braunen Haaren, 45 Jahre alt. Zweimal in der Woche geht sie morgens durch den Zellentrakt und hört sich die Klagen der Insassen an. Eine Regel, die sie zur Ausnahme unter rumänischen Gefängnisdirektoren macht.
Eine Stunde später im Büro der Gefängnisdirektorin. Fast ständig klingelt das Telefon, zwischendurch kommen Angestellte des Gefängnisses herein. Es ist kalt im Büro, Zinica Trandafirescu sitzt im Mantel am Schreibtisch.
Sie war die erste Frau unter allen Gefängnisdirektoren Rumäniens und ist immer noch die einzige. Im Herbst 1995 wurde sie nach Tîrgsor berufen. Bis dahin hatte sie als Strafrichterin in der nahe gelegenen Stadt Ploiesti gearbeitet.
" Ich gestehe, ich war neugierig. Als Strafrichterin habe ich mich oft gefragt, was wohl aus den Verurteilten wird. Ich habe niemals leichten Herzens hohe Strafen verhängt, und oft habe ich mich gefragt, ob sie auch ihren Zweck erfüllen. Als das Angebot kam, hier im Gefängnis Direktorin zu werden, dachte ich, ja, ich möchte wissen, was dort passiert, wo wir, die Richter, die Leute hinschicken."
Um Erfahrungen zu sammeln, erzählt Zinica Trandafirescu, sprach sie zu Anfang sehr viel mit den Angestellten und den Insassen des Gefängnisses.
" Anfangs bestürmten mich die Gefangenen mit einer Lawine von Fragen. Da merkte ich, dass vorher niemand sie aufmerksam angehört hatte. Ich bin ein offener Mensch, ich habe keinen diktatorischen Kasernenstil. Ich glaube, zu Anfang hat mich das Personal hier ein wenig studiert, und dann hat sich der Führungsstil im Gefängnis geändert. Es gab in den letzten Jahren keine Hungerstreiks und keine Selbstmorde mehr. Ja, ich glaube, ich habe etwas geändert. Aber, wissen Sie, man müsste noch vieles verbessern."
" Wir sind siebzehn Kilometer vom nächsten größeren Ort entfernt. Ob für Briefumschläge oder Lebensmittel - für alles müssen wir erst einmal in die Stadt fahren. Warmwasser, Heizung und Küche funktionieren mit einem Dieselgenerator, und das ist sehr kostspielig. Deshalb mussten wir in der letzten Zeit das Baden auf einmal pro Woche beschränken. Außerdem haben wir Personalmangel. Für mehr als 600 Gefangene gibt es nur einen einzigen Psychologen, zwei Ausbilderinnen, eine Soziologin und einen Priester. Das ist sehr, sehr wenig."
Doch nicht nur die Infrastruktur vieler Gefängnisse müsse verbessert werden, sagt Zinica Trandafirescu. Auch das Strafgesetzbuch bedürfe einer Reform.
" Ich halte nichts von hohen Strafen, denn sie sind nicht effizient. Das beweisen alle meine Erfahrungen mit den Frauen hier. Je länger sie hier sind, desto mehr verlieren sie ihre Verbindung zur Welt draußen. Sie verlieren ihre Männer, ihre Arbeit, ihre Besitztümer und die Verbindung zu ihren Kindern, die oft in Heime kommen. Ich habe über dieses Problem eine Studie angefertigt. Frauen- und Jugendkriminalität haben einen Zusammenhang. Dort, wo die Mutter im Gefängnis ist, geht auch eines der Kinder früher oder später diesen Weg."
Der Tag der Freiheit. Vier Frauen werden heute aus dem Gefängnis entlassen. Zinica Trandafirescu verabschiedet sie und fragt, ob sie noch Beschwerden über das Personal loswerden möchten. Die Frauen verneinen stumm. Sie bekommen ihre Entlassungsscheine und dürfen gehen. Zinica Trandafirescu blickt ihnen nachdenklich hinterher. In einigen Monaten wird sie selbst aufhören, hier im Gefängnis zu arbeiten. Im Herbst läuft ihr zehnjähriges Mandat als Direktorin aus, danach wird sie wieder die Richterrobe anziehen.
"-Ton Zinica Trandafirescu (7): Ich kehre mit einer völlig veränderten Auffassung in meinen früheren Beruf zurück. Ich kehre mit vielen menschlichen Erfahrungen zurück, die mir sehr nützlich sein werden. Ich werde viel aufmerksamer sein und daran denken, was nach dem Prozess mit den Leuten geschieht. Natürlich fällt es mir auch schwer, diesen Ort zu verlassen, aber jetzt ist es auch Zeit, jüngeren Leuten Platz zu machen, damit sie ihre Ideen entfalten können."
"Guten Morgen, guten Morgen! Was gibt's denn? Möchtest du mit mir unter vier Augen sprechen?"
"Nicht nötig, Frau Direktor, ich möchte Sie bloß fragen, ob Sie nicht meinen Sohn zu einem Besuch herbringen können, denn er hat selbst kein Geld für die Reise. Ich habe ihn schon ein Jahr lang nicht gesehen."
Zinica Trandafirescu verspricht, sich um das Anliegen zu kümmern.
Zinica Trandafirescu ist eine große, schlanke Frau mit langen, braunen Haaren, 45 Jahre alt. Zweimal in der Woche geht sie morgens durch den Zellentrakt und hört sich die Klagen der Insassen an. Eine Regel, die sie zur Ausnahme unter rumänischen Gefängnisdirektoren macht.
Eine Stunde später im Büro der Gefängnisdirektorin. Fast ständig klingelt das Telefon, zwischendurch kommen Angestellte des Gefängnisses herein. Es ist kalt im Büro, Zinica Trandafirescu sitzt im Mantel am Schreibtisch.
Sie war die erste Frau unter allen Gefängnisdirektoren Rumäniens und ist immer noch die einzige. Im Herbst 1995 wurde sie nach Tîrgsor berufen. Bis dahin hatte sie als Strafrichterin in der nahe gelegenen Stadt Ploiesti gearbeitet.
" Ich gestehe, ich war neugierig. Als Strafrichterin habe ich mich oft gefragt, was wohl aus den Verurteilten wird. Ich habe niemals leichten Herzens hohe Strafen verhängt, und oft habe ich mich gefragt, ob sie auch ihren Zweck erfüllen. Als das Angebot kam, hier im Gefängnis Direktorin zu werden, dachte ich, ja, ich möchte wissen, was dort passiert, wo wir, die Richter, die Leute hinschicken."
Um Erfahrungen zu sammeln, erzählt Zinica Trandafirescu, sprach sie zu Anfang sehr viel mit den Angestellten und den Insassen des Gefängnisses.
" Anfangs bestürmten mich die Gefangenen mit einer Lawine von Fragen. Da merkte ich, dass vorher niemand sie aufmerksam angehört hatte. Ich bin ein offener Mensch, ich habe keinen diktatorischen Kasernenstil. Ich glaube, zu Anfang hat mich das Personal hier ein wenig studiert, und dann hat sich der Führungsstil im Gefängnis geändert. Es gab in den letzten Jahren keine Hungerstreiks und keine Selbstmorde mehr. Ja, ich glaube, ich habe etwas geändert. Aber, wissen Sie, man müsste noch vieles verbessern."
" Wir sind siebzehn Kilometer vom nächsten größeren Ort entfernt. Ob für Briefumschläge oder Lebensmittel - für alles müssen wir erst einmal in die Stadt fahren. Warmwasser, Heizung und Küche funktionieren mit einem Dieselgenerator, und das ist sehr kostspielig. Deshalb mussten wir in der letzten Zeit das Baden auf einmal pro Woche beschränken. Außerdem haben wir Personalmangel. Für mehr als 600 Gefangene gibt es nur einen einzigen Psychologen, zwei Ausbilderinnen, eine Soziologin und einen Priester. Das ist sehr, sehr wenig."
Doch nicht nur die Infrastruktur vieler Gefängnisse müsse verbessert werden, sagt Zinica Trandafirescu. Auch das Strafgesetzbuch bedürfe einer Reform.
" Ich halte nichts von hohen Strafen, denn sie sind nicht effizient. Das beweisen alle meine Erfahrungen mit den Frauen hier. Je länger sie hier sind, desto mehr verlieren sie ihre Verbindung zur Welt draußen. Sie verlieren ihre Männer, ihre Arbeit, ihre Besitztümer und die Verbindung zu ihren Kindern, die oft in Heime kommen. Ich habe über dieses Problem eine Studie angefertigt. Frauen- und Jugendkriminalität haben einen Zusammenhang. Dort, wo die Mutter im Gefängnis ist, geht auch eines der Kinder früher oder später diesen Weg."
Der Tag der Freiheit. Vier Frauen werden heute aus dem Gefängnis entlassen. Zinica Trandafirescu verabschiedet sie und fragt, ob sie noch Beschwerden über das Personal loswerden möchten. Die Frauen verneinen stumm. Sie bekommen ihre Entlassungsscheine und dürfen gehen. Zinica Trandafirescu blickt ihnen nachdenklich hinterher. In einigen Monaten wird sie selbst aufhören, hier im Gefängnis zu arbeiten. Im Herbst läuft ihr zehnjähriges Mandat als Direktorin aus, danach wird sie wieder die Richterrobe anziehen.
"-Ton Zinica Trandafirescu (7): Ich kehre mit einer völlig veränderten Auffassung in meinen früheren Beruf zurück. Ich kehre mit vielen menschlichen Erfahrungen zurück, die mir sehr nützlich sein werden. Ich werde viel aufmerksamer sein und daran denken, was nach dem Prozess mit den Leuten geschieht. Natürlich fällt es mir auch schwer, diesen Ort zu verlassen, aber jetzt ist es auch Zeit, jüngeren Leuten Platz zu machen, damit sie ihre Ideen entfalten können."
Zuhause
Wie lange ich draußen war? Vier Jahre. Bis ich sechzehn war, im Heim, danach vier Jahre in Freiheit, dann habe ich getan, was ich getan habe und wurde verurteilt. Jetzt bin ich 29 Jahre alt. Dieses Jahr war das schwierigste in meinem Leben, es ist voller Suche. In diesem Jahr habe ich Gott kennen gelernt, und ich fühle, dass er mir Halt gibt. Seitdem ich in Haft bin, ist dies das Beste, was ich erreicht habe.
Ich habe viele schlechte Dinge in meinem Leben gelernt, im Heim habe ich gelernt zu stehlen, zu betrügen, mich zu prügeln, hässlich zu reden, überheblich und egoistisch zu sein. Irgendwann einmal haben mir diese Dinge genützt, aber so im Ganzen, ja, das kann ich sagen, ist mir meine Art zum Verhängnis geworden.
Ich habe vier Jahre gearbeitet. Anfangs als Hilfsarbeiter, dann habe ich mich bei einem Lehrgang qualifiziert. Ich arbeitete bei der U-Bahn-Instandhaltung. Ehrlich, es gefiel mir nicht, in so jungen Jahren schon zu arbeiten. Ich fing so jung an, weil das die Bedingung war, als ich das Heim verlassen wollte. Meine Mutter redete auf meinen Stiefvater ein, damit ich zu ihnen nach Hause konnte. Ich gab ihnen mein halbes Gehalt. Ich hatte mein eigenes Zimmer und war froh.
An guten Absichten und Verlautbarungen mangelt es in Rumänien nicht, schließlich will man die Integration in die Europäische Union so schnell wie möglich vorantreiben. Das Problem aber ist: Je weiter man in der Hierarchie des Staates und der öffentlichen Verwaltung nach unten schaut, desto weniger klappt es mit der praktischen Umsetzung von Reformen. Das ist natürlich nicht allein ein Problem Rumäniens, aber spezifisch ist dort vielleicht das Ausmaß. Für all das sind die Zustände im Strafvollzug ein Beispiel. In der Nationalen Gefängnisverwaltung, kurz ANP, will ein Teil der Angestellten zwar moderne Strafvollzugs-Konzepte umsetzen, der überwiegende Teil jedoch hat davon noch nie etwas gehört und plädiert deshalb weiter für das traditionelle Wegschließen. Dies hat wiederum mit Rumäniens Vergangenheit zu tun: Vor 1989 waren Begriffe wie Psychologie und Persönlichkeits-Entwicklung Fremdworte. Einmal kriminell, immer kriminell - so die immer noch weit verbreitete Auffassung. Das bremst all jene aus, die in der Praxis tatsächlich etwas ändern wollen. Hinzu kommt oftmals schlecht ausgebildetes Personal, das nicht empfänglich ist für Reformen. Außerdem fehlt das Geld, oder es wird zweckentfremdet. So bleiben Resozialisierungs-Maßnahmen in den meisten Gefängnissen immer noch die Ausnahme.
Auch im Hochsicherheits-Gefängnis Rahova läuft es manchem Besucher kalt den Rücken runter. Zehn Mann teilen sich hier eine 20-Quadratmeter-Zelle mit integriertem Badezimmer. Warmes Wasser gibt es selten, die Heizung läuft zwei mal täglich für zwei bis drei Stunden. Eines aber bietet Rahova: ein Therapie-Programm zur Resozialisierung - das einzige Projekt dieser Art in einem rumänischen Gefängnis.
Ich habe viele schlechte Dinge in meinem Leben gelernt, im Heim habe ich gelernt zu stehlen, zu betrügen, mich zu prügeln, hässlich zu reden, überheblich und egoistisch zu sein. Irgendwann einmal haben mir diese Dinge genützt, aber so im Ganzen, ja, das kann ich sagen, ist mir meine Art zum Verhängnis geworden.
Ich habe vier Jahre gearbeitet. Anfangs als Hilfsarbeiter, dann habe ich mich bei einem Lehrgang qualifiziert. Ich arbeitete bei der U-Bahn-Instandhaltung. Ehrlich, es gefiel mir nicht, in so jungen Jahren schon zu arbeiten. Ich fing so jung an, weil das die Bedingung war, als ich das Heim verlassen wollte. Meine Mutter redete auf meinen Stiefvater ein, damit ich zu ihnen nach Hause konnte. Ich gab ihnen mein halbes Gehalt. Ich hatte mein eigenes Zimmer und war froh.
An guten Absichten und Verlautbarungen mangelt es in Rumänien nicht, schließlich will man die Integration in die Europäische Union so schnell wie möglich vorantreiben. Das Problem aber ist: Je weiter man in der Hierarchie des Staates und der öffentlichen Verwaltung nach unten schaut, desto weniger klappt es mit der praktischen Umsetzung von Reformen. Das ist natürlich nicht allein ein Problem Rumäniens, aber spezifisch ist dort vielleicht das Ausmaß. Für all das sind die Zustände im Strafvollzug ein Beispiel. In der Nationalen Gefängnisverwaltung, kurz ANP, will ein Teil der Angestellten zwar moderne Strafvollzugs-Konzepte umsetzen, der überwiegende Teil jedoch hat davon noch nie etwas gehört und plädiert deshalb weiter für das traditionelle Wegschließen. Dies hat wiederum mit Rumäniens Vergangenheit zu tun: Vor 1989 waren Begriffe wie Psychologie und Persönlichkeits-Entwicklung Fremdworte. Einmal kriminell, immer kriminell - so die immer noch weit verbreitete Auffassung. Das bremst all jene aus, die in der Praxis tatsächlich etwas ändern wollen. Hinzu kommt oftmals schlecht ausgebildetes Personal, das nicht empfänglich ist für Reformen. Außerdem fehlt das Geld, oder es wird zweckentfremdet. So bleiben Resozialisierungs-Maßnahmen in den meisten Gefängnissen immer noch die Ausnahme.
Auch im Hochsicherheits-Gefängnis Rahova läuft es manchem Besucher kalt den Rücken runter. Zehn Mann teilen sich hier eine 20-Quadratmeter-Zelle mit integriertem Badezimmer. Warmes Wasser gibt es selten, die Heizung läuft zwei mal täglich für zwei bis drei Stunden. Eines aber bietet Rahova: ein Therapie-Programm zur Resozialisierung - das einzige Projekt dieser Art in einem rumänischen Gefängnis.
"Ich hätte hier nicht enden müssen"
Resozialisierung als Ausweg
Resozialisierung als Ausweg
Sieben Uhr dreißig morgens im Hochsicherheitsgefängnis Bukarest-Rahova, Abteilung zwei, Männer. Ein Wärter geht über den Flur und kündigt den Appell an.
Die Wärter treten ein in Zelle 32, Kategorie "Hohe Strafen". Einer klopft mit einem großen Holzhammer an die Gitter um zu prüfen, ob sie heil sind, ein anderer zählt die Gefangenen. Angetreten: zehn Männer - Mörder, Totschläger und Vergewaltiger. Man sieht ihnen ihre Taten nicht an, sie haben friedfertige Gesichter. Zelle 32 ist ruhig. Es gibt nur selten Streit und Beschwerden, der Appell dauert kaum eine Minute.
Einer der Mörder ist Cornel Arsene, ein kleiner Mann, 37 Jahre alt. Er kommt aus einem Dorf am Stadtrand von Bukarest, dort hat er als Bäcker gearbeitet. Seine braunen Augen wirken unschuldig, seine Gesichtszüge knabenhaft. Vor zehn Jahren brachte er die beste Freundin seiner ehemaligen Frau um. Ein Eifersuchtsdrama. Seine Frau wollte sich scheiden lassen, Cornel Arsene verdächtigte ihre Freundin, sie helfe seiner Frau dabei. Im Streit erstach er sie mit einem Küchenmesser. Er bekam achtzehn Jahre Haft. Lange Zeit wollte er nicht wahrhaben, dass er jemandem das Leben genommen hatte.
" Ich wusste, dass ich etwas Böses getan hatte, aber zugleich wollte ich nicht glauben, dass so etwas geschehen war. Ich war irgendwo zwischen zwei Welten. In der ersten Zeit hier im Gefängnis war ich völlig verwirrt. Draußen war ich ein ruhiger Mensch gewesen, ich kam aus einer anständigen Familie. Nein, ich konnte einfach nicht glauben, dass mir so etwas passiert war."
Mittwochvormittag im Klubraum, Cornel Arsene im Gespräch mit der Therapeutin Mihaela Sasarman. Er erzählt, dass ihn laute Musik in der Zelle oder nächtliches Schnarchen anderer Gefangener äußerst nervös mache. Die Therapeutin bohrt mit Fragen nach, sie will dass Arsene erkennt, wie aggressiv er ist. Am Ende sitzt er da wie ein verzweifelter Schuljunge. Was soll ich denn machen, wenn meine Ohren so empfindlich sind?!, fragt er die Therapeutin hilflos.
Cornel Arsene nimmt seit einem Jahr an der Therapie von Mihaela Sasarman teil. Das Ziel ist, sich selbst zu kontrollieren und Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Es ist das einzige Resozialisierungsprogramm in rumänischen Gefängnissen überhaupt.
Mihaela Sasarman und der Gefängnispsychologe Andrei Chiscu diskutieren im Büro darüber, wie man Häftlingen am besten helfen kann. Das Gefängnis Rahova sei in dieser Hinsicht fortschrittlich, sagt Chiscu.
" Bei Resozialisierungsprogrammen, der Anzahl der Psychologen und den Aktivitäten mit Gefangenen liegen wir an der Spitze der rumänischen Gefängnisse. Wir haben hier acht Psychologen für 1800 Gefangene. In manchen Gefängnissen gibt es nur einen einzigen Psychologen für genauso viele oder noch mehr Gefangene. Unter solchen Bedingungen zu arbeiten, ist Heldentum."
Die Therapeutin Mihaela Sasarman pflichtet ihm bei. Zugleich, sagt sie, spüre sie oft Skepsis gegenüber ihrer Arbeit:
" Die Mehrheit der Leute, die in den Gefängnissen arbeitet, ist der Meinung, dass sich Gefangene nicht ändern. Ich will über diese Behauptung nicht debattieren, ich denke nur, dass eine gute Reintegrationsarbeit den Gefangenen eine Chance bietet. Eine Chance, sich zu ändern. Sie sind nicht hier, weil sie böse geboren wurden. Viele sind hier, weil sie in der Gesellschaft nur begrenzten Zugang zu Mitteln und Möglichkeiten hatten."
Die Klappe an der Tür zu Zelle 32 wird von draußen geöffnet: Ausgabe des Mittagessens. Aus Kübeln serviert ein Häftling wässrige Gemüsesuppe und Bohnenbrei. Die Gefangenen stehen mit ihren Blechtellern an der Klappe, einer fragt laut, ob die Suppe genießbar sei. Cornel Arsene lässt sich Bohnenbrei hineinreichen, dann setzt sich auf sein Bett und freut sich, als er ein paar Fleischstückchen zwischen den Bohnen entdeckt.
Überhaupt ist heute ein guter Tag für ihn. Er geht gerne zu den wöchentlichen Gesprächen mit Mihaela Sasarman, denn sie sind für ihn eine der wenigen Abwechslungen. Aus der Zelle kommt er meistens nur eine Stunde am Tag, zum Hofgang oder zum Tischtennisspielen. Haben die Gespräche mit der Therapeutin ihn auch verändert?
" Ton Cornel Arsene (9): In diesem Programm lernst du dich selbst besser kennen. Es hilft dir, die Dinge zu sehen, wie sie sind, nicht, wie du meinst, dass sie sein sollten. In meinem Fall war das so: Meine Frau wollte die Trennung. Das war die Wirklichkeit. Aber ich konnte das nicht akzeptieren, weil ich mir etwas anderes wünschte. Glauben Sie mir, inzwischen habe ich viele Lösungen für die damalige Situation gefunden. Ich hätte nicht hier enden müssen."
Die Wärter treten ein in Zelle 32, Kategorie "Hohe Strafen". Einer klopft mit einem großen Holzhammer an die Gitter um zu prüfen, ob sie heil sind, ein anderer zählt die Gefangenen. Angetreten: zehn Männer - Mörder, Totschläger und Vergewaltiger. Man sieht ihnen ihre Taten nicht an, sie haben friedfertige Gesichter. Zelle 32 ist ruhig. Es gibt nur selten Streit und Beschwerden, der Appell dauert kaum eine Minute.
Einer der Mörder ist Cornel Arsene, ein kleiner Mann, 37 Jahre alt. Er kommt aus einem Dorf am Stadtrand von Bukarest, dort hat er als Bäcker gearbeitet. Seine braunen Augen wirken unschuldig, seine Gesichtszüge knabenhaft. Vor zehn Jahren brachte er die beste Freundin seiner ehemaligen Frau um. Ein Eifersuchtsdrama. Seine Frau wollte sich scheiden lassen, Cornel Arsene verdächtigte ihre Freundin, sie helfe seiner Frau dabei. Im Streit erstach er sie mit einem Küchenmesser. Er bekam achtzehn Jahre Haft. Lange Zeit wollte er nicht wahrhaben, dass er jemandem das Leben genommen hatte.
" Ich wusste, dass ich etwas Böses getan hatte, aber zugleich wollte ich nicht glauben, dass so etwas geschehen war. Ich war irgendwo zwischen zwei Welten. In der ersten Zeit hier im Gefängnis war ich völlig verwirrt. Draußen war ich ein ruhiger Mensch gewesen, ich kam aus einer anständigen Familie. Nein, ich konnte einfach nicht glauben, dass mir so etwas passiert war."
Mittwochvormittag im Klubraum, Cornel Arsene im Gespräch mit der Therapeutin Mihaela Sasarman. Er erzählt, dass ihn laute Musik in der Zelle oder nächtliches Schnarchen anderer Gefangener äußerst nervös mache. Die Therapeutin bohrt mit Fragen nach, sie will dass Arsene erkennt, wie aggressiv er ist. Am Ende sitzt er da wie ein verzweifelter Schuljunge. Was soll ich denn machen, wenn meine Ohren so empfindlich sind?!, fragt er die Therapeutin hilflos.
Cornel Arsene nimmt seit einem Jahr an der Therapie von Mihaela Sasarman teil. Das Ziel ist, sich selbst zu kontrollieren und Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Es ist das einzige Resozialisierungsprogramm in rumänischen Gefängnissen überhaupt.
Mihaela Sasarman und der Gefängnispsychologe Andrei Chiscu diskutieren im Büro darüber, wie man Häftlingen am besten helfen kann. Das Gefängnis Rahova sei in dieser Hinsicht fortschrittlich, sagt Chiscu.
" Bei Resozialisierungsprogrammen, der Anzahl der Psychologen und den Aktivitäten mit Gefangenen liegen wir an der Spitze der rumänischen Gefängnisse. Wir haben hier acht Psychologen für 1800 Gefangene. In manchen Gefängnissen gibt es nur einen einzigen Psychologen für genauso viele oder noch mehr Gefangene. Unter solchen Bedingungen zu arbeiten, ist Heldentum."
Die Therapeutin Mihaela Sasarman pflichtet ihm bei. Zugleich, sagt sie, spüre sie oft Skepsis gegenüber ihrer Arbeit:
" Die Mehrheit der Leute, die in den Gefängnissen arbeitet, ist der Meinung, dass sich Gefangene nicht ändern. Ich will über diese Behauptung nicht debattieren, ich denke nur, dass eine gute Reintegrationsarbeit den Gefangenen eine Chance bietet. Eine Chance, sich zu ändern. Sie sind nicht hier, weil sie böse geboren wurden. Viele sind hier, weil sie in der Gesellschaft nur begrenzten Zugang zu Mitteln und Möglichkeiten hatten."
Die Klappe an der Tür zu Zelle 32 wird von draußen geöffnet: Ausgabe des Mittagessens. Aus Kübeln serviert ein Häftling wässrige Gemüsesuppe und Bohnenbrei. Die Gefangenen stehen mit ihren Blechtellern an der Klappe, einer fragt laut, ob die Suppe genießbar sei. Cornel Arsene lässt sich Bohnenbrei hineinreichen, dann setzt sich auf sein Bett und freut sich, als er ein paar Fleischstückchen zwischen den Bohnen entdeckt.
Überhaupt ist heute ein guter Tag für ihn. Er geht gerne zu den wöchentlichen Gesprächen mit Mihaela Sasarman, denn sie sind für ihn eine der wenigen Abwechslungen. Aus der Zelle kommt er meistens nur eine Stunde am Tag, zum Hofgang oder zum Tischtennisspielen. Haben die Gespräche mit der Therapeutin ihn auch verändert?
" Ton Cornel Arsene (9): In diesem Programm lernst du dich selbst besser kennen. Es hilft dir, die Dinge zu sehen, wie sie sind, nicht, wie du meinst, dass sie sein sollten. In meinem Fall war das so: Meine Frau wollte die Trennung. Das war die Wirklichkeit. Aber ich konnte das nicht akzeptieren, weil ich mir etwas anderes wünschte. Glauben Sie mir, inzwischen habe ich viele Lösungen für die damalige Situation gefunden. Ich hätte nicht hier enden müssen."
Freiheit
Mir erscheint dieses Wort seltsam und fremd. Ich hatte nicht viel Freiheit in meinem Leben. Ich stand immer unter Befehl, zehn Jahre im Heim, jetzt zehn Jahre im Gefängnis. Wie wäre Freiheit jetzt für mich? Frei zu sein, richtig frei, geht nicht. Jeder von uns lebt eine Form der Freiheit, aber nicht vollständig. Wenn ich frei wäre, würde ich irgendwo in die Berge gehen, mir ein Haus bauen und eine Arbeit haben, von der ich bescheiden leben kann. Ich würde eine Frau suchen und mit ihr zwei Kinder haben. Wegen meiner Verurteilung wird wohl nicht mal ein Viertel dessen in Erfüllung gehen, glaube ich. Aber es gibt die Hoffnung, und sie stirbt als Letztes.
Die Europäische Union hat die Messlatte hoch gehängt. Bukarest ist nicht nur verpflichtet, gegen die weit verbreitete Korruption vorzugehen und die Justiz zu reformieren. Das Land soll auch wirtschaftlich irgendwann das Niveau der Westeuropäer erreicht haben - so der Wunsch in Brüssel. Das heißt: gute Wachstumszahlen, weniger Staatsverschuldung - mehr Eigenverantwortung. Eine Forderung, die im reichen Deutschland schon umstritten ist, hat im armen Rumänien gleich noch ganz andere Konsequenzen. Die Bürokratie lebt, aber effektive Sozialprogramme gab es bislang in keinem Bereich. Der erste nennenswerte Vorstoß in dieser Richtung kam erst Anfang dieses Jahres: Immerhin gibt es nun ein Erziehungsgeld von monatlich 220 Euro für junge Mütter, das ist viel mehr als ein rumänischer Durchschnittslohn. Ansonsten aber gab es bisher praktisch keine Kinder- oder Jugend-Förderung. Wer keine gute Ausbildung hat, oder - wie viele rumänische Kinder - im Heim aufgewachsen ist, für den sieht es besonders schlecht aus.
Die Europäische Union hat die Messlatte hoch gehängt. Bukarest ist nicht nur verpflichtet, gegen die weit verbreitete Korruption vorzugehen und die Justiz zu reformieren. Das Land soll auch wirtschaftlich irgendwann das Niveau der Westeuropäer erreicht haben - so der Wunsch in Brüssel. Das heißt: gute Wachstumszahlen, weniger Staatsverschuldung - mehr Eigenverantwortung. Eine Forderung, die im reichen Deutschland schon umstritten ist, hat im armen Rumänien gleich noch ganz andere Konsequenzen. Die Bürokratie lebt, aber effektive Sozialprogramme gab es bislang in keinem Bereich. Der erste nennenswerte Vorstoß in dieser Richtung kam erst Anfang dieses Jahres: Immerhin gibt es nun ein Erziehungsgeld von monatlich 220 Euro für junge Mütter, das ist viel mehr als ein rumänischer Durchschnittslohn. Ansonsten aber gab es bisher praktisch keine Kinder- oder Jugend-Förderung. Wer keine gute Ausbildung hat, oder - wie viele rumänische Kinder - im Heim aufgewachsen ist, für den sieht es besonders schlecht aus.
Modell
Es war einer der großen Jungs aus dem Heim. Er war achtzehn und hatte eine ungewöhnliche Autorität. Er war weder kräftig noch groß, aber alle im Heim hörten auf ihn. Er war nicht gewalttätig mit den Kleinen, er bestrafte diejenigen, die etwas Schlechtes begingen, sehr klug, so dass sie nächstes Mal nachdachten, bevor sie etwas taten. Wenn mehrere etwas Schlechtes getan hatten, dann ließ er sie im Kreis antreten und befahl ihnen, sich im Uhrzeigersinn zu ohrfeigen. So schaffte er es, einige Cliquen von Raufbolden zu zerschlagen. Hier habe ich kein Modell gefunden, dem ich nacheifere, ich meine, unter den Gefangenen.
Das Jugend-Gefängnis von Crajóva, einer Großstadt im Südwesten Rumäniens, ist in einem relativ guten Zustand, zumindest was die Einrichtung betrifft. Alles andere wirkt hingegen deprimierend.
Die halbstarken Jungs, die hier einsitzen, erzählen von Wärtern, die nicht nur verbale, sondern auch physische Gewalt anwenden. Sie berichten vom Rassismus, den vor allem die Roma unter ihnen erleben müssen, und sie erzählen - nach einer Weile erst - von ihrer Einsamkeit:
Das Jugend-Gefängnis von Crajóva, einer Großstadt im Südwesten Rumäniens, ist in einem relativ guten Zustand, zumindest was die Einrichtung betrifft. Alles andere wirkt hingegen deprimierend.
Die halbstarken Jungs, die hier einsitzen, erzählen von Wärtern, die nicht nur verbale, sondern auch physische Gewalt anwenden. Sie berichten vom Rassismus, den vor allem die Roma unter ihnen erleben müssen, und sie erzählen - nach einer Weile erst - von ihrer Einsamkeit:
Noch 10 Monate: Cosmin, 19 Jahre alt, und der Traum vom Leben nach dem Knast
Zelle 11 des Jugendgefängnisses im Erdgeschoss des Hauptblocks, 18 Quadratmeter für acht Jungen. Sie sind zwischen siebzehn und einundzwanzig Jahre alt, verurteilt wegen Diebstahl, Raub oder Körperverletzung. Sie sitzen lässig auf ihren Betten und machen starke Sprüche. Ihre Augen sind die von kleinen, traurigen Kindern.
Eines dieser Kinder ist Cosmin Craioveanu, 19 Jahre alt. Ein mittelgroßer, stämmiger Junge mit kahlgeschorenem Kopf. Er kommt aus der südrumänischen Kleinstadt Tîrgu Jiu. Seine Mutter ist Arbeiterin bei einem Straßenbaubetrieb und hatte für ihn und seine beiden Geschwister nie viel Zeit, der Vater verließ die Familie, als Cosmin zwei Jahre alt war. Nach der sechsten Klasse brach er die Schule ab und trieb sich auf der Straße herum. Sein Delikt: Diebstahl.
" Ich habe öfter gestohlen, nicht nur einmal. Eines Tages wurde ich erwischt und kam hierher. Sie haben mir viereinhalb Jahre gegeben. In einer Bar hatte ich der Kellnerin ihr Portemonnaie gestohlen. Ich kam hierher, da war ich siebzehn. Jetzt habe ich noch zehn Monate, dann komme ich vor die Bewährungskommission. Am Anfang war das Gefängnis für mich nur eine kleine Einschränkung meiner Freiheit. Ich konnte nicht mehr einfach alles machen, was ich wollte. Inzwischen habe ich begriffen, was Gefängnis bedeutet. Es ist hart hier, ziemlich hart."
Und, was genau ist so hart hier? Cosmin blickt zum Wärter, der mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnt, und beißt sich verschämt lächelnd auf die Lippen. Der Wärter lächelt nicht, er blickt starr zurück. Die Stimmung in der Zelle gefriert, Cosmin schweigt.
Cosmin vormittags beim Rumänischunterricht. An der Tafel steht der Satz: "Der fleißige Schüler macht seine Hausaufgaben." Der Lehrer, Dumitru Dan, übt Grammatik, Cosmin soll Substantiv, Adjektiv und Verb des Satzes benennen. Im Klassenzimmer sitzen noch zwei andere Jungen. Sie sind Analphabeten, der Lehrer ignoriert sie. Dumitru Dan ist 59 Jahre alt. Seit dreißig Jahren unterrichtet er junge Straftäter, bald geht er in Rente. Seine Grammatikstunde wirkt, als wolle er sich seiner eigenen Kenntnisse vergewissern. Cosmin versteht wenig von Grammatik, aber er arbeitet fleißig mit, sonst schreibt der Lehrer negative Berichte über ihn.
Mittagessen im Speisesaal. Es gibt Bohnensuppe und Kartoffeln in Fleischsoße. Die Wärter stehen am anderen Ende des Saales, jetzt können sie Cosmin nicht mehr hören.
" Früher haben sie uns beschimpft und beleidigt, manchmal sind sie gewalttätig geworden. Es ist besser geworden, aber nicht allzu sehr. Man schweigt lieber zu solchen Sachen. Sonst kriegst du bei jedem noch so kleinen Vergehen einen Strafbericht, und der kommt in deine Akte. Wenn die Leute in der Bewährungskommission die Berichte sehen, dann verschieben sie deine Entlassung. Deshalb beschwere ich mich lieber nicht. Lieber schweige ich und komme dafür vorzeitig raus."
Eigentlich müsste Cosmin jetzt, nach dem Mittagessen, zurück in die Zelle und würde dort eingeschlossen bleiben bis zum nächsten Morgen, bis zur nächsten Grammatikstunde. Zwei, drei Mal in der Woche gibt es ein Nachmittagsprogramm, Tischtennis, Malen, Computerlehrgang, für jeweils ein bis zwei Stunden. Den Rest der Zeit hocken Cosmin und die anderen Jungen zwischen Mauern. Aber heute ist ein besonderer Tag für Cosmin. Besuchstag.
Cosmin wartet am eisernen Tor im inneren Ring des Gefängnisses. Er umarmt den Besucher, der aus Bukarest gekommen ist: den Schauspieler Constantin Lupescu, genannt Titi. Der 33jährige war letztes Jahr mit einer Gruppe von Kollegen zwei Wochen hier. Zusammen mit Jugendlichen aus dem Gefängnis spielten sie Theater. Es war die Idee eines Regisseurs, der seit langem Theaterstücke in Gefängnissen inszeniert. Titi und Cosmin spielten die Tragödie "Kinder" des englischen Dramatikers Edward Bond. Im Stück schlug Titi Cosmin mit einem Ziegelstein den Schädel ein. In der Wirklichkeit freundeten die beiden sich an.
Die beiden gehen über den Hof zum Sprechzimmer. Cosmin erzählt, dass das Essen besser geworden ist, aber sich sonst nicht viel geändert hat. Titi runzelt die Stirn, als er am Tisch sitzt. Er kommentiert es sarkastisch.
" Es ist ein armes Gefängnis in einem armen Land. Die Büros sehen inzwischen exzellent aus. Wahrscheinlich gibt es solche und solche Prioritäten. Das Problem ist: Ich glaube nicht, dass diejenigen, die hier im Gefängnis sind, wirklich die Chance bekommen, sich zu ändern. Dabei sind die meisten Jungen hier keine Bestien. Nein! Sie sind Menschen. So wie Cosmin. Es gab Augenblicke, in denen wir uns einfach nur durch Blicke verstanden haben. Er war der ehrlichste von allen. Und ich glaube, er ist einer der großherzigsten Jungs hier. Er möchte nicht etwas bekommen, damit er etwas hat. Er möchte bekommen, um zu geben."
Titi und Cosmin haben nicht viel Zeit. Eine knappe Stunde, dann ist die Besuchszeit vorbei. Die beiden sprechen über ihre gemeinsamen Erlebnisse von vor einem Jahr. Jedes Wort in dieser knappen Stunde wiegt schwer. Am Ende schauen sie sich lange schweigend an. Nach einer Weile fragt Titi: "Woran denkst du?". Cosmin schweigt. Schließlich sagt er: "Entlassung."
" Am Tag der Entlassung werde ich durchs Tor gehen und die Erde küssen. Ich werde mich freuen, dass ich hier endlich raus gekommen bin. Danach? Ich weiß nicht. Ich werde nach Hause fahren, mich ins Bett legen und an ernste Sachen denken. Daran, was ich im Leben machen will. Das Schlechteste hier ist: Die Einsamkeit und das Gefangensein. Du isst mit jemandem zusammen ein Stück Brot, du isst aus demselben Teller, du rauchst eine Zigarette mit ihm. Aber du hast nichts mit ihm gemein, nicht das Geringste. Niemand hier ist normal. Alle hier sind Kinder mit weißen Haaren."
Das waren Gesichter Europas. Ceausescus Eierdiebe. Ein Streifzug durch Rumäniens Gefängnisse. Eine Sendung von Keno Verseck. Die Textauszüge stammen aus der noch nicht übersetzten rumänischen Protokoll-Sammlung Lebenslänglich in Rahova. Einige der Musikstücke wurden gesungen von den Jungs im Jugendgefängnis in Craiova. Produktion der Sendung: Texte und Töne Berlin. Musik und Regie. Keno Verseck. Redakteurin am Mikrofon war Barbara Schmidt-Mattern.
Eines dieser Kinder ist Cosmin Craioveanu, 19 Jahre alt. Ein mittelgroßer, stämmiger Junge mit kahlgeschorenem Kopf. Er kommt aus der südrumänischen Kleinstadt Tîrgu Jiu. Seine Mutter ist Arbeiterin bei einem Straßenbaubetrieb und hatte für ihn und seine beiden Geschwister nie viel Zeit, der Vater verließ die Familie, als Cosmin zwei Jahre alt war. Nach der sechsten Klasse brach er die Schule ab und trieb sich auf der Straße herum. Sein Delikt: Diebstahl.
" Ich habe öfter gestohlen, nicht nur einmal. Eines Tages wurde ich erwischt und kam hierher. Sie haben mir viereinhalb Jahre gegeben. In einer Bar hatte ich der Kellnerin ihr Portemonnaie gestohlen. Ich kam hierher, da war ich siebzehn. Jetzt habe ich noch zehn Monate, dann komme ich vor die Bewährungskommission. Am Anfang war das Gefängnis für mich nur eine kleine Einschränkung meiner Freiheit. Ich konnte nicht mehr einfach alles machen, was ich wollte. Inzwischen habe ich begriffen, was Gefängnis bedeutet. Es ist hart hier, ziemlich hart."
Und, was genau ist so hart hier? Cosmin blickt zum Wärter, der mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnt, und beißt sich verschämt lächelnd auf die Lippen. Der Wärter lächelt nicht, er blickt starr zurück. Die Stimmung in der Zelle gefriert, Cosmin schweigt.
Cosmin vormittags beim Rumänischunterricht. An der Tafel steht der Satz: "Der fleißige Schüler macht seine Hausaufgaben." Der Lehrer, Dumitru Dan, übt Grammatik, Cosmin soll Substantiv, Adjektiv und Verb des Satzes benennen. Im Klassenzimmer sitzen noch zwei andere Jungen. Sie sind Analphabeten, der Lehrer ignoriert sie. Dumitru Dan ist 59 Jahre alt. Seit dreißig Jahren unterrichtet er junge Straftäter, bald geht er in Rente. Seine Grammatikstunde wirkt, als wolle er sich seiner eigenen Kenntnisse vergewissern. Cosmin versteht wenig von Grammatik, aber er arbeitet fleißig mit, sonst schreibt der Lehrer negative Berichte über ihn.
Mittagessen im Speisesaal. Es gibt Bohnensuppe und Kartoffeln in Fleischsoße. Die Wärter stehen am anderen Ende des Saales, jetzt können sie Cosmin nicht mehr hören.
" Früher haben sie uns beschimpft und beleidigt, manchmal sind sie gewalttätig geworden. Es ist besser geworden, aber nicht allzu sehr. Man schweigt lieber zu solchen Sachen. Sonst kriegst du bei jedem noch so kleinen Vergehen einen Strafbericht, und der kommt in deine Akte. Wenn die Leute in der Bewährungskommission die Berichte sehen, dann verschieben sie deine Entlassung. Deshalb beschwere ich mich lieber nicht. Lieber schweige ich und komme dafür vorzeitig raus."
Eigentlich müsste Cosmin jetzt, nach dem Mittagessen, zurück in die Zelle und würde dort eingeschlossen bleiben bis zum nächsten Morgen, bis zur nächsten Grammatikstunde. Zwei, drei Mal in der Woche gibt es ein Nachmittagsprogramm, Tischtennis, Malen, Computerlehrgang, für jeweils ein bis zwei Stunden. Den Rest der Zeit hocken Cosmin und die anderen Jungen zwischen Mauern. Aber heute ist ein besonderer Tag für Cosmin. Besuchstag.
Cosmin wartet am eisernen Tor im inneren Ring des Gefängnisses. Er umarmt den Besucher, der aus Bukarest gekommen ist: den Schauspieler Constantin Lupescu, genannt Titi. Der 33jährige war letztes Jahr mit einer Gruppe von Kollegen zwei Wochen hier. Zusammen mit Jugendlichen aus dem Gefängnis spielten sie Theater. Es war die Idee eines Regisseurs, der seit langem Theaterstücke in Gefängnissen inszeniert. Titi und Cosmin spielten die Tragödie "Kinder" des englischen Dramatikers Edward Bond. Im Stück schlug Titi Cosmin mit einem Ziegelstein den Schädel ein. In der Wirklichkeit freundeten die beiden sich an.
Die beiden gehen über den Hof zum Sprechzimmer. Cosmin erzählt, dass das Essen besser geworden ist, aber sich sonst nicht viel geändert hat. Titi runzelt die Stirn, als er am Tisch sitzt. Er kommentiert es sarkastisch.
" Es ist ein armes Gefängnis in einem armen Land. Die Büros sehen inzwischen exzellent aus. Wahrscheinlich gibt es solche und solche Prioritäten. Das Problem ist: Ich glaube nicht, dass diejenigen, die hier im Gefängnis sind, wirklich die Chance bekommen, sich zu ändern. Dabei sind die meisten Jungen hier keine Bestien. Nein! Sie sind Menschen. So wie Cosmin. Es gab Augenblicke, in denen wir uns einfach nur durch Blicke verstanden haben. Er war der ehrlichste von allen. Und ich glaube, er ist einer der großherzigsten Jungs hier. Er möchte nicht etwas bekommen, damit er etwas hat. Er möchte bekommen, um zu geben."
Titi und Cosmin haben nicht viel Zeit. Eine knappe Stunde, dann ist die Besuchszeit vorbei. Die beiden sprechen über ihre gemeinsamen Erlebnisse von vor einem Jahr. Jedes Wort in dieser knappen Stunde wiegt schwer. Am Ende schauen sie sich lange schweigend an. Nach einer Weile fragt Titi: "Woran denkst du?". Cosmin schweigt. Schließlich sagt er: "Entlassung."
" Am Tag der Entlassung werde ich durchs Tor gehen und die Erde küssen. Ich werde mich freuen, dass ich hier endlich raus gekommen bin. Danach? Ich weiß nicht. Ich werde nach Hause fahren, mich ins Bett legen und an ernste Sachen denken. Daran, was ich im Leben machen will. Das Schlechteste hier ist: Die Einsamkeit und das Gefangensein. Du isst mit jemandem zusammen ein Stück Brot, du isst aus demselben Teller, du rauchst eine Zigarette mit ihm. Aber du hast nichts mit ihm gemein, nicht das Geringste. Niemand hier ist normal. Alle hier sind Kinder mit weißen Haaren."
Das waren Gesichter Europas. Ceausescus Eierdiebe. Ein Streifzug durch Rumäniens Gefängnisse. Eine Sendung von Keno Verseck. Die Textauszüge stammen aus der noch nicht übersetzten rumänischen Protokoll-Sammlung Lebenslänglich in Rahova. Einige der Musikstücke wurden gesungen von den Jungs im Jugendgefängnis in Craiova. Produktion der Sendung: Texte und Töne Berlin. Musik und Regie. Keno Verseck. Redakteurin am Mikrofon war Barbara Schmidt-Mattern.
Literatur:
Eugen Istodor (Hg.), Lebenslänglich in Rahova. Bekenntnisse von lebenslang Verurteilten. Editura Polirom, Bukarest, 2005, Übersetzung (exklusiv für DLF): Keno Verseck, 114 Zeilen