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Celebration

"BAM BAM BAM." Den Schlachtruf kennen wir doch. Der Beat ist vermutlich die kürzeste Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Wir leben zwar mit der Gegenwart, doch nur für Momente auch in ihr. Die Gegenwart zu erreichen, ist so schwer wie irgendein anderes Ziel, das außerhalb von uns liegt - und zweifellos liegt die Gegenwart außerhalb von uns, nämlich vor uns, ungreifbar, nahezu unerreichbar. Die Gedanken und Gefühle, die wir haben, die Vorstellungen, die Selbst- und die Weltbilder, sind Produkte einer Zeit, die immer schon vergangen ist, sind Vor-Urteile im wortwörtlichen, im zeitlich-chronologischen Sinn: Urteile, die wir gefällt haben, bevor uns die Gegenwart zu erreichen vermochte. Das hat seinen Grund darin, daß wir sprachlich verfaßt sind, und als reflexives Medium bezieht sich Sprache naturgemäß immer auf das, was bereits vorbei, was gerade eben, vor ein paar Tagen oder vor Jahren passiert ist.

Thomas Palzer |
    "Heute Morgen" ist das fünfte Buch des Autors Rainald Goetz betitelt: "Heute Morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe". Ein ungewöhnlicher Titel - ein Titel, aus dem vage ein Versprechen herauszuhören ist - das Versprechen nämlich, die Schrift trotz ihres Status des ex post näher an das Leben heranzuführen - an den taubesetzten Morgen des Heute gewissermaßen -, so nah, dürfen wir vermuten, daß die Sätze fast die Gegenwart berühren, jenes numinose, sprachlich uneinholbare Jetzt. Zitat, wir erinnern uns: "Bum, Bum, Bum."

    Eine Geschichte der Gegenwart soll das Ganze, laut Klappentext, ja sein, dieses fünfte, vielfach zersplitterte, zehnteilige Werk, das erst allmählich sein Gesicht preisgibt und das als Theaterstück daherkommt, als Erzählung, als CD-Rom, als Internet-Tagebuch, als Poetikvorlesung, als Serie von sieben Interviews. Und nun eben auch das Buch "Celebration" - als Sammlung von Texten, die alle schon mal woanders erschienen sind, in "Tempo", in "Frontpage", im "Zeit-Magazin", im Berliner "Tagesspiegel", in "Texte zur Kunst" beziehungsweise "Fama und Fortune" (falls es dieses Ding so, wie von Goetz angegeben, überhaupt gibt), bei Merve. Zu den Texten hinzugekommen sind Bilder: Schnappschüsse aus dem Nachtleben und aus dem Privatarchiv des Autors, Ausschnitte, die einer Anzeigenkampagne des Fernsehsenders MTV entstammen, Reproduktionen von Zeitungsseiten und ähnliches. Insgesamt sind es acht, von mehrseitigen Bildstrecken kommentierte, reflektierte, orchestrierte Texte, aus denen "Celebration" besteht - darunter zwei Interviews und ein langes Gespräch mit dem Maler Albert Oehlen, das als zentral betrachtet werden kann, geht es darin doch um grundsätzliche Fragen der Kunst - darum, wie es nach ihrem "Ende" weitergeht, weitergehen soll. Ist Goetz, wie er im Waschzettel zur Genese von "Celebration" anmerkt, bezüglich der Literatur auf der Suche nach einem Buch, das man "eigentlich nicht mehr lesen muß, in dem man bißchen blättert, das einen angenehm anweht". Und - fertig, sind seine Forderungen in Sachen Kunst beziehungsweise Malerei, wie wir aus dem Gespräch mit Oehlen erfahren, um einiges rigider: "Ich will in der Kunst auf eine ganz blöde Art Scheißthemen."

    Goetzens Verhältnis zur Literatur ist ambivalent. Alles, was ihrem Begriff traditionellerweise anhaftet - Urteil, Differenzierung, Anstrengung, Ironie -, wehrt er mit einer Geste ab, die dem antiliterarischen Affekt der Unterhaltungskultur scheinbar beipflichtet. Goetz, möchte ich vermuten, haßt, altmodisch gesprochen, die Literatur, doch er liebt die Dichtung.

    Sein Schreibwille regeneriert sich in dem unermüdlichen Versuch, die Schrift bis an ihre Grenzen zu führen - darüber hinaus bis zu dem Punkt, an dem sie sich selbst aufhebt, an dem sie "lyrisch" wird, Musik. Es ist gerade das kritisch-distanzierende, alle Schrift im Kern markierende Moment, was der Autor zu überwinden trachtet: Deshalb sucht er - daher sein ausgestelltes Fantum für Musik - auch die Nähe zur Malerei, zur "Schmiererei": Ein Bild ist immer Propaganda, ist unfähig zur Kritik. Dazu später mehr.

    "One Love, one World. Peace on Earth. Planet Love. We are one Family. Friede Freude Eierkuchen. Let the sun shine in your heart."

    Die großen, simplen Predigten des Dr. Motte, über die sich halbschlaue Kritiker besonders gern lustig gemacht haben, hatten nicht nur wirklich Licht und Ausstrahlung für sich, sondern vor allem diesen einen wunderbaren Sinn. Nichts und niemanden auszuschließen, außer eines, den Ausschluß.

    "So kamen von allen Seiten immer mehr neue Leute herbei, um mitzufeiern. Immer Jubelhochamt, Kirche der Ununterschiedlichkeit. Bum, Bum, Bum." Wie bitte? "BAM BAM BAM."

    "Celebration" zelebriert die Nacht - anders natürlich, als das die Romantik getan hat, aber durchaus in deren Geist. "90s Nacht Pop" steht auf dem Schutzumschlag programmatisch zu lesen. Die Nacht ist für den Autor Goetz in mehrfacher Hinsicht ausgezeichnet: Einmal ist sie der Ort, an dem sich die 90er Jahre plötzlich und überraschend ereignet haben: nämlich "zu Beginn der Mitte" des Jahrzehnts. Was da damals dauernd erlebt wurde, steht aber jetzt am Ende der 90er Jahre, als Erlebtes vor Augen - und in dieser Bewußtwerdung, dieser Aufspaltung des Erlebens vom dem, der erlebt hat, in dieser sozusagen spirituellen Korrosion liegt zugleich das Moment der Krise beschlossen, die Nötigung, in Sprache umzusetzen, was außerhalb ihrer, was, wenn man so will, vorsprachlich geschehen ist. Es beginnt somit "die Arbeit am Text", wie Goetz in seiner typischen, die Produktion romantisierenden Diktion schreibt.

    Zum anderen steht die Nacht bei Goetz für die Auslöschung der Individualität, für das Verschmelzen mit der "Masse", die sich allabendlich im Nachtleben organisiert. Die Nacht macht die Unterschiede unkenntlich - und stellt damit den radikalen Gegenentwurf dar zu einer Welt, deren von ökonomischen Interessen diktiertes Gesetz da lautet, Lebensstile immer noch weiter auszudifferenzieren. Dazu Goetz in einem Interview mit "Texte zur Kunst"-Herausgeberin Isabelle Graw, die ihm prompt - nach altbewährtem, "kritischen" Denkmuster - Verherrlichung und mythische Überhöhung des Masse-Begriffs unterstellt: "Die Masse, lächerlich. Was ist das überhaupt für ein Wort! Alles was im Zusammenhang damit dauernd gemeldet wird, ist Unsinn. Und die politische Fetischisierung des Begriffs ist immer reaktionär, hat Entschuldigungsfunktion für reale ganz konkrete, einzelne Verbrechen, die von konkreten, einzelnen Tätern begangen wurden, nicht von einem Kollektiv. ... Meine Argumentation sagt ja: jeder ist eh schon so in sich ruhend Individuum, so sehr anders als alle anderen, daß er sich nicht primär danach sehnt, sich zu unterscheiden von allen, sondern umgekehrt: mit ihnen eins zu sein. Auch aus diesem Impuls heraus lebt dieses ganze Technoding, mit seinen Kollektivexzessen.

    Im Juli 1997 publizierte Rainald Goetz im "Zeit-Magazin" einen Text mit Signalwirkung - Titel: "Love-Parade - Das Kapital des Glücks und seine Politik". Der findet sich, logisch, auch in "Celebration" abgedruckt. Darin geht es um die Kritik, genauer: um Kritik an der Kritik. Heute, sagt Goetz, nennt sich das, was jahrhundertelang Glaube geheißen hatte, Kritik. Kritik erhebt Anklage gegen Spaß, Glück, gegen den Aufmarsch der Affirmation, gegen Körper, gegen Sex. Anklage erhebt sie dabei allein dadurch, daß sie spricht (zum Beispiel von der Erfahrung), daß der Ort der Kritik die Sprache ist, die Erinnerung; daß die Repräsentanz Vorrang gewinnt vor der Präsenz, die Geschichte vor der Gegenwart. Gemeint ist folglich eine Sprache, die, weil sie in jedem Rave sofort jubilierende BDM-Mädchen wiedererkennt, jegliches Augenmaß verloren und die Instrumente der Kritik fetischisiert hat, jene Sprache, deren Argumente inzwischen zur bloßen Attitüde verkommen sind - so oft wiederholt, daß sie verbraucht, falsch, unsinnig sind. Salopp würde ich sagen: Die Sprache der Kritik nach dem Zweiten Weltkrieg plus aller kritischen Sprachen, die davon abkünftig sind, die Sprache der 68er und die Sprache der Wohlfahrtsausschüsse beziehungsweise der sogenannten Repolitisierung in den frühen 90ern. Alle Sprachen, die eine Front aufmachen, könnte man auch sagen. Die da jeweils kursierenden Argumente sind sich nämlich darin kongruent, daß sie behaarlich die Vergangenheit gegen die Gegenwart ausspielen. Das ist der linke bundesrepublikanische Konsens: Eine Identitätspolitik zu betreiben, die abstreitet, eben das zu tun, aber in Wahrheit Identität unentwegt herstellt, in dem sie sich zwanghaft rückbezieht auf den Holocaust und - nur darauf. Vermutlich habe ich das jetzt mehr im Sinne von Martin Walser als im Sinn von Rainald Goetz ausgedrückt: Aber es gibt Ähnlichkeiten.

    Auf die auf die Love-Parade automatisch erfolgende Anklage des Staatsanwalts, der "das Reich einer besseren Welt vertritt, die da dereinst kommen wird." Auf die im gesamten linken Spektrum sowie im bürgerlichen Lager bimmelnden Alarmglocken, läßt Goetz die Angeklagten wie folgt reagieren:

    "Die Antwort waren Bilder. Die Bilder zeigten immer wieder ähnlich die Gesichter einzelner Menschen, die inmitten vieler anderer etwas Schönes zu erleben schienen. Jeder, der das sah, fragte sich unweigerlich: was machen die da? Warum schauen die so aus, als würden sie ... was ist denn das? Man sah ein Geheimnis. Die Ahnung einer Vision von irgendwas? Man sah die Bilder, Träger einer nicht erkennbaren Idee, von innen her bewegt von was Bewegtem. Das war die Musik. Ein Beat, der die vielen vielen versetzt synchron bewegte, der Herzschlag, pumpend, für ein ganzes Kollektiv. Und jeder einzelne von diesen vielen war ganz offensichtlich vollkommen beglückt, dabei zu sein, gemeinsam mit den anderen der vielen gleichzeitig was Gleiches zu erleben."

    "Celebration" habe ich, nachdem ich es gelesen habe - irgendwie freundlich beglückt -, versuchsweise mal neben die "Nachtwachen des Bonaventura" gestellt. Sieht ganz gut aus.