Vielleicht wäre es vermessen zu sagen, es gäbe einen Gruseltourismus zu Bieito-Stücken - dass etliche auch spanische Fans im nicht übermäßig zahlreichen Publikum saßen, war aber nicht zu überhören. Oder kamen die übertrieben lauten Lacher aus den Reihen der Nervösen, die trotzdem dabei sein wollten bei Fernando de Rojas, des spanischen Shakespeares, 1499 von einem Deutschen erstmals publizierten Werk und seinem einzigen ? Dabei war es noch nicht einmal das Eigene des Rechtsstudenten gewesen, nur die Ergänzung eines anonymen Textes über Calisto und Malibea, zwei reiche Twens auf der Suche nach Liebe. Die natürlich unglücklich ist, weil Malibea keinen Bock auf Calisto hat. Einzig die alte Celestina, Zuhälterin und Kupplerin könnte noch helfen.
Seit seinem überraschenden Erfolg in Edinburgh mit Calderon de la Barcas Life is a Dream 1998, bringt Calixto Bieito mehr spanische Nationalwerke nach England als je zuvor und deren Unbekanntheit zwingt ihn, so sagt er, seinen Hang zur Dekonstruktion wie beim Hamlet oder Il Trovatore beiseite zu legen. Bieito dem Traditionalisten liegt der Inhalt des 500 Jahr alten Stücks diesmal mehr am Herzen als jede Provokation. Was nicht heißt, dass Celestina, die Kupplerin in Renaissancetracht daherkommt, nein, die verwachsene kahl geschorene Übermutter einer Reihe leiblicher und angenommener Kinder, humpelt unter spanischen Rumba-Klängen in der rauchigen Kneipe umher im braunen Männeranzug.
Celestina hält die eiserne Hand über ihre Jungs wie Calisto, der so gern einmal nicht nur seinen Adonis-Körper hätte sondern Malibea, eine Nutte in roter Lederjacke und Minirock. Ab und an hilft Calisto zwar nach wenn einer ihrer Jungs ein Problem beim Onanieren hat, aber Calisto reicht das nicht. Also wird eine Session angesetzt, eine schwarze Messe mit Hühnerschlachten, kryptischen Lauten, Blut als Weihwasser und dem Phallus als Ersatzgott: ein sarkastischer Seitenhieb des Regisseurs Richtung Kirche.
Doch da ist noch jemand. Ein minderbemitteltes Mädchen mit rosa Rucksack, das all die unflätigen Ausdrücke, die obligatorischen Sexszenen und gezückten Pistolen jammernd kommentiert, ein beeindruckendes Spiegelbild der Zuschauer, die der Realität nicht ins Auge blicken wollen, wie Bieito immer meint.
Die Realität in neuesten Werk ist erträglich, ja erstaunlich friedlich, obwohl Celestina von ihrem Sohn umgebracht wird, Calisto seine Angebetete angewidert nach der ersten Nacht verlässt und sie daraufhin Selbstmord begeht.
Dass wie in jeder Familie ab und an die Fetzen fliegen, die bei rauhen Sitten schnell lebensgefährlich werden können, erschüttert nicht. All die bekannten zuverlässigen Schockerszenen wie naturnahes Bumsen mit nachfolgendem Abwischen, angedrohte Kopfschüsse, körperliche Gewalt sind nur Beiwerk, hinter das man schauen muss, um den Abend nicht langweilig zu finden. Zum Beispiel ganz zum Schluss der zweieinhalb Stunden ohne Pause: In dieser letzten halben Stunde regiert die Sprache auf der fast leeren Bühne, der Monolog des auftauchenden Vaters von Malibea über Jugend, Altern und Sterben am Bett seiner toten Tochter – das hat etwas berührend verletzliches der ganzen Geschichte. Schnell konterkariert Bieito diesen Ernst aber wieder mit seichten Rumba-Klängen:
Natürlich kann die englische Celestina, in der Übersetzung von John Clifford, der Spanischen nicht gleich sein, aber die Botschaft bleibt: Bieito will nicht die Sinne terrorisieren , worauf den ganzen Abend lang gewartet wurde, seine fast theologische Moral, und die ließ den Festivalleiter Brian McMaster in diesem Jahr wieder auf Bieito zurückgreifen, ist bei Celestina trotz aller Verbalattacken deutlicher denn je geworden: Jeder ist für sich selbst verantwortlich.