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Céline Minard: "Das große Spiel"
Ein metaphysisches Experiment

Eine Hightech-Hütte hoch in den Bergen - dahin hat sich eine Frau allein zurückgezogen. Sie will nichts Geringeres als ihre Identität verlieren. Wie macht man das? Ein atemberaubendes philosophisches Spiel beginnt.

Von Walter van Rossum | 26.07.2018
    Buchcover: Céline Minard: "Das große Spiel" und karge Alpenlandschaft
    Aussteigerabenteuer in den Bergen (Buchcover: Matthes & Seitz Verlag, Foto: Gerda Bergs)
    Dünne Luft da oben. Wo immer sie liegen mögen diese Berge, sie sind hoch und erheben sich fern aller Zivilisation. Unterhalb der Gipfel hatte man eine Hightech-Hütte in den Fels gebaut – die Einzelteile kamen per Hubschrauber. Ein kleines Wunder der Survivalindustrie, ausgestattet mit hochleistungsfähigen Fotovoltaikpaneelen, Sanitärmodulen und bester Energieeffizienz. Diese Wohnkapsel trotzt jeglichem Wetter und Temperaturen bis minus 40 Grad. Sie beherbergt eine Ausstattung, mit der man jahrelang in diesem schwer zugänglichen Gebiet überleben könnte.
    Erst nach etlichen Seiten überrascht die Erkenntnis, dass eine Frau diese Extrem-Eremitage hat errichten lassen und bewohnt. Sie ist die Ich-Erzählerin und die Sprache ihrer Erzählung lässt keinen Raum für Genderstoff. Eine streng funktionale Berichtssprache, die das sorgfältig methodische Verhalten der Erzählerin wiederspiegelt. Sie legt einen kleinen Garten an, und sondiert auf strapaziösen und riskanten Touren Grenzen und Beschaffenheit ihres offenbar riesigen Grundstücks. Die kühlen und manisch präzisen Aufzeichnungen enthalten sich aller emphatischen Äußerungen. Keine Ahnung wie sich die namen-und herkunftslose Eremitin fühlen mag. Kämpft sie gegen die Einsamkeit, genießt sie die grandiose Kulisse, eine Welt ohne Menschen? Was bewegt sie eigentlich? Nach und nach erfahren wir: Es geht um ein von langer Hand aufwendig geplantes Experiment. Und es hat nichts Geringeres zum Ziel als eine Verwandlung: Sich zu vergessen, um ein anderer, anders, zu werden.
    "Die äußeren Bedingungen, die Höhe, das Klima, die Abgeschiedenheit waren als Bestandteil ihrer Funktion (Schutz bieten) maßgeblich bei der Ausarbeitung ihrer Form beteiligt. ( …) Wenn es für diesen Raum eine Ästhetik gibt, dann die des Überlebens. Wenn es eine Entscheidung gibt, dann meine Entscheidung, mich unter schwierigen Bedingungen niederzulassen. In völliger Autonomie. In Sicherheit. (...) Diese Welt der Abgeschiedenheit, der Leere, der großen Kälte, der bleiernen Hitze, des harten Felsens, der Stille und der Schrei der Tiere lässt einem kaum eine Wahl. Sie ist ein genauer Lotse."
    Exstase der Selbstvergessenheit
    Ein Plan, der über die Welt der Pläne hinausführen soll. Der Erzählerin werden wir nie ansichtig, wir erfahren nicht, was sie antreibt. Wie es zu diesem Entschluss gekommen sein mag. Sie will sich ja nicht verorten, sie will sich vergeuden. Es geht nicht um Befindlichkeiten, nicht um ein raffiniertes Aussteigerabenteuer. Es handelt sich um ein philosophisches Experiment – wie es vielleicht noch keines gab.
    Von Zeit zu Zeit unterbricht die Erzählerin ihren atemberaubend distanzierten Bericht und verfällt in eine Art Selbstgespräch, ohne dass die Sprachtemperatur dabei merklich stiege. Sie sinniert, wie die Ekstase der Selbstvergessenheit zu erreichen sei und welche Tücken, es zu überwinden gilt.
    Céline Minard erzählt die Geschichte so, dass der Leser unweigerlich in dieses so grandiose wie aberwitzige Experiment hineingezogen wird. Der Selbstversuch ergreift uns in seiner ganzen Unbegreiflichkeit. Die Wildnis wächst in uns. Die Größe des Projekts fasziniert mehr als die Unbehaglichkeit des Szenarios stören könnte.
    "Ein heftiges Gewitter ist in der Nacht ausgebrochen. Zuerst habe ich durch den Stahl, der meine Behausung im Felsen verankert, gespürt, dass die Erde bebte, ohne zu wissen, ob es am Klang oder am Blitz lag. Dann habe ich die Hitze der natürlichen Elektrizität im Schaltkreis meiner Fasern gespürt. Und im nächsten Moment habe ich das Tal gesehen, das heller erleuchtet war als am Tage, in fortgesetzten Wogen, weiße, blaue, eisige, mächtige Wogen. Bevor das Wasser fiel, hatten die Blitze bereits die Wiese verschlungen, sie zerfetzt, und die Nacht wie ein schmutziges Laken abgezogen, die Grenze zwischen Himmel und Erde aufgehoben und den See aufgesogen."
    Der chinesische General
    Auf ihren Streifzügen entdeckt die Frau irgendwann eine Art Hochstand in den Bäumen, sonderbarer Hinweis auf die ihr längst entrückte Welt. Wenig später stößt sie auf eine Hütte im Wald. Vor der Hütte steht eine Bank und auf der Bank liegt eine Art Wollhaufen. Und aus diesem Wollhaufen winkt plötzlich und ganz kurz eine dürre Hand. Der Nagel des Zeigefingers dieser Hand misst etwa 20 cm. So beginnt eine Beziehung, die alle sagenhaften Konstellationen übertrifft. Wen die Erzählerin erst für einen Mönch hält, enthüllt sich später als eine Frau, die erklärt ein chinesischer General auf Abwegen zu sein. Dongebin ihr Name. Erleuchtet und durchgeknallt. Rätselhaft und voller ungeahnter Fähigkeiten. Es entsteht eine kryptische Beziehung zwischen den beiden Frauen. Unwahrscheinlich und doch vage plausibel. Ihre magische Kommunikation verhext auch den Leser. Je mehr er den beiden Frauen folgt, verlässt er die Pfade tugendhaften Begreifens. Allmählich ahnt die Erzählerin, dass Dongebin eine Gestalt ihres Projekt ist: ein von sich befreiter Mensch, von Un-Sinn erleuchtet. Die umgekehrte Paradoxie unserer Normalität: Wir alle leben, als könnten wir gewinnen. Mit verbissener Intelligenz vergessen wir, dass wir nie mehr gewesen sein werden als ein Sandkorn in einem immensen und vollkommen gleichgültigen Universum. Unsere Welt steckt voller Imperative, die Rettung verheißen und niemanden je gerettet haben, und denen wir dennoch aufs Wort gehorchen.
    Über allen Gipfeln
    Der Philosoph Martin Heidegger hat das die Seinsvergessenheit genannt. Indem wir uns an die Verrichtungen des Realen verlieren, haben wir das Eigentliche aus den Augen verloren. Allein, das Eigentliche ist kein Gott, kein Ding, keine Instanz und keine Rettung. Es ist das Andere, dem wir weder Kontur noch Namen geben können, ohne es preiszugeben. Man spürt es in gewissen Exerzitien und Ekstasen. Diesen Weg geht die Erzählerin. Gelegentlich liest sie in einem Buch, dessen etwas altertümliche Sprache sie in ihre Sprache übersetzt. Man ahnt, dass es sich um ein Buch von Heidegger handelt. Und für seine altertümliche Sprache haben jüngere französische Philosophen längst einen neuen Sound gefunden. Der Jargon der französischen Postmoderne scheint die Eremitin noch ins Exil zu begleiten. Leider möchte man sagen. So bindet Céline Minard ihrem grandiosen Roman gelegentlich an einen Diskurs, der nicht in die Wildnis passt, in die ihr atemberaubender Roman weit vordringt.
    Céline Minard: "Das große Spiel". Roman
    aus dem Französischen von Nathalie Mälzer
    Matthes & Seitz Verlag, Berlin. 186 Seiten, 20 Euro.