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Cembalo-Klassiker im Dialog
Scarlatti und Ligeti

Justin Taylor, das junge französische Tastenwunder, überzeugt mit seiner neuen CD "Continuum". Er kombiniert darauf zwölf Sonaten von Domenico Scarlatti mit drei Cembalo-Kompositionen von György Ligeti. Und plötzlich verschwimmen die Grenzen zwischen Barock und Neuer Musik.

Am Mikrofon: Bernd Heyder | 24.06.2018
    Der Cembalist Justin Taylor
    Der Cembalist Justin Taylor (Jean-Baptiste Millot)
    Auf Englisch nennt man das Cembalo "Harpsichord", denn wie bei der Harfe werden hier die Saiten angerissen, um zum Klingen gebracht zu werden. Dafür sorgen Federkiele, die man über die Tasten in Bewegung setzt. Egal, wie stark man die Taste anschlägt und wie lange man sie gedrückt hält: der Ton klingt in derselben Lautstärke und verklingt nach kurzer Zeit. Das war einer der Gründe, aus denen man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, im Zeitalter der Empfindsamkeit, unter den Klavierinstrumenten mehr und mehr dem neu entwickelten Hammerflügel den Vorzug gab. Auf ihm können die Saiten unterschiedlich stark angeschlagen werden und länger schwingen und klingen.
    Eindruck lang anhaltender Klänge
    Die Cembalospieler haben aber zu allen Zeiten Mittel und Wege gefunden, um auch auf ihrem Instrument die Imagination lang anhaltender und weit ausschwingender Klänge zu erwecken. Das führt jetzt Justin Taylor auf frappierende Weise in Werken zweier der größten Cembalo-Komponisten ihrer Epochen vor: Domenico Scarlatti und György Ligeti. "Continuum" ist der bezeichnende Titel seiner neuen CD.
    Musik: Domenico Scarlatti, Sonata d-Moll K. 141
    Mit der Sonate d-Moll Kirkpatrick-Verzeichnis 141 eröffnet Justin Taylor seine neue CD "Continuum". Für die Kontinuität der Melodielinie sorgen da beeindruckend schnelle Tonrepetitionen. Sie geben dem ganzen Stück eine außergewöhnliche Intensität, die durch die ansteigend modulierenden Harmonien noch stärker wirkt.
    Italienischer Jahrgangsgenosse von Bach und Händel
    Domenico Scarlatti teilt mit Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel das Geburtsjahr 1685 und außerdem die besondere Virtuosität am Tasteninstrument. Von Rom aus ging der gebürtige Neapolitaner 1719 nach Lissabon – wohl nicht zuletzt, um sich von seinem Vater Alessandro Scarlatti abzusetzen, der vor allem als Opernkomponist berühmt war. Am portugiesischen Königshof war Domenico unter anderem der Musiklehrer der Infantin Maria Barbara. 1729 heiratete sie mit 18 Jahren den spanischen Infanten Ferdinand, und Scarlatti wechselte mit ihr, der zukünftigen spanischen Königin, nach Madrid, wo er 1757 auch verstarb.
    555 Tastensonaten listet das Scarlatti-Werkverzeichnis auf, das der Cembalist Ralph Kirkpatrick 1953 vorgelegt hat. Diese Stücke zeigen wechselnde Formen und Charaktere, aber fast durchweg hohe spieltechnische Ansprüche. Sie markieren eine späte Blüte der barocken Tastenkunst an der Stilwende zur Klassik.
    Zwölf der 555 Sonaten hat Justin Taylor für seine Aufnahme ausgewählt. Ganz im Sinne des Komponisten setzt er dabei Stücke mit kontrastierendem Charakter nebeneinander.
    Musik: Domenico Scarlatti, Sonata d-Moll K. 32
    Als "Aria" hat Domenico Scarlatti diese d-Moll-Sonate überschrieben – die Nummer 32 im Kirkpatrick-Verzeichnis. Entsprechend gesanglich gestaltet sie Justin Taylor auf seinem zweimanualigen Cembalo. Es ist die moderne Kopie eines wertvollen Originals, das Andreas Ruckers schon 1636 in Antwerpen fertigte und Henri Hemsch 1763 in Paris nach dem damaligen Geschmack erweiterte. Diese Zusammenhänge sind im Beiheft leider nicht klar dargestellt, da findet man nur rudimentäre Namens- und Jahres-Angaben zum Instrument.
    Mit dieser Aufnahme legt Justin Taylor seine dritte CD vor – keine drei Jahre, nachdem er im Alter von 22 den ersten Preis, den Publikumspreis und noch zwei Sonderpreise beim renommierten Wettbewerb "Musica antiqua" im Brügge gewann. Der junge französische Cembalo- und Hammerflügel-Künstler mit amerikanischen Wurzeln ist ein Phänomen. Sein Spiel wirkt nicht nur technisch über jeden Zweifel erhaben, es strahlt gleichzeitig eine große emotionale Reife und Tiefe aus. Selbst in den schnellsten Sätzen lässt sich Taylor nicht zu reinem Passagenwerk hinreißen, immer wieder fließen kleine Rubati und Zäsuren in sein Spiel ein. So gliedert er die musikalischen Verläufe sinnfällig, und er lässt auch den herrlichen Klangfarben seines Instrumentes entsprechend Raum zur Entfaltung. Bei aller Virtuosität: Die Musik atmet.
    Früchte der Cembalo-Renaissance im 20. Jahrhundert
    Nicht zuletzt überzeugt Taylor aber mit seiner Programmzusammenstellung. Denn er bringt Scarlattis Sonaten-Kosmos in den Dialog mit dem Cembalowerk eines großen Komponisten des 20. Jahrhunderts: György Ligeti. Der ungarische Kosmopolit, der sich auch musikalisch als Wanderer zwischen den Welten sah, kam 1923 im rumänischen Siebenbürgen zur Welt und starb 2006 in seiner Wahl-Heimat Wien.
    Seiner Faszination für das Cembalo, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine große Renaissance erfahren hatte, verdanken wir drei jeweils knapp fünfminütige Kompositionen. In der Aufnahme von Justin Taylor begegnen sie dem Zuhörer als anspielungsreiche Intermezzi zwischen den Scarlatti-Sonaten. Wer beim Anhören der CD nicht die Stückfolge im Blick hat, könnte am Beginn des ersten Ligeti-Stücks, der "Passacaglia ungherese", erst einmal denken, einer fugierten Scarlatti-Sonate zu lauschen.
    Musik: György Ligeti, Passacaglia ungherese
    Das vermeintliche Fugenthema offenbart sich im Verlauf dieser Komposition von 1978 aber doch als kontinuierlich wiederkehrendes Ostinato-Motiv, wie es ähnlich schon in Passacaglia-Kompositionen des 17. oder 18. Jahrhunderts zu finden ist. Ligetis Anspielungen auf die Barockzeit gehen aber noch weiter: Er verlangt hier eine mitteltönige Cembalo-Stimmung, in der einige Terzklänge außergewöhnlich eng oder außergewöhnlich weit angelegt sind. Das intensiviert die Farbigkeit dieser Musik.
    Kontinuitäten und Brüche
    Ligeti dürften beim Komponieren 1978 die Cembalo-Neuentwicklungen des 20. Jahrhunderts vor Augen und Ohren gestanden haben. Sie weisen konstruktive Elemente aus dem modernen Klavierbau auf und bieten vielfältige Registriermöglichkeiten. Man kann sie als die adäquaten Original-Instrumente für die Cembalomusik des 20. Jahrhunderts ansehen. Ob auch Taylors Cembalo nach altflämisch-französischer Tradition den Klangvorstellungen Ligetis nahekommt, sei dahingestellt. Seine besondere Sonorität verleiht der Musik jedenfalls eine eigene sinnliche Qualität.
    Musik: György Ligeti, Passacaglia ungherese
    Wenn Justin Taylor auf seiner neuen CD die Cembalomusik von Ligeti mit älterem Tasten-Repertoire verbindet, ist er in guter Gesellschaft. Auf einer CD, die 2014 erschien, hat sein acht Jahre älterer Kollege Mahan Esfahani die drei Ligeti-Werke mit Kompositionen von Bach und William Byrd kombiniert. Während Esfahani die Musik von Byrd bis Ligeti aber in der Reihenfolge ihrer Entstehung vorstellt, integriert Taylor die modernen Stücke an verschiedenen Stellen in die Abfolge der Scarlatti-Sonaten. Es geht ihm eben, wie er in seinem lesenswerten Beihefttext formuliert, um "einen neuen Dialog zwischen diesen beiden schwer einzuordnenden Persönlichkeiten."
    Tatsächlich glaubt man in der Scarlatti-Sonate D-Dur Nummer 492 Motive aus dem zuvor gehörten Ligeti-Stück wiederzufinden. Diese Chaconne "Hungarian Rock" hat Ligeti wie die "Passacaglia ungherese" 1978 komponiert. Damals diskutierte er mit seinen Studenten an der Hamburger Musikhochschule über die Bedeutung der aktuellen Rock- und Popmusik, und das hört man dem Stück auch an.
    Musik: György Ligeti, Hungarian Rock / Domenico Scarlatti, Sonata D-Dur K. 492
    Mit der D-Dur-Sonate Nummer 492 beginnt der ausgedehnteste Abschnitt, den Justin Taylor in seinem CD-Programm den Scarlatti-Stücken widmet. 22 Minuten lang kann man sich mit dem Cembalisten noch einmal in den Kosmos dieser avancierten italienisch-iberischen Tastenkunst aus der Mitte des 18. Jahrhunderts versenken.
    Cembalo-Technik, auf die Spitze getrieben
    Und dann ist man wieder überrascht, wie schlüssig das bekannteste Cembalostück von György Ligeti daran anzuknüpfen scheint. Der Titel dieser Komposition von 1968 hat der CD den Namen geliehen: "Continuum". Die Kontinuität des Klangs erreicht Ligeti wieder durch extrem schnelle Tonwiederholungen; er treibt da gewissermaßen die Cembalo-Technik auf die Spitze. Jeder Tastenspieler wird beim Hören nachempfinden können, was Ligeti seinem Interpreten hier in gut vier Minuten alleine an Kondition abfordert.
    Musik: György Ligeti, Continuum
    Nach anfänglicher Distanz zum Stück genießt Justin Taylor heute "Continuum", das früheste und gleichzeitig anspruchsvollste Cembalowerk von György Ligeti, als ein – wie er formuliert – "Eintauchen ins Innerste des cembalistischen Klangs". Danach führt er seine Zuhörer aber auch wieder aus diesen Klangwelten hinaus, zurück in entspanntere Sphären: Am Ende der CD steht die Sonate Kirkpatrick-Nummer 481, ein lyrischer f-Moll-Satz, den Domenico Scarlatti als "Andante e cantabile" überschrieben hat.
    Nach dieser spätbarocken "Arie ohne Worte" könnte man durchaus Lust verspüren, diese wunderbare CD gleich noch einmal zu hören.
    Musik: Domenico Scarlatti, Sonata f-Moll K. 481
    Continuum. Scarlatti – Ligeti
    Justin Taylor (Cembalo)
    Alpha Classics / Outhere Music France // Alpha 399
    LC 00516, EAN 3760014193996