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Chancen ohne Gleichheit

Eigentlich hat sich die Demokratie die Chancengleichheit auf die Fahnen geschrieben - eigentlich. Dass diesbezüglich in Deutschland große Missstände herrschen, zeigt der Journalist Patrick Bauer. Der 28-Jährige hat die Schüler seines ehemaligen Grundschuljahrgangs wiedergetroffen und verarbeitet die Erlebnisse im Buch "Die Parallelklasse".

Von Jens Rosbach |
    Das Buch "Die Parallelklasse" ist durch Zufall entstanden, genauer: durch eine Zufallsbegegnung. Autor Patrick Bauer traf nämlich – 14 Jahre nach seiner Grundschulzeit - einen ehemaligen Mitschüler wieder: den türkischstämmigen Achmed. Eine bizarre Szene.

    "Als ich Achmed ... wieder sehe, will er mir Drogen verkaufen. Wir treffen uns zufällig in einem großen Park, in dem es mehr Dealer gibt als Bäume. Er lehnt am Gitter des Fußballkäfigs, in dem wir früher oft spielten. Ich drehe gerade eine Joggingrunde. "Ey brauchst was zu rauchen", fragt er. "Nein, danke", keuche ich und bleibe stehen."Achmed, ich bin's, Patrick!" Achmed spuckt auf den Kiesweg, geht einen Schritt zurück hinter eine Hecke. Er flüstert: "Du bist kein Bulle, oder?". "Sehe ich so aus?". "Ja, Alter!"

    Der ehemalige Mitschüler – ein Haschisch-Dealer?! Patrick Bauer, Redakteur des Magazins "Neo", fragte sich, was aus den anderen Mitschülern in Berlin-Kreuzberg geworden ist.

    "Und der eigentliche zweite Auslöser war dann ja, ich sag mal, die Sarrazin-Debatte im Jahr 2010 - wo ich mich vor allem darüber geärgert hatte, dass viele Menschen, viele Medien über Integration schreiben, diskutieren, aber selten mit den Leuten reden, die von dem Thema ganz konkret betroffen sind. Und da dachte ich mir, das passt ja, dass meine Grundschulklasse zu gut 50 Prozent aus Kindern bestand, die nichtdeutsche Eltern hatten. Und zu denen hatte ich natürlich, wie es auch üblich ist nach der Grundschule – aber zu denen vor allem – noch mehr als zu den deutschen Schülern, den Kontakt verloren.''"

    Bauer stöberte in alten Notizen nach Adressen und Telefonnummern – und suchte nacheinander die ehemaligen Klassenkameraden auf. Aus diesen Treffen entstand "Die Parallelklasse" - ein lebendig geschriebener Report über mehr als ein Dutzend Begegnungen. Begegnungen, die zumeist bedrückend sind: Denn während viele deutsche Mitschüler eine Akademikerkarriere starteten, wurden aus den Migrantenkindern häufig frustrierte Arbeitslose, Gelegenheits- oder Billig-Jobber. Wie die türkischsprachige Aylin. Autor Patrick Bauer, der in einer großzügigen Altbauwohnung lebt, fand Aylin in einem Kreuzberger "Getto-Kiez".

    ""Also das war ein klassisches Haus der 70er-Jahre, in so einer großen Siedlung, wo alle Häuser gleich aussehen. Das roch nach Mittagessen, nach türkischem Mittagessen. Aber auch alles so ein bisschen schmutzig in dem Treppenhaus. War Geschrei zu hören von einem Kind und einer anderen Frau auf Türkisch in der Wohnung. Und dann stand ich eben an der Tür und ... Also ich meine, man muss sich da mal vorstellen: Wenn man sich nach so vielen Jahren wieder sieht, dann sieht man ja wirklich kaum noch Ähnlichkeiten zu dem kleinen Mädchen, was ich in Erinnerung hatte. Das war so ein ganz kleines süßes Mädchen, heute eine sehr große Frau mit einer großen Narbe und einer sehr rauchigen Stimme, die dann auch fast in Tränen ausbrach, weil es sie an vieles erinnert hat und vieles wieder hoch gebracht hat."

    Bauer schreibt in seinem Buch, er habe früher immer gedacht, die Migrantenschüler seien genauso glücklich wie er selbst. Doch bei den Interviews habe er erfahren, dass viele Gastarbeiter-Eltern nie zu Hause waren. Und dass seine Mitschüler keine Hausaufgaben-Hilfe hatten. Die "Lüge von der Chancengleichheit", so der Untertitel, wird im Buch auch von Bauers ehemaligen Lehrern bestätigt. Sie klagen über staatliche Sparmaßnahmen und Personalmangel – und dass die Schule die unterschiedlichen Start-Bedingungen der Kinder nicht ausgleichen könne. Der Autor traf auch seine Ex-Mitschülerin Miriam wieder, die heute selbst Grundschullehrerin in Berlin-Kreuzberg ist. Miriam berichtet in dem Report vom Dilemma an ihrer Schule:

    "Es gibt zwei Klassen pro Jahrgang. In die "schlechte Klasse" gehen jeweils nur Kinder aus nichtdeutschen Familien. In die "gute Klasse" fast nur deutsche Kinder. Was nach frühsteinzeitlicher Pädagogik klingt, war die letzte Chance für Miriams Schule, überhaupt noch deutsche Kinder aufnehmen zu können. Denn deren Eltern drohten angesichts eines "Ausländeranteils" von weit über fünfzig Prozent, ihre Kleinen in die Berliner Randbezirke zu fahren, wo "man noch unter sich ist" und daher auch ein besseres schulisches Niveau erwartet. Es gibt seit Jahren regelrechte Fluchtbewegungen von deutschen Eltern, die ihre Kinder nicht in den Problembezirken zur Schule schicken wollen."

    Patrick Bauer fächert am Beispiel seiner ehemaligen Klasse die Misere deutscher Schul- und Integrationspolitik auf. Zu den Beschreibungen der Treffen; zu den Dialogen und eigenen Reflexionen fügt der Autor geschickt Ergebnisse von Umfrage-Studien sowie Politiker-Zitate ein. Die Bilanz des 28-jährigen Journalisten ist bitter: Nur staatlicher Druck könne die Schüler aus sozial starken und sozial schwachen Familien wieder zusammenbringen – durch eine gesetzliche Pflicht, sich am jeweiligen Wohnort einzuschulen. Der Autor gesteht aber auch im letzten Kapitel ein, dass er seine Meinung in einem zentralen Punkt ändern musste. Denn er hat während der monatelangen Recherche – einen Sohn bekommen.

    "Vor einigen Monaten noch hätte ich deshalb gesagt, dass ich mein Kind auch auf einer Problemschule ... anmelden würde. Aus Prinzip. Dass mein Kind dort lernen würde, sich dort durchzusetzen. Jetzt finde ich diese Vorstellung unvorstellbar. Es soll eine unbeschwerte, gute Schulzeit haben, eine Schulzeit, an die er sich gerne erinnern wird. Eine Schulzeit, wie ich sie hatte. Er soll nicht aus Prinzip die trübe Suppe auslöffeln, die Jahrzehnte verfehlter Bildungs- und Integrationspolitik seiner Generation eingebrockt haben. Nicht, damit sein Vater ein reines Gewissen hat. Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich denke, wir sollten rechtzeitig umziehen, bevor unser Sohn eingeschult wird. Manchmal denke ich nun, dass ich meinen Sohn nicht opfern möchte. Ich erschrecke dann vor mir selbst. Und vor der Gesellschaft, in der wir leben."

    Bauers Buch "Die Parallelklasse" ist eindringlich verfasst und gleichzeitig – mit seinem konsequenten Reportagestil – flüssig getextet. Ein ungeschminkter, bildhafter und fragender Bericht von der Basis. Zweifellos: Die richtige Antwort auf Thilo Sarrazin.



    Patrick Bauer: "Die Parallelklasse. Ahmed, ich und die anderen - Die Lüge von der Chancengleichheit."
    Luchterhand Literaturverlag,
    192 Seiten, Euro 14,99
    ISBN: 978-3-630-87368-