Freitag, 29. März 2024

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Changing New York

"Um es gelinde auszudrücken, ich habe und hatte immer eine phantastische Leidenschaft für New York, photographisch gesehen", schreibt die Photographin Berenice Abbott Ende 1934 an ihre spätere Lebensgefährtin, die Kunstkritikerin Elizabeth McCausland. Gerade war ihre erste Einzelausstellung im Museum of the City of New York eröffnet worden: Ladenansichten, Straßenszenen, Wolkenkratzer. Der große Erfolg dieser Photoausstellung ermutigte sie zu einem ehrgeizigen Projekt. In den kommenden vier Jahren sollte Berenice Abbott mehrere hundert Aufnahmen von New York City machen - einer Stadt im Wandel. Sie zeigte, wie die kleinen Backsteinhäuser den riesigen Skyscrapern weichen mußten, wie der Glanz der mächtigen Gebäude einen Schatten auf die der kleinen Häuschen warf, die bleiben durften. "Changing New York" nannte Berenice Abbott ihre Photoserie. Sie hielt den Gigantismus, den Aufstieg der Metropole zu der Weltstadt schlechthin, genauso fest wie die Zeit der großen Depression. Mit ihren Bildern war sie Künstlerin und Soziologin zugleich. Nicht zuletzt deshalb wurde ihre Arbeit unterstützt vom Federal Art Projekt, einem Förderprogramm für Künstler, das beweisen wollte, daß die Menschen nicht nur in der Schule, sondern auch durch die Kunst gebildet werden.

Simone Hamm | 24.08.1998
    Zum ersten Mal liegt nun das komplette Projekt, liegen die vielen Photos vor. Sie wurden vom Museum of the City of New York veröffentlicht. Anlaß ist der 100. Geburtstag von Berenice Abott im Juni diesen Jahres. "New York (...) überwältigt uns mit seinen großartigen Gegensätzen, seiner Kraft und Sinnlichkeit (...) Gebäude, fünfzig Stockwerke hoch und mit Marmor verkleidet (...) überall Geraden, senkrecht und waagerecht (...) eine Stadt der rechten Winkel, hart und brilliant, Zentrum einer Lebensenergie, die nach allen Seiten strahlt", schrieb der französische Historiker Bernhard Fay bereits 1929. Mit diesem Zitat wird Berenice Abotts Bildband eingeleitet. Auf ihren allerersten Photos, noch mit einer kleinen Kamera aus der Hand gemacht, huschen bisweilen vermischte Figuren durch das Bild, flüchtig, schnell, vital symbolisieren das Leben in New York, ja die Stadt selber.

    In den Bildern von "Changing New York" sind die Menschen anders dargestellt. Das hat zunächst ganz praktische Gründe. Statt einer handlichen Kamera, mit der sie Passanten so gut wie unbemerkt hätte photographieren können, zieht Berenice Abott eine große Fachkamera vor. Damit kann sie datailgenauer arbeiten. Da sie aber ein Stativ benötigt und unter ein schwarzes Tuch kriechen muß, da sie meist Helfer braucht, die die schwere Ausrüstung transportieren, erregt sie mehr Aufsehen, wird langsamer.

    Auf diesen Photographien Berenice Abotts spielen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes eine untergeordnete Rolle. Sehr klein und sehr weit entfernt sind die beiden Damen an der Lower East Side, die gestenreich miteinander sprechen. Wie Schatten wirken die beiden Männer mit Hut, die weit hinten auf der Manhatten Bridge aneinander vorbeilaufen. Die Straßenhändler auf der Hester Street hat Berenice Abott vom Fenster des gegenüberliegenden Hauses photographiert. Helle Hüte verdecken die Gesichter. Neben einem Charlie Chaplin aus Pappe steht ein Mann mit dem Rücken zur Kamera und kauft ein Billett. Von der Manhattan Bridge aus entsteht das Bild der spielenden Kinder, winzig wirken sie, noch winziger vor den grauen Wolkenkratzern im Hintergrund.

    Und so trifft Berenice Abott dann doch eine Aussage über die Menschen in der Stadt. Sie will dabei nicht veuyoristisch sein. Die Gesichter der sieben betrunkenen Landstreicher, die sie am Hafen vor "der seltsamsten Hütte aller Zeiten" photographiert, sind nicht zu erkennen. Ihre Behausung ist eine Papphütte. Weit dahinter ragt das Empire State Building empor.

    Die vielen Obdachlosen hat Berenice Abott nicht abgelichtet. Das Photo einer Barackensiedlung an der Housten Street hat sie ausortiert. Die Ärmsten der Armen, die ein wenig Wärme in den Hauseingängen im East Village suchen, hat sie in Ruhe gelassen. Nirgendwo sonst in New York als auf der Lower East Side, wo die Iren, die Deutschen, die Italiener und die jüdischen Einwanderer aus Osteuropa lebten, hat sie den Gegensatz von alten Reihenhäusern und ärmlichen Mietskasernen zu den himmelwärts strebenden Gebäuden in Mid Town stärker empfunden. Nicht dieses boomende Mid Town, wo das Chrysler mit dem Empire State Building wetteiferte, das höchste Gebäude der Welt zu sein, hatte sie fasziniert, sondern der Süden Manhattans, Lower Manhattan. Hier sind gut die Hälfte der Photos von "Changing New York" entstanden.

    Sie photographierte Berge von Austernschalen vor schmalen Holzhütten unter metallenen Brückenpfeilern. Sie photographierte Wäsche im Wind, Reklametafeln, Bäckerläden, Friseursalons, Eisenwarenhandlungen. Gelebt hat sie im Greenich Village, dem Stadtteil mit den ältesten Gebäuden, kleinen Reihenhäusern. Immer wieder zieht es sie zum Washington Square: ein Mann mit fleckiger Arbeitsschürze, einen Kübel unterm Arm, geht auf einer kleiner Straße über zerbrochenes Pflaster, hinter ihm, mächtig und voluminös ist das berühmte Art Deco Hochhaus Fifth Avenue One zu sehen.

    Ganz modern muten die Abott-Photos "Changing New York" an, die doch immerhin schon 1939 als Buch erschienen sind, mit großem Erfolg. Streng, kühl und distanziert wirken sie, genau komponiert, die Bilder der großen, grauen Gebäude, und sagen doch alles aus über die faszinierenste Metropole - heute noch.