Samstag, 20. April 2024

Archiv

Chanson und Religion
Der Gott des Charles Aznavour hat viele Namen

Der Chanson-Sänger Charles Aznavour ist der wohl prominenteste Armenier weltweit. Seine Familie ist multireligiös. Immer wieder beschäftigt er sich in seinen Liedern mit Religion, die mehr verbinde als trenne: "Der eine Gott hat verschiedene Namen, so wie ein Künstler: Gott, Allah oder Shiva".

Von Igal Avidan | 06.11.2017
    Mischa und Knar Aznavourian gefährdeten ihr Leben, um während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Paris in ihrer Wohnung Juden und Widerstandskämpfer vor der Gestapo zu verstecken. Und so wuchs ihr Sohn in Paris unter jüdischen Migranten aus Osteuropa auf und lernte ein wenig deren Sprache und Traditionen.
    "Ich kann auf Hebräisch begrüßen und den Beginn des Kaddisch-Gebets 'Shma Israel' sprechen. Sonst kann ein bisschen Jiddisch, zum Beispiel 'far wuss', das ich von meinem jüdischen Freund lernte, der mit meinem Vater Jiddisch sprach. Als mein Vater jung war, mischten die Kinder in Georgien alle Sprachen der Nachbarschaft zusammen: Russisch, Armenisch, Georgisch und eben auch Jiddisch."
    Armenier und Juden waren Verbündete
    Die gemeinsame Sprache, aber vor allem das gemeinsame Schicksal - Verfolgungen, Flucht, Diskriminierung als bitterarme Fremde in Paris - schmiedete diese jüdisch-armenische Verbundenheit. Mischa Aznavourian und seine Frau Knar hatten fast ihre ganze Familie im Genozid an den Armeniern 1915 verloren. Er überlebte nur, weil er sich zu dem Zeitpunkt in Konstantinopel auf Tournee mit einem armenischen Ensemble aufhielt. Sie studierte dort in einem Internat. Kurz vor dem türkischen Einmarsch heirateten sie und flüchteten über Thessaloniki nach Paris. Dort wurde 1924 eben jener Sohn geboren, Varenagh Aznavourian, besser bekannt als Charles Aznavour.
    "Meine Nähe zu Juden hat nichts damit zu tun, dass ich Franzose bin"
    Charles war der erste Franzose in seiner Familie. Die Armenier, die von den Nazis anfangs für "Arier" gehalten wurden und daher verschont blieben, sahen in ihren jüdischen Nachbarn Verbündete.
    "Meine Nähe zu Juden hat nichts damit zu tun, dass ich Franzose bin oder Sänger oder weil ich mit Juden zusammenarbeite, sondern weil ich Armenier bin. Juden und Armenier wohnten immer im gleichen Gebiet und nahmen die gleiche Fluchtroute nach Frankreich - über Thessaloniki. In Paris arbeiteten sie gemeinsam auf dem großen Flohmarkt Marché aux Puces de Saint-Ouen am nördlichen Rand von Paris. Als die Juden aus Frankreich kurz vor dem deutschen Einmarsch flüchteten, überließen sie ihre Marktstände den einheimischen Armeniern. Denn sie vertrauten ihnen, dass sie nach dem Krieg ihre Läden problemlos an sie zurückgeben würden. Sie hatten doch eng zusammengearbeitet und kannten sich gut."
    Tradition ist ihm sehr wichtig
    Armenien ist ein christlich geprägtes Land, das Christentum wurde dort schon im vierten Jahrhundert Staatsreligion. Als gläubig bezeichnet sich der 93-jährige Charles Aznavour nicht, aber die Tradition ist ihm sehr wichtig. Und zu dieser Tradition gehört die Erinnerung an den Massenmord an den Armeniern. Zu dieser Erinnerungskultur trägt er bei - mit Worten und Klängen. Er spricht Armenisch und schrieb das Lied "Ils sont tombés" oder "Sie fielen" im Andenken an die Opfer. Aufgenommen hat er es in der Nacht auf den 24. April 1975, genau 60 Jahre nach der Festnahme der armenischen Elite von Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, das in Armenien als Völkermordgedenktag begangen wird. Das Lied beginnt mit den Worten:
    "Sie fielen, ohne zu wissen warum / Männer, Frauen und Kinder, deren einziger Wunsch war zu leben."
    Erst in der allerletzten Zeile wird die Identität der Opfer preisgegeben.
    "Der Tod traf sie, ohne um ihr Alter zu bitten / Da sie als Kinder Armeniens schuld waren."
    Kinder stehen am Genozid-Mahnmal in Jerewan
    Das Gedenken an den Völkermord ist für Charles Aznavour ein Herzensthema (Deutschlandradio/Werner Bloch)
    "Sonderbotschafter für humanitäre Aktionen"
    Charles Aznavour ist der wohl prominenteste Armenier weltweit. Nach dem schweren Erdbeben in Armenien 1988 organisierte er Hilfsaktionen; 1993 ernannte ihn der armenische Präsident zum "Sonderbotschafter für humanitäre Aktionen", 1995 wurde er Sonderbotschafter bei der UNESCO und 2008 nahm er die armenische Staatsbürgerschaft an und wurde Botschafter Armeniens in der Schweiz, wo er wohnt. Seine Stiftung errichtete in der armenischen Hauptstadt Jerewan ein Kulturzentrum und Museum, das seinen Namen trägt.
    Bereits vor Jahren regte Aznavour die Errichtung einer armenischen Gedenkstätte zur Erinnerung an den Massenmord an, nach dem Vorbild der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.
    "Ich habe den Armeniern öfter gesagt, dass sie sich an den Juden ein Beispiel nehmen sollen. Wenn sie einen Juden auf der Straße anhalten, in jedem Land, und ihn oder sie über Israel fragen, würde er etwas darüber sagen können. Aber nicht alle Armenier kennen ihre Geschichte, obwohl, früher waren es noch weniger. Menschen müssen ihre Wurzeln kennen und Eltern sollen ihren Kindern ihre Religion und Muttersprache beibringen. Die sind sehr wichtig: Die Religion hält die Kinder auf dem richtigen Weg und die Sprache eröffnet für sie die weite Welt."
    "Gott hat verschiedene Namen"
    Die Gemeinschaft mit anderen Gläubigen kann dabei helfen, sich in der Fremde weniger fremd zu fühlen. Religion kann zur Versöhnung beitragen, aber zu viele Kriege begannen mit der Religion, schrieb Charles Aznavour 2005 in einem Beitrag für die Wochenzeitung "Die Zeit". Wer in ihrem Namen Kriege führt, der habe jedoch nichts von Gott und der Welt verstanden.
    "Der eine Gott hat verschiedene Namen, so wie ein Künstler: Gott, Allah oder Shiva. Zu kämpfen in Gottes Namen ist eine Sünde. Wenn Gott existiert, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass er jemand auffordert, seinen Freund oder Nachbar umzubringen oder denjenigen, der eine andere Sprache spricht oder einen anderen Gott anbetet. Es ist unmöglich, dass wir einen mörderischen Gott haben, unvorstellbar. Ich habe ein Lied begonnen mit dem Titel 'Die Moschee und die Kirche'. Aber all meine Freunde, jüdische wie nichtjüdische, warnten mich davor, es zu veröffentlichen. Sie sagten, ich werde in Schwierigkeiten geraten."
    Multireligiöse Tradition
    Weil Frankreich von islamistischen Terroranschlägen heimgesucht wurde, wirkt gerade ein so harmonischer Titel provozierend. Doch der Sänger glaubt daran, dass die Religionen mehr verbindet als trennt. Gerührt erzählt er davon, dass die multireligiöse Tradition seiner Familie fortlebt. Das gefällt ihm, zum Beispiel die Wandlung seines Enkels Jacob, des einzigen Juden in der Familie, wie er sagt.
    "Jacobs Vater starb in dem Jahr, in dem er seine Bar Mitzwa feiern sollte, daher konnte er diesen Festtag nicht feiern. Als ich 2014 nach Israel reiste, nahm ich ihn daher mit. Ich hatte zuvor den Sohn eines berühmten Rabbiners kennengelernt, der helfen wollte. Und er organisierte tatsächlich eine Art Bar Mitzwa in der Synagoge, die unmittelbar an der Klagemauer in Jerusalem angrenzt. Diese Zeremonie war für Jacob sehr emotional und seitdem hält er die jüdischen Gebote ein, zum Beispiel die Speisevorschriften."
    Der jüngste Sohn wiederum, Nicolaï, ließ sich taufen, lernt Armenisch und ist mit einer Armenierin verheiratet. Auch das gefällt dem Vater. Zurück zu den Wurzeln, das erscheint Aznavour mit zunehmendem Alter wichtiger. So bestand er darauf, dass seine letzte Eheschließung 1967 mit einer schwedischen Protestantin in einer armenischen Kirche stattfand. Er überzeugte sie damit, dass die Schweden bereits ein Land hatten, die Armenier aber nicht.
    Die Kirche ist für Aznavour nicht zentral, aber sie begleitet ihn in den wichtigsten Stationen seines Lebens.
    "Ich ging in die Kirche für die Taufe, zur Eheschließung und Beerdigung, sonst nicht. Meine beiden Töchter habe ich in Paris taufen lassen, die beiden Jungs in Armenien. Das war für mich wichtig, weil die Taufe einem Menschen eine wunderbare Haltung fürs Leben gibt."
    Autor: "Sie haben gerade die Beerdigung erwähnt. Haben Sie schon über die Trauerzeremonie nachgedacht?"
    Aznavour: "Nein, denn ich hasse es zu sterben."