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Chansonnette Anna Mateur
Seelenstriptease in blickdichten Strumpfhosen

Anna Mateur nimmt den Alltag unter die Lupe und dreht ihn stimmgewaltig mit satirischer Feder auf links. Stilistische Brüche gehören zu ihrem Konzept zwischen Ordnung und Chaos. Ihr musikalisches wie darstellerisches Temperament beschreibt die Chansonnette als "naturstoned".

Von Regina Kusch | 05.10.2018
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    Für jeden Spaß zu haben: Anna Mateur und Pianist Andreas Gundlach (Anna Kutschke)
    Anna Mateur ist eine ausgesprochen vielseitige Künstlerin: Sie singt, spielt mehrere Instrumente, ist Schauspielerin und eine mitreißende Komikerin, und sie pflegt den Ablaufplan ihrer Bühnenprogramme zu zeichnen. Anna Mateur hat gerade in Dresden mit einem Open-Air-Konzert auf den Elbwiesen, vor der Silhouette der historischen Altstadt, ihr 15-jähriges Bühnenjubiläum gefeiert - zusammen mit dem Pianisten Andreas Gundlach und 1700 Zuschauern.
    Musik: "Mozart
    "Mozart" ist kein Titel über Anna Mateurs Jugend, wie man vielleicht denken könnte, sondern ein Song von Manfred Krugs erster West-LP "Da bist du ja", aus dem Jahr 1979, den er zusammen mit der Rock-Röhre Joy Fleming aufgenommen hatte. An die erinnert Anna Mateur nicht nur wegen ihrer imposanten und vielseitigen Stimme, mit der sie leicht und präzise die Tonarten wechselt, sondern auch in Statur und Habitus, mit denen sie wie eine Walküre jede Bühne beherrscht.
    Außergewöhnliche Stimmkünstlerin
    Ihre dunkle Lockenpracht hat sie zu einer wilden Hochfrisur toupiert, ihre Gesten sind theatralisch, ihre Bühnengarderobe ist jedoch eher schlicht. Meistens trägt sie ein weites schwarzes Gewand, schwarze Strumpfhosen und bequeme flache Schuhe.
    "Ich sag immer, was ich nicht in der Kehle habe, das kann ich dann außen auch nicht wettmachen. Es ist mir lieber, ich komme in Wanderschuhen auf die Bühne und singe gut und hab ein tolles Programm, als dass ich da ewig an mir rumgepinselt habe und mich kaum bewegen kann und irgendwo mich geschnürt hab´, und Zipfelmode gekauft habe, dass man den Bauch nicht so sieht.
    Wenn ich jetzt immer auf mich gucken würde, dann würde ich ja vielleicht anfangen mit: ‚Ach Gott, das sah ja doof aus, das mach ich auf keinen Fall.‘ Nee, nee. Das ist ja anstrengend, das ist auch verschenkte Lebenszeit."
    Anna Mateur im Publikum beim Auftritt in Dresden
    Anna Mateur beim Auftritt in Dresden mit ihrem 15 Jahre-Jubliäumsrpogramm (Regina Kusch)
    Anna Mateur verströmt eine Weiblichkeit jenseits der gängigen Ästhetik, mit der sie in keine Schublade passt, denn erinnert sie im ersten Moment noch an Joy Flemming, glaubt man im nächsten Augenblick, Nina Hagen zu hören und dabei Trude Herr zu sehen. Am wichtigsten ist ihr, gute Geschichten zu erzählen. In denen kokettiert sie auch gerne mit ihrem Image als "Antidiva", das ihr 2008 von der Jury des Deutschen Kleinkunstpreises verpasst wurde. Selbstironie ist ein Markenzeichen von Anna Mateur.
    Musik: "Bulimie-Swing"
    "Ich war ein Chorkind, ich habe sechs Jahre im philharmonischen Kinderchor gesungen. Wirklich sehr beeindruckend war für mich 1989 das Konzert mit Bernstein, die Neunte Sinfonie einmal im Osten, einmal im Westen. Da habe ich mitgemacht, da kann man sich auch die Aufnahmen angucken, da stehe ich in der ersten Reihe. Da war ich elf."
    Die Dresdenerin Anna Mateur, die mit bürgerlichem Namen Anna Maria Scholz heißt, wuchs in einer Musikerfamilie auf. Ihre Eltern, beide Musiklehrer, bestanden darauf, dass sie und ihre drei Geschwister Instrumente lernten.
    "Und dann ging’s los. Welches Instrument? Mama spielt Flöte, Papa Gitarre, da steht ein Klavier rum, in Quengelwarenhöhe sind die Triangel und die Klanghölzer, die Orffschen Instrumente aufgebaut für uns, der Großonkel spielt Akkordeon bei Familienfesten, und mein Uropa - die haben alle immer gesungen und zwar nicht nur die Volkslieder, sondern auch diese ganzen alten 20er-, 30er-Jahre-Schlager.
    "Ich kannte Tom Waits, bevor er überhaupt kam"
    Und mit denen haben die mich auch ins Bett gebracht, meine Großmama mit den Volksliedern und meine Mama hat gesungen: ‚Ein kleines Liedchen geht von Mund zu Mund. Es ist bekannt und das hat seinen Grund, blablabla.‘, ‚Du hast Glück bei den Frauen Belami‘, diese schönen Melodien. Oder: ‚Ja,ja, ja, ja, Mädchen mit roten Haaren, die muss man fragen, was Liebe ist‘. Und, Achtung, Onkel Werner: Ich kannte Tom Waits, bevor er überhaupt kam. Das war mein Onkel Werner mit den Goldzähnen."
    Ähnlichkeiten zwischen Tom Waits Onkel Vernon und ihrem Onkel Werner sind daher eher nicht zufällig. Anna Mateur hat ihrer deutschen Version von Tom Waits "Cemetery Polka" noch jede Menge Stimmakrobatik und musikalischer Anspielungen hinzugefügt - von Kurt Weill bis Heintje.
    Musik: "Cemetery Polka"
    Anna Mateur spielt Klavier, Akkordeon, Quer- und Blockflöte. Zwei Jahre lang mühte sie sich mit der Geige ab, merkte aber, dass ihr die nötige Leidenschaft fehlte. Sie hat viele Dinge ausprobiert. Nach dem Abitur zog sie Anfang der 90er mit einer Theatergruppe in einem Planwagen durch Süddeutschland und spielte auf alten Schlössern und Burgen Shakespeare, war als Straßenmusikerin unterwegs und sang in einer Funk-Band. Schließlich studierte sie bis 2003 an der Dresdener "Hochschule für Musik Carl Maria von Weber" Jazz, Rock und Pop.
    "Man braucht schon ein Handwerk, man kann sich nicht einfach irgendwo hinstellen. Was will man improvisieren, wenn man keine Basis hat? Es ist immer gut, wenn man was kann. Und darauf kann man aufbauen. Und dann kann man aber auch mal Scheitern oder Fehler machen.
    Rüdiger Krause, ein Gitarrist von der Hochschule hat uns in Improvisation mal gesagt: ‚Es gibt keine falschen Töne, man muss sie nur bestätigen.‘ Und der hat absolut Recht.
    "Man geht raus, lebt, liebt"
    Und Micha Fuchs, ein Pianist an der Hochschule, der hat mal gesagt: ‚Denkt nicht, dass ihr jetzt hier an der Hochschule studiert und dann lernt ihr fleißig und guckt, wer hat welche Etüde? Musiker ist man auch, man geht raus, lebt, liebt, geht ins Theater, legt euch an die Elbe, macht Erfahrungen, geht ins Museum, setzt euch mit den Dingen auseinander! Das macht auch einen guten Musiker aus.‘ Und das ist auch einer der wichtigsten Sätze, die ich mitgenommen habe."
    Musik: "Black Coffee"
    "Black Coffee", das Stück wurde 1949 von der amerikanischen Jazz-Sängerin Sarah Vaughan geschrieben. 2005 nahm Anna Mateur es in ihr Liedprogramm "Walgesänge" auf. Zusammen mit dem Cellisten Stephan Braun und den Gitarristen Reentko Dirks und Daniel Wirts, den "Außensaitern", ging sie damit auf Tour: Ein Mix aus Coverversionen von Friedrich Hollaender, Michael Jackson oder Curt Cobain und eigenen Stücken, wie dem von der "Orakel-Queen aus Neuruppin", einer amüsanten, tanzbaren Ballade, bei der sich Jazz- und Blueselemente abwechseln.
    "Mein Lieblingsding ist so eine Mischung: Wenn es etwas Schönes ist, aber nicht nur schön, wenn da noch so eine Reibung ist. Ich denke immer in Themen und Geschichten."
    Musik: "Orakel-Queen aus Neuruppin"
    Dreimal wurde Anna Mateur, die nie das Bedürfnis hatte, aus Sachsen wegzuziehen, mit dem Leserpreis des Stadtmagazins SAX, zur "Dresdenerin des Jahres" gekürt. Aber sie ist längst über die Landesgrenzen hinaus bekannt und hat schon alle wichtigen Kleinkunstpreise vom "Prix Pantheon" bis zum "Salzburger Stier" mit nach Hause genommen.
    Anna Mateur sitzt auf einem Stuhl ihre Haarmähne wirbelt vor ihrem Gesicht, das man nchct sieht
    Zwischen Chaos und Ordnung: Das Lieblingsthema von Anna Mateur (David Campesino)
    Ein zentrales Thema der Künstlerin, die sich selbst als "naturstoned" bezeichnet, ist der schmale Grat zwischen Ordnung und Chaos. Anna Mateurs Lieder erzählen von ungewöhnlichen Menschen, gefährlichen Substanzen wie Nutella oder dem Stimmungsaufheller Ritalin, von deutscher Angst und deutschen Schlagern oder von Demenzreisen.
    Ein bisschen Drama ist immer dabei, so wie bei Tom Waits und Frank Zappa. Die gehören zu ihren Lieblingssängern, weil sie gute Geschichten erzählen. Alte Volkslieder mag Anna Mateur genauso gerne wie "Seguidilla", die berühmte Arie der Carmen aus Bizets gleichnamiger Oper, bei der sie temperamentvoll ihren Mezzosopran in Szene setzt.
    Musik: "Seguidilla"
    Musik: "Stimme"
    "Stimme" entstand für die MDR-Radiokolumne "Hörschnitzel", für die Anna Mateur seit fünf Jahren regelmäßig schreibt. Freies Assoziieren, Wortspiele und Sprachkomik zeichnen ihre Texte aus. Und ihre Geschichten malt sie gerne auf Folien, Haut oder ihren Küchentisch. Alle CD-Cover sind von ihr selbst gezeichnet, genauso wie ihr "Wehwehchen Atlas", ein satirisches Bilderbuch über Schönheitsoperationen.
    Ihr Programm "Mimikry" bestreitet sie mit einem Filzstift und einem Overhead-Projektor und malt, live zur Musik ihres Pianisten, Anti-Kriegs-Strichmännchen. Anna Mateurs Gesellschaftskritik ist schreiend komisch. Auf dem Dresdener Schaubudensommer, einem Musik-, Theater- und Varieté-Festival, sorgte sie mit ihrer Performance als Stangentänzerin in ihrem ersten Bühnenprogramm "Mutter Blamage" für Kultur-Schlagzeilen.
    Anna-amateurhafte Imitation
    "Auf diesem Varietéplatz waren überall so Gerüststangen, da habe ich eine mit silbernem Gaffer abgeklebt, habe mir eine Schüssel mit Mehl hingestellt, habe meine Hände ins Mehl getunkt, zwischen meine Brüste Mehl gestäubt und zwischen meine Beinen. Dann habe ich das Kampfgericht gegrüßt wie in der Leichtathletik, bin dann im Dreierhopp an die Stange gesprungen, abgerutscht und hab anna-amateurhaft animiert.
    Das war der Opener für die Mitternachtsshow und die Leute wussten nicht, ist es ernst oder nicht. Das machte einen Riesenspaß. Und dann habe ich halt den Stangetanz gemacht. Das war so eine Mischung aus erotischer Bewegung und Routine einer Stangentänzerin: Jetzt reib ich nochmal meine Brüste, ich muss noch einkaufen, was fehlt? Eier, Milch.
    So wurde ich bekannt, ich hab das vier Abende gespielt, das Publikum hat sich potenziert, die wollten das alle sehen und dann hatte ich im nächsten Jahr eine Show. Und von da an hieß ich Anna Mateur."
    Das war 2003, direkt nach Abschluss ihres Studiums. Seitdem spielt Anna Mateur immer wieder gern mit erotischen Elementen - und mit ihren Beuys. So nennt sie alle Musiker, mit denen sie auftritt, und die sie schreibt, wie den Namen des vielseitigen wie umstrittenen Künstlers Joseph Beuys. Ihren Pianisten Andreas Gundlach zum Beispiel baggert sie auf der Bühne schamlos an.
    Auf Improvisationen ad hoc reagieren
    "Er kann auch ad hoc reagieren, das können die ganzen Jungs, mit denen ich arbeite: Alles Leute, die aus dem Augenwinkel raus reagieren können auf Improvisationen. Das ist eine ganz andere Art zu musizieren, die Aufmerksamkeit ist immer da.
    Weil ich nicht immer dasselbe sage, ist die Aufmerksamkeit noch mehr da. Das ist diese spannende Mischung, die ich gerne halte, dass es auch für uns auf der Bühne spaßig bleibt. Andreas ist der einzige, der kein Pokerface hat, wenn er mit mir spielt, alle Jungs schaffen das, und Andreas, der haut sich dann weg, so ist er einfach. Und das freut mich dann auch, wenn ich ihn gefoppt habe."
    Musik: "Loverman"
    Bei ihrer Nummer "Loverman" rückt sie ihm, während er die ganze Zeit Klavier spielt, zur Gaudi des Publikums, wie eine liebestolle Matrone auf die Pelle.
    Anna Mateur und Andreas Gundlach stecken die Köpfe zusammen und schauen in die Kamera
    "Den geb´ich nicht her!" meint Anna Mateur über ihren Pianisten Andreas Gundlach (Anna Kutschke)
    "Das ist absolut ungerecht, ich habe eine Weile immer das Lob kassiert: ‚Diese Loverman-Nummer, wie du da kriechst und singst, und dann auf ihm rumturnst!‘ Die Leute vergessen, dass er die komplette Zeit durchspielt.
    Ich tunke seinen Kopf in mein Dekolleté, zieh ihn raus, und er spielt ja ohne zu sehen weiter, er spielt auch vom Boden, er fällt auf den Boden und im Fallen spielt er. Und während ich ihn wieder hochhieve und ihm den Arm hochreiße, von hinten mich auf ihn drauf setze, und auf seinen Schultern sitze, er spielt die ganze Zeit durch. Das können nicht viele. Und den rücke ich auch nicht raus den Gundlach, Punkt!"
    Musik: "Fucking Political"
    "Ich bin keine politische Liedermacherin, vielleicht sozialpolitisch. Eigentlich ist man als Künstler jemand, der zusammenfasst, was einen umgibt und was sich gerade tut. Man muss aufpassen, dass man nicht berufskrank wird, Stinkefinger und Zeigefinger schwingt."
    Deshalb verfolgt sie die politischen Geschehnisse in Sachsen zwar mit Sorge und thematisiert Pegida-Demonstrationen, rechtes Gedankengut und Ausländerhass in ihren Liedern und Kolumnen. Aber politisch bevorzugt Anna Mateur die leiseren Töne in ihren Satiren, wie z.B. in "Komm doch mit nach Dresden".
    Satire über fremdenfeindliches Gedankengut
    "Als das mit Pegida losging und die ganzen Flüchtlinge kamen, habe ich ein Stück geschrieben: "Dresden ist ausländerfrei", da gibt es nur noch vereinzelt ein paar Erzgebirgler, aber die gehen dann auch noch raus. Und dann, als wirklich alle weg waren, gab es Streit zwischen linker und rechter Elbseite.
    Und irgendwann waren die Brücken geschlossen, dann haben die aus dem preußischen Viertel versucht, in die Johannstadt zu kommen und andersrum, und dann sind viele ertrunken in der Elbe. Und in Klein-Schachwitz, die mussten eine bestimmte Quote aufnehmen. Die Leute haben es geliebt. Das war hochaktuell."
    Musik: "Gut sortiert (Dresden den Dresdnern)"
    "Gut sortiert" hat Anna Mateur die Toncollage genannt, in der sie frei, wie sie es nennt, zur "Systematik von Ordnung und Chaos" assoziiert.
    "Ich befinde mich gar nicht auf der Chaos-Seite. Ich prangere nur an, wenn ich rieche, dass zu viel Ordnung vorhanden ist. Es ist immer die Mitte, der Tanz um die Mitte: ‚Ältestes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefasst das Neue‘ - Goethe."
    Eine offene und konstruktive Auseinandersetzung mit Pegida und Fremdenfeindlichkeit stünde Dresden, das sich schließlich für 2025 als Kulturhauptstadt beworben habe, besser zu Gesicht, als Hassreden und aggressive Sprechchöre, meint Anna Mateur.
    Bei Hass in Dresden wird die Chansonnette zickig
    "Ich liebe die Stadt, bin hier aufgewachsen, es ist eine wunderschöne Stadt: Diese Elbwiesen, das ist einfach fantastisch, diese tolle Silhouette, und da mit dem Fahrrad lang zu fahren, im Herbst lassen sie ihre Drachen steigen, im Winter bauen sie merkwürdige Schneemänner, dann wird da gegrillt, viele gehen baden, es gibt das Elbschwimmen, wir haben diese tolle Gemäldegalerie, wir haben wirklich alles, was eine Kulturhauptstadt braucht.
    Es ist so, dass für mich die Auseinandersetzung mit dazu gehört, es gehört aber nicht dazu, dass man sich mit Galgen und mit Hass in die historische Altstadt stellt und dieses Bild von Dresden abgibt. Das finde ich ganz schlimm und da werde ich auch zickig."
    Musik: "Ich leb doch"
    Anna Mateur ist viel gefragt mit ihren unterschiedlichen Programmen. Sehnsüchtig singt sie in ihrem 15 Jahre-Jubiläumsprogramm über einen Ort, an den sie sich zurückziehen kann, wenn ihr Leben zu sehr auf der Autobahn stattfindet: "Innerer Garten" mit einer kleinen Hommage an Erika Krause, Moderatorin der DDR-Kultsendung "Du und Dein Garten".
    Musik: "Innerer Garten"