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Charisma und Pop

Das Starsystem ist eines der grundlegenden Kennzeichen unserer Mediengesellschaft. Die Affekte der Massen fließen in quasi-religiöser Emphase Popstars und Politikern gleichermaßen zu. Dabei ist die Zuschreibung von Charisma längst zum inflationären Dekor jedweder Art geworden. Doch wie lässt sich charismatische Ausstrahlung medial erzeugen?

Von Elke Buhr |
    Manche hier haben schon seit dem frühen Morgen vor der Tür gewartet. Die Eintrittskarten hatten sie längst: auf Websites bestellt, im Radioquiz gewonnen, vom Liebsten zum Geburtstag bekommen. Aber trotzdem wollten sie früh da sein. Man könnte ja einen ersten Blick erhaschen, auf IHN, wenn er mit seiner Limousine vorfährt und zum Bühneneingang den Ort der Handlung betritt. Und natürlich will man nah dran sein, will in der ersten Reihe stehen, wenn ER dann kommt. Rund ist die Konzerthalle, wie eine Arena: was den Alten Griechen recht war, ist den Fans des 21. Jahrhunderts immer noch billig. Die Aufregung steigt, während der DJ ein wohl kalkuliertes Set von Songs ablässt. Erste Jubelwellen jagen durch die Halle, als ein alter Hit unseres Helden aus den Lautsprechern dröhnt: Die Fans probieren sich aus, sie wollen ihre Rolle perfekt spielen, wenn es losgeht. Als das Licht ausgeht, füllt nur noch die Erwartung Tausender die warme Luft. Mit einer schmerzhaft lauten Fanfare tut sich der Bühnenboden in der Mitte des Arenarundes auf. Kunstnebel zischt, das Lichtgewitter verwirrt den Blick - und plötzlich steht er da.

    Man muss nicht mitschreien, wenn jetzt alle losjubeln, man kann auch sitzen bleiben und denken: Vor Robbie Williams, einem mittelmäßigen, zum Pummeligen neigenden Sänger aus einem Arbeiterviertel bei Manchester, verliere ich nicht meine Fassung. Aber dem leichten Schauer der Erhabenheit, der in solch einem Moment die Wirbelsäule entlang kriecht, kann sich noch die distanzierteste Beobachterin nicht entziehen.

    Was ist es, das diesen Robbie Williams auf diese Bühne katapultiert hat, oben in die Charts, vorne auf die Magazine, hinein in die Herzen unzähliger Fans? Was hat der Mann oben denen unten voraus? Warum zahlen manche Menschen hunderte von Euro, um ihm an diesem Abend im Berliner Velodrom nahe zu sein, hängen an seinen Lippen, bewerfen ihn mit Plüschtieren und ersteigern seine gebrauchten T-Shirts bei E-Bay? Ist das Charisma?

    Charisma und Pop - dies ist kein sehr geläufiges Begriffspaar. Dabei müsste der Begriff des Charismas in Zusammenhang mit Popstars nahe liegen - wird er doch im Alltagsgebrauch demjenigen zugeschrieben, der andere zu faszinieren versteht, der für sich einnimmt, dem man glaubt kraft seiner persönlichen Ausstrahlung. Warum ist für gewöhnlich schwer zu erklären - das Charisma ist das viel zitierte Gewisse Etwas, ein "Je ne sais quoi", das in seiner Rätselhaftigkeit um so wertvoller erscheint. Und ohne dieses charismatische Etwas sind Stars nicht vorstellbar. Doch gestehen wir Robbie Williams oder anderen Pop- und Medienhelden wirklich zu, Charisma zu besitzen? Man zweifelt. Als wäre der Begriff des Charismas zu alt, um mit diesen neuen Formen der Berühmtheit eine gelungene Verbindung eingehen zu können.

    Charisma, so glauben wir, ist seriöser als der billige Ruhm der Stars. Charisma ist echter. Der Medienwissenschaftler Jürg Häusermann schreibt:

    "In seinem umgangssprachlichen Gebrauch ist der Begriff zwar unscharf, aber es scheint dennoch unbestritten, dass es natürliches Charisma gibt - als Persönlichkeitsmerkmal, das sich in der direkten Begegnung offenbart. Man empfindet charismatische Menschen als mutig, inspiriert. In öffentlichen Auftritten, aber auch in der direkten Begegnung, hinterlassen sie den Eindruck einer einmaligen, authentischen Persönlichkeit."

    Charisma ist also etwas, das man von der Person selbst erspüren möchte, nicht von ihrem medialen Abbild. Echtes Charisma, so glauben wir, hat keinen Bühnenzauber nötig und keine aufwendigen Inszenierungen, es kommt ohne Kunstnebel und ohne Fanfaren aus. Und haben wir die Stars und Sternchen nicht alle unter Verdacht, dass sie im wirklichen Leben, ohne die Hilfe der medialen Vergrößerungsmaschine, ohne Mikrofon und Schminke, nur ganz kleine Lichter sind?

    Zentral ist in diesem Zusammenhang der von Häusermann benutzte Begriff der Authentizität. Wir wünschen uns das Charisma authentisch, nicht künstlich hergestellt.
    Allerdings: Würde eine charismatische Persönlichkeit überhaupt wirken ohne die mediale Vervielfältigung? Häusermann schreibt:

    "Zu dieser nicht eben leicht abzusichernden Gewissheit, dass es natürliches Charisma gibt, gesellt sich der Verdacht, dass eine ähnliche Wirksamkeit von Personen auch künstlich hergestellt werden kann, dass es also in der Öffentlichkeit Figuren mit großer Resonanz gibt, hinter denen vielleicht nur etwas Rhetoriktraining und ein cleveres Management steckt".

    Nun, es ist mehr als ein Verdacht, dass Charisma auch produziert werden kann. Und das auf verschiedenen Ebenen. Zum Charismatiker gehört eine gewisse Bildung, sei es im Singen, Tanzen, Interviews geben oder in der politischen Rede, und wenn er massenwirksam sein soll, dann muss man das den Massen entsprechend kommunizieren. Dafür gibt es Trainings, dafür gibt es Berater. Selbst Barack Obama, der immer als Paradebeispiel für den modernen Charismatiker präsentiert wird, ist für seine weltweite Fangemeinde vor allem sein Lächeln auf dem Bildschirm, und seine Rhetorik könnten wir gar nicht bewundern, würden seine Reden nicht von Fernsehen und Internet übertragen. Obama mag ein moralisch integrer Mann, ein guter Stratege und überzeugender Politiker sein - aber die Liebe und Bewunderung der Menschen und damit ihre Stimmen konnte er nur mit Hilfe eines Medienfeldzugs erringen, genau wie Robbie Williams ohne die Medien niemals in die Charts gekommen wäre.

    Die einfache Unterscheidung zwischen dem Charisma aus authentischer Eigenschaft auf der einen und künstlich erzeugter Attraktivität auf der anderen Seite funktioniert also nicht. Auch das vermeintlich natürliche Charisma muss hergestellt und medial verbreitet werden, und seine Authentizität ist vielleicht nur ein besonders guter Verkaufsfaktor.

    Es gibt sogar ganze Bereiche der Popkultur, dieser Industrie in Sachen Schein, in denen Authentizität als Qualitätsmerkmal sorgfältig gepflegt wird: Der bodenständige Rock zum Beispiel, in dem Bruce Springsteen die Gitarre in die Hand nimmt und dem Kleinen Mann Amerikas eine Stimme gibt. Oder der neue Freak-Folk, in dem langbärtige Gestalten und Frauen an Harfen mythische Lieder singen.

    Rockstars machen Identifikationsangebote, ihr Handwerkszeug sind Emotionen. Die frühen Rolling Stones waren zwar keine Revolutionäre, aber wenn sie die Revolte mit ihren Körpern und ihrer Musik inszenierten, mussten sie glaubwürdig sein - wie schwierig das aufrecht zu erhalten ist, zeigt sich bei den großen Stones-Konzerten von heute, wo der fehlende Affekt auf der Bühne von Pyrotechnik ersetzt werden muss.

    Urvater dieser Variante von authentizistischem Pop ist sicherlich der reisende Barde Robert Zimmermann alias Bob Dylan. In seiner Autobiografie "The Cronicles" beschreibt er selbst, was sein Schaffen in den sechziger Jahren ausgemacht hat. Um Songs wie Masters of War, Hard Rain oder Gates of Eden zu machen, bräuchte man die Kraft und die Gabe, Geister zu beschwören - eine Kraft, die er heute nicht mehr habe.

    "Einmal war es mir gelungen, und das sollte genügen. Irgendwann würde wieder jemand mit dieser Gabe erscheinen - jemand, die Dinge durchschauen konnte bis auf den Grund, und zwar nicht im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich - als bringe man Metall mit dem Blick zum Schmelzen - jemand, der ihr wahres Wesen erkannte und es in ungeschönter Sprache und mit unbarmherziger Klarsicht enthüllte. "

    Jemand mit einer Gottesgabe, können wir zusammenfassen - ein Talent, das von oben kommt, und seinem Träger nicht nur die Fähigkeit verleiht, auf den Grund der Dinge zu blicken, sondern das auch noch für alle sichtbar macht. Denn ein Seher wird nur dann öffentlich wirksam, wenn er Gefolgschaft hat, und die erliegt der öffentlichen Ausstrahlung des schmächtigen Sängers mit der struppigen Lockenfrisur.

    Doch natürlich hatten auch bei Dylan schon die Zeitgenossen den Verdacht, dass er vielleicht nur ein besonders guter Darsteller dieser übermenschlichen Gaben war. John Lennon zum Beispiel, ein anderer, dem die Welt zu Füßen lag, hat in Interviews der Siebziger Jahre mehrfach angedeutet, dass sich hinter Dylans geheimnisvoller Wortkunst, für die er so gelobt wird, nicht viel verberge:

    "Über Dylans wunderbare Texte ist mehr gesagt worden, als überhaupt je in den Texten steckte. Über meine genauso. Aber es waren die Intellektuellen, die all das in Dylan oder die Beatles hineininterpretiert haben. Dylan konnte sich sprachlich einfach alles erlauben. Ich dachte mir: "Diesen Scheiß kann ich auch schreiben". Man stellt nur ein paar Bilder zusammen, reiht sie aneinander und nennt es Poesie".

    Oder noch zynischer:

    "Wenn Dylan mal seiner selbst nicht so sicher ist, dann fabriziert er einen Doppelsinn, damit man das dann seiner "hipness" zugute halten kann. Ich habe jetzt angefangen, mich von aller aufgeblasenen Metaphorik zu befreien, alle poetische Prätention á la Dylan abzustreifen, auf alle Illusionen von Großartigkeit zu verzichten."

    Auch an die Authentizität Bob Dylans kann man also glauben oder nicht - und gerade Dylans Ausstrahlung, sein Charisma, ist Ergebnis eines komplexen Geflechts von Popgeschichte und technischer Medien. Nicht zufällig war er es, der 1969 die Folk-Fans vor den Kopf stieß, die akustische Gitarre in die Ecke warf und sich der brutalen akustischen Aura-Vergrößerung durch die elektrische Gitarre bediente. Schon Bob Dylan ist also ein elektrisch verstärkter Charismatiker. Und was hinter seinen vielen Masken steckt, wissen wir nicht.

    So ist der Zuschauer der charismatischen Inszenierung immer im Zweifel. Denn was man sieht, ist notwendigerweise die Oberfläche dieser Inszenierung. Wenn wir von einem Dahinter reden, müssen wir spekulieren, imaginieren, glauben. Warum also nicht den ehrwürdigen Begriff des Charismas nicht doch auch auf Medienpersönlichkeiten und Popstars anwenden, die uns heute treuer begleiten als früher der Pfarrer seine Dorfgemeinde?

    Im Falle Bob Dylans scheint das plausibel. Doch ist es das immer noch, wenn wir von Dylan den weiten Weg zu unserem Anfangsbeispiel zurücklegen, zu Robbie Williams? Ein solcher offensiv oberflächlicher Tropf und der Begriff des Charismas scheinen weiterhin quer zueinander zu stehen.

    Der Grund dafür könnte in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes zu finden sein. Schon bei Dylan hat sich gezeigt, dass er sein Talent mit göttlichen Eingebungen verbindet. Was ihn dem Begriff des Charismas tatsächlich näher bringt. Denn das altgriechische Charisma bedeutet Gnadengabe - in der jüdisch-christlichen Tradition also das, was dem Menschen von Gott geschenkt wird.

    Im Alten und Neuen Testament bezeichnet Charisma die Gaben des Heiligen Geistes an die Christen: Weisheit, Erkenntnis, Glaube und andere mehr. Nun scheint der moderne Popcharismatiker in Gestalt von Robbie Williams von der göttlichen Weisheit denkbar weit entfernt: Seine Anziehungskraft beruht ja zu nicht unwesentlichem Teil auf seinem Versprechen höchst weltlicher Abenteuer, die mit Verführung, Sex, Drogen und anderen Exzessen zu tun haben.

    Doch vielleicht gerade weil der Pop in seinem Kern so weit von christlich fundierten Moralvorstellungen und verbindlicher Sinngebung entfernt ist, nutzt er die Erzählstrukturen und Symbole des Religiösen intensiv. Madonna, die berühmteste Popsängerin der Welt, hat, angefangen von ihrem Namen, in ihrer Karriere die christliche Symbolik geradezu ausgesaugt: Anfangs steckte sie im weißen Kleid, zurechtgemacht für die kirchliche Hochzeit katholischer Tradition, sang Like a virgin und ließ ein Kreuz zwischen ihren Brüsten baumeln. Später fingierte sie in Like a prayer Sex mit einem vom Sockel gestiegenen schwarzen Heiligen in einer Kirche, und noch im Jahr 2006 sang sie auf ihrer Tour mit dem sprechenden Namen "Confessions" einen Song am Kreuz hängend mit Dornenkrone auf dem Kopf.

    All das demonstriert jedoch weniger den christlichen Verkündigungswillen einer charismatischen Sängerin mit Namen Madonna als vielmehr die Tatsache, dass in der abendländischen Kultur christliche Symbole immer noch extrem starke Zeichen sind, die auch ohne einen explizit religiösen Inhalt an die Affekte appellieren - und sogar noch dazu geeignet sind, medienwirksame Skandale auszulösen. Das Religiöse ist hier schlicht ein Vehikel, um mediales Charisma wirklich im technischen Sinne zu konstruieren.

    Das heißt: Wenn der Pop sich christlicher Symbolik bedient, dann tut er das höchst selten, um Paulus nachzueifern und die Frohe Botschaft zu verkünden. Die Sorte kulturindustriell hergestellter Mainstream-Pop, wie sie Madonna und Robbie Williams repräsentieren, ist schlicht die eklektizistischste aller kulturellen Sparten. Und dieser Pop saugt alle Zeichen und Metaphern ein, die er nur kriegen kann, um sie als möglichst wirkungsvollen Zitatbrei wieder auszuspucken.

    Dass die sich die christliche Ikonografie immer wieder so gut in die aufwendigen Konzertinszenierungen von Stars wie Madonna einfügt, liegt vielleicht daran, dass der Figur des Popstars selbst immer noch der Mythos des Auserwählten zu Grunde liegt. Keine Musiker- oder Schauspielerbiografie kommt ohne das quasi göttliche Moment des unglaublichen Zufalls oder Glücks aus, das dafür sorgte, dass der oder die Betroffene heute keine Autos oder Schuhe verkauft, sondern von Millionen angehimmelt wird. Bei Shopping in der Fußgängerzone von der Mitarbeiterin einer Model-Agentur entdeckt - und das Topmodell Claudia Schiffer geworden. Sich mit Kellnern ihre Tanzschuhe verdient - und plötzlich einen Disco-Hit gelandet und unter den Namen Madonna als die reichste Sängerin der Welt bekannt. Und Robbie? Wurde in einem komplizierten Casting-Mitglied einer Boyband, die dann unter dem Namen Take That eine der erfolgreichsten der Welt wurde.

    Mittlerweile ist der Prozess dieser Erwählung selbst zu einem Entertainment-Programm geworden: In den beliebten Casting Shows á la "Deutschland sucht den Superstar." Die Gesellschaft kann nicht genug bekommen von dem mythischen Aufstieg einzelner - und profanisiert ihn gleichzeitig. Denn nackter als in diesen Shows kann der Kaiser Pop eigentlich nicht dastehen.

    Der Erfolg der Casting-Shows zeigt: Wir haben Spaß daran, der Kulturindustrie von ihren Glitzer-Schleiern zu entkleiden, die Maschine als Maschine zu betrachten und jede ihrer Rädchen und Schräubchen einzeln anzusehen - und nehmen seltsamerweise ihre Produkte immer noch als Stars wahr und jubeln ihnen zu. Nur eben als Stars, die wir selbst gemacht haben.

    Das Spannende dabei ist: Selbst wenn wir wissen, dass das Charisma von Stars medial produziert ist, und selbst wenn wir sogar dabei zugeschaut haben, verliert es deshalb nicht automatisch seine Wirksamkeit.

    Es ist also in der Mediengesellschaft ein Effekt eingetreten, der den frühen Analysen Walter Benjamins über die Wirkung von technischer Reproduktion auf die so genannte Aura genau entgegenläuft.

    Benjamin hatte früh die unglaublichen Umwälzungen erkannt, die die Möglichkeit der medialen Vervielfältigung bietet und sie in seinem berühmten Kunstwerk-Aufsatz dargelegt. Eine Kathedrale, so führt er aus, kann heute mühelos im Studio eines Kunstfreundes auftauchen, ein Chorwerk, das unter freiem Himmel aufgeführt wurde, per Schallplatte ins Wohnzimmer reisen. Für Benjamin entwertet diese Tatsache das Hier und Jetzt der Werke.

    Die Reproduzierbarkeit berühre die Kunst in ihrem empfindlichsten Kern: ihrer Echtheit, als Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren; ihrer Geschichtlichkeit, ihrer Autorität.

    "Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura."

    Die Reproduktionstechnik löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Sie setzt an die Stelle von Einmaligkeit das massenweise Vorkommen. Die Massen wollen sich die Dinge näher bringen, so Benjamin - und zwar räumlich und menschlich.

    "Tagtäglich macht sich unabweisbar das Bedürfnis geltend, den Gegenstand aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden. Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jener. Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren 'Sinn für das Gleichartige der Welt' so gewachsen ist, dass sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt."

    Für Benjamin war die Zertrümmerung der Aura von Kunstwerken symptomatisch, das heißt, sie weist über diesen Bereich hinaus. Das Bedürfnis, sich etwas aus nächster Nähe habhaft zu machen, beschränkt sich in der modernen Mediengesellschaft ganz offensichtlich nicht auf Kunstwerke - es gilt, und zwar fast in verschärftem Maße, auch für die Personen des öffentlichen Lebens, die Stars. Wie aber verhält sich der Begriff der Aura, bezogen auf Kunstwerke, zum Begriff des Charismas, bezogen auf Menschen?

    Zunächst einmal gibt es offensichtliche Schnittmengen. Die Aura, lateinisch Atem, Hauch, ist eine nicht-stoffliche Form der Ausstrahlung - müsste man sie verbildlichen, würde man sie als eine Art Aureole darstellen, ein leuchtender Heiligenschein. Adorno interpretiert Benjamin in der Ästhetische Theorie folgendermaßen:

    "Was hier Aura heißt, ist der künstlerischen Erfahrung vertraut unter dem Namen der Atmosphäre des Kunstwerkes als dessen, wodurch der Zusammenhang seiner Momente über diese hinausweist, und jedes einzelne Moment über sich hinausweisen lässt"

    Für Benjamin gründet die Aura in der vormodernen Verortung des Kunstwerkes im Ritual - auch diese Form der Ausstrahlung hat also, genau so wie das Charisma, ursprünglich einen Draht zur Transzendenz, von dem auch in säkulären Zusammenhängen noch ein Hauch zu spüren ist. Wie aber verändert sich Charisma unter den Bedingungen der medialen Vervielfachung? Wird es zertrümmert, so wie die Aura?

    Nun ist, 100 Jahre nach Benjamin, auch in Bezug auf die Kunstwerke die Zerstörung der Aura zu modifizieren. Natürlich ist es korrekt, dass Werke durch die mediale Vervielfältigung aus ihrem historischen Zusammenhang gelöst werden und ihrer Echtheit beraubt. Aber wir haben uns, ein halbes Jahrhundert nach Warhol, daran gewöhnt, diese Echtheit nicht mehr automatisch mit Wert zu assoziieren. Natürlich ist ein Abbild der Mona Lisa weiterhin viel weniger wert als das Original im Louvre. Aber ist nicht dieses Original durch die Tatsache, dass es millionenfach reproduziert wurde, erst für die breite Masse zum Fetisch geworden? Die Mediengesellschaft produziert ein Paradox: Wenn sie Bilder inflationär verbreitet, wertet sie sie gleichzeitig auf, brennt sie den Menschen ein, macht sie zur Ikone. Man könnte sogar sagen: Es ist das Flimmern der Bildschirme, das heute die Aura erst herstellt - eine Aura, die ihre Macht eben nicht aus der Tradition bezieht, sondern aus der Überzeugungskraft der großen Zahl.

    Für das menschliche Charisma gilt dieses Gesetz noch verstärkt. Die mediale Vervielfältigung der Person vergrößert sie ins Unermessliche. Jeder, so haben die Reality-Shows der 90er-Jahre gezeigt, kann das gewisse Etwas entwickeln, wenn er nur sein Bild millionenfach über die Bildschirme jagt. Wer von vielen angeschaut wird, verändert sich - als würden die Blicke selbst den Schein der Aura konstruieren.

    Es gibt aber noch einen dritten Begriff, der hilft, die spezifische Form von Ausstrahlung in der Mediengesellschaft zu fassen: Den des Glamours. Der Glamour siedelt ganz in der Nähe des Charismas, aber gehört trotzdem immer schon ganz in die medial vermittelte Welt der Stars; für die Popkultur ist er zentral.

    Glamour ist das medial informierte Update des Charismas. Es subtrahiert die Vorstellung von Authentizität und addiert dafür eine Menge Sexappeal und bewusst reflektierter Künstlichkeit - und landet am Ende beim gleichen Ziel, bei der verführerischen Anziehungskraft. Man könnte sogar argumentieren, Glamour wäre der moderne Begriff für das, was in einer Face-to-Face-Gesellschaft Charisma war. Tom Holert zumindest schreibt im "Begriffslexikon Zeitgenössischer Kunst":

    "Was einmal Charisma war, wurde in der Populärkultur des 20. Jahrhunderts nach und nach durch die Qualität des Glamours abgelöst."

    Für diese Parallelführung spricht, dass auch Glamour etymologisch auf Übersinnliches verweist. Tom Holert:

    "Eine frühe Wortbedeutung von Glamour ist 'Magic Spell', ein Zauber also, auch im Sinne der Fähigkeit zur Verzauberung anderer durch okkulte Praktiken. Insbesondere die Fotografie und der Film haben dieses magische Erbe übernommen, um die Stars der silbernen Leinwand mit einer übersinnlichen Aura auszustatten."

    Allerdings ist ein Zauberspruch etwas ganz anderes als eine Gottesgabe. Der Zauber ist ein Trick, derer sich die Menschen bedienen, und eben kein Geschenk der Natur oder eines Gottes. Etymologisch verweist Glamour auf "grammar" - die lehre, die Grammatik, zur Herstellung eines Zaubers.

    Und wirklich wurde der klassische Glamour der Filmstars in der Glamourfotografie der 30er- und 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts buchstäblich hergestellt. "Platinblond" war die Devise der Filmproduktionsstudio MGM, und Stars wie Jean Harlow wurden von den Fotografen in ein silbrig flimmerndes Engelslicht getaucht.

    Das heißt: Glamour trägt von Anfang an den Aspekt der Künstlichkeit in sich. Und mit ihm noch ein ganzes semantisches Feld, das der Vorstellung des Charismas entgegensteht. Glamour wird an der Oberfläche verortet, es gehört zur Welt des schönen Scheins, ist flüchtig, vergänglich, manchmal billig, hurenhaft - und: Glamour ist überwiegend weiblich.

    Wie diese Glamour-Produktion funktioniert, hat der Regisseur Josef von Sternberg 1963 in seinen Erinnerungen an seine Arbeit mit Marlene Dietrich wunderbar beschrieben. Für ihn dient Glamour dazu, eine Vorstellung von sexueller Hingabe zu evozieren.

    "Glamour ist die Fähigkeit, provozierend, schmachtend, verzückt, faszinierend, hinreißend und bezaubernd zu sein. Alles das, um die emotionale Empfänglichkeit des Betrachters zum Vibrieren und Schwingen zu bringen. Glamour kann ebenso, wenn auch nur eine rein ästhetische Befriedigung hervorrufen, die von jedem primitivem Impuls frei ist, indem zunächst dem Körper alles Blut entzogen wird.
    Wenn eine Frau einmal in einer Weise präsentiert worden ist, die diesen latenten Zauber auslöst, kann kein enttäuschender und nüchterner Kontakt mit dem Original dieses geschickten Bildes die betrügerische Vorstellung auslöschen. Sie können nachher verglich danach suchen, aber suchen werden sie danach. In einer Hinsicht begeht der Fotograf, der ein weibliches Wesen mit Charme und Eigenschaften bekränzt, die nicht ihr eigen sind, einen Betrug, denn diese Kreatur, die er geschaffen hat, existiert in Wirklichkeit nicht."


    Klar in dieser Beschreibung ist: Nicht die Frau vor der Kamera, der Fotograf hinter der Kamera ist es, der den Glamour produziert. Josef von Sternberg ist der Schöpfer des "Blauen Engels", die Dietrich wie eine leere Leinwand, auf die er seine Kunst aus Licht und Schatten projizieren kann.

    "Glamour auf einer Fotografie heißt Behandlung der Oberfläche - einer Oberfläche, die nicht einmal hauttief ist: sie ist so tief wie das Papier, auf dem das Bild reproduziert wird. Falls das noch nicht genügend klar geworden ist: innere Schönheit und äußere Schönheit haben nicht dieselbe Adresse."

    Damit ist Glamour bei dem genauen Gegenteil des Charismas angekommen. Wo Charisma ursprünglich auf die innere Erleuchtung verweist, die sich dann - bei Christus, Obama oder Bob Dylan - nach außen kehrt, ist Glamour das Glitzern der leeren, wertlosen Hülle. Und man ist bei den ältesten Zuschreibungen der Geschlechtlichkeit: Das Weibliche ist oberflächlich, das Männliche substanziell. Und weil Glamour zu Weiblichkeit, nicht zu Männlichkeit passt, so Josef von Sternberg, wirkt die Garbo auf uns heute immer noch, Rodolfo Valentin dagegen ist eine lächerliche Figur geworden.

    Allerdings: Seit Josef von Sternberg und Marlene Dietrich hat die Mediengesellschaft einiges dazu gelernt. Die Strategien des Glamours sind seitdem von Frauen wie von Männern in durchaus selbstbewusster Form eingesetzt worden. Die Maske hat ihren schlechten Ruf verloren, und das verführerische Spiel mit den Identitäten gilt als ein Weg der Befreiung aus den Fesseln der konventionellen Geschlechtszuschreibungen.

    Die Popkultur hat Glamour immer wieder als Waffe eingesetzt - gegen die Authentizitätsposen der Hippies und Rocker zum Beispiel, deren Echtheits-Inszenierung sich so abgenutzt hatte, dass sie in die Nähe der Lüge kam.

    Glamour ist der frühe David Bowie mit seinen androgyn überdrehten Kostümierungen. Glamour ist das offensiv künstliche Blond aller Marilyn-Monroe-Nachfolgerinnen dieser Welt. Glamour ist die Antwort des Pop auf die Zumutungen, die die Forderung nach Authentizität in einer künstlichen Medienwelt bedeutet.

    All das heißt aber nicht, dass Glamour in der Popkultur den Begriff des Charismas beerben und überflüssig machen kann. Denn der Begriff des Glamours bleibt mit dem Flatterhaften verknüpft, mit einer bestimmten Art des Pop, der offensiv auf die Oberflächen setzt und aus einem paar Stöckelschuhen im Handumdrehen eine - gern auch mal transsexuelle - Verführungsszene macht. Aber das ist eben nur ein Teil des Pop. Es gibt auch hier eine Form der Ausstrahlung, die nicht nur auf Erotik setzt. Die das Innere zum Argument macht. Und für die passt der Begriff des Charismas sicherlich besser.

    Wichtig wäre, zu erkennen, wie sehr beide Begriffe immer noch geschlechtsspezifisch konnotiert sind. Glamour ist meistens ein Attribut von Frauen, oder, noch offensiver, von transsexuellen oder homosexuellen Männern - es ist die Strategie der Verwirrung zum Zwecke der Verführung. Charisma dagegen ist das Gegenteil von quer: Charisma ist seriös, bodenständig, männlich.
    Dabei wäre, wenn wir nur genauer hinschauen, vielleicht beides zu finden: Frauen mit Charisma, glaubwürdig und überzeugend. Männer mit Glamour, blendend und verführerisch.

    Gleichzeitig kann der Blick auf die Popkultur helfen, den Begriff des Charismas illusionsloser einzuschätzen. In einer Mediengesellschaft ist Charisma immer ein medialer Effekt, und Authentizität ist auch ein Marketing-Instrument. Das muss man nicht bedauern - das muss man nur wissen.