Charles Koechlin - ''La course de printemps'' u.a.
Ende des 19. Jahrhunderts gab es im "alten Europa" ein breites Interesse an allem Außereuropäischen, Exotischen, an fremden Kulturen und anderen Lebensweisen. Dem aus einer elsässischen Industriellenfamilie stammenden jungen Musiker Charles Koechlin hatte es der Dschungel angetan, vermittelt durch das auch heute noch berühmte Buch von Rudyard Kipling, das "Dschungelbuch" mit dem kleinen Mowgli, der unter Tieren aufwächst und von einem starken Tiger und einem freundlichen Bären geschützt wird. 1895 war dieses Buch auf französisch erschienen, vier Jahre später hatte es Koechlin gelesen, und die Bilder-, Gedanken- und Klangwelt dieses Romans ließen ihn bis zum Ende seines langen Lebens nicht mehr los. Immer wieder griff er das Thema auf, so dass er als eins seiner Hauptwerke schließlich einen Zyklus Sinfonischer Dichtungen hinterließ, die sich in unterschiedlichen Stilen diesem Thema widmen. * Musikbeispiel: Charles Koechlin - Aus: "La course de printemps", op. 95 Zur Musik gelangte der 1867 geborene Charles Koechlin zunächst auf Umwegen. Sein Vater empfahl ihm eine Offiziers-Karriere, sein eigener Lieblingsberuf war lange der des Astronoms, irgendwo angesiedelt zwischen träumerischer Phantasie und exakter Wissenschaft – seine spätere Vorliebe für Nachtstücke und komponierte Nachtstimmungen kommt vielleicht daher. Doch zunächst schlug das Schicksal zu: in Form einer schweren Tuberkulose-Erkrankung. Koechlin unterbrach sein Studium an der technischen Hochschule, und während der langen Genesungszeit reifte der Entschluss, Musiker zu werden. Auch das hat ja viel mit Phantasie, in vielerlei Hinsicht aber auch mit Technik zu tun. Am Pariser Conservatoire studierte er unter anderem bei Massenet und Gabriel Fauré, der schon früh seine Begabung für die Klangfarbe entdeckte und ihm die Aufgabe übertrug, seine Suite "Pelléas et Mélisande" für großes Orchester einzurichten. Doch Koechlin gab sich mit Intuition und reiner Begabung nicht zufrieden: später in seinem Leben widmete er sich mit wissenschaftlicher Gründlichkeit der schier unerschöpflichen Möglichkeiten, die ein Orchester in klanglicher Hinsicht bietet und versuchte, in einem immerhin vierbändigen Lehrwerk die Geheimnisse der Instrumentation zu ergründen und eine Vielzahl neuer Klangkombinationen systematisch zu entwickeln. Dies führte dazu, dass er zeitweise eher als Theoretiker denn als Komponist geschätzt wurde. Außerdem hatte er wohl eine Arbeitsweise, die einer stringenten Vermarktung durch Verlage und den Konzertbetrieb entgegenstand: er arbeitete über Jahre parallel an unterschiedlichen Werken, ließ vieles erst einmal lange unvollendet liegen, holte es dann wieder hervor, ließ sich aufs Neue ein mit dem damals Geschaffenen, wobei sich inzwischen vieles in seinem Stilempfinden geändert haben konnte...So hinterließ er, als er 1950 starb, sozusagen eine Werkstatt mit einem großen Oeuvre in diversen Fertigstellungs-Zuständen und von unterschiedlicher Qualität. Es spiegelte die Entwicklung einer langen, von vielen Umbrüchen und einer Vielzahl neuer Stile gekennzeichneten, höchst abwechslungsreichen Epoche wider: Späte Romantik, Impressionismus, Atonalität, Klangfarbenkomposition, Bitonalität, Neoklassizismus und wie die Schlagworte sonst noch lauten mögen. Auch als Pädagoge und engagierter Zeitgenosse hat Koechlin diese Epoche mitgeprägt. 1909 gründete er zusammen mit Maurice Ravel und Florent Schmitt eine unabhängige Gesellschaft zur Förderung der zeitgenössischen Musik, 1918 wird er Mitglied der Gruppe "Les nouveaux Jeunes", wo auch Eric Satie, Albert Roussel und Darius Milhaud mitmachen, in den 30er Jahren sympathisiert er mit den Kommunisten und versucht, eine Musik "für das Volk" voranzubringen. * Musikbeispiel: Charles Koechlin - aus: "Le buisson ardent", Teil 2 Eine neue CD von hänssler classic in der gemeinsam mit dem SWR herausgegebenen Reihe "Faszination Musik" bietet zwei Orchesterwerke von Charles Koechlin, gespielt vom Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter der Leitung von Heinz Holliger: Die Tondichtung "La course de printemps" aus dem eingangs erwähnten "Dschungelbuch-Zyklus" und die Tondichtung "Le buisson ardent". Der Kauf dieser CD lohnt sich vor allem wegen des zweiten "Feuerbusch"- Stücks von 1945, das von den Radio-Musikern mit großer analytischer Qualität, aber auch starkem emotionalen Engagement dargeboten wird. Vom "Frühlingslauf" aus dem Dschungelbuch gibt es dagegen eine klanglich viel ausgefeiltere, spieltechnisch deutlich bessere Aufnahme aus dem Jahre 1993 mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter Leitung von David Zinman, eine wirkliche Studio-Produktion, die in diesem Fall dem Stuttgarter Livemitschnitt mit allen seinen unkorrigierbaren Ungenauigkeiten weit überlegen ist. Inhaltlich schildert dieser "Frühlingslauf" den jungen Mowgli, der, aufgezogen von Bär und Tiger, plötzlich in allen Fasern seines Körpers ein neues Gefühl spürt: er wird erwachsen. Merkwürdige Ahnungen und Empfindungen lassen ihn daran glauben, ein Gift eingenommen zu haben. Mit einem Lauf durch den Dschungel ("La course de printemps") will er dieses Gift loswerden, doch er kann seinem Schicksal nicht entkommen, es zieht ihn zu den Menschen. Einen ganz ähnlichen Durchbruch, eine Art Wiedergeburt, erlebt auch die Titelfigur Jean-Christophe des Künstlerromans von Koechlin-Freund Romain Rolland. An einer Stelle zieht sich Jean-Christophe in völliger Desillusionierung in die Berge zurück, depressiv und enttäuscht von der Welt. * Musikbeispiel: Charles Koechlin - aus: "Le Buisson ardent" Doch dann gibt es eine Veränderung: Der Frühlingsföhn, die warmen Winde, tauen Natur und seelische Starre des Menschen gleichermaßen wieder auf, was für Koechlin wie eine Art Wiedergeburt nach dem Tod wirkte. "Le buisson ardent", dieser brennende Busch ist nicht der aus der Bibel. Aber , so schreibt es der Dirigent dieser Aufnahme, Heinz Holliger, im Beiheft zur CD, "aber es ist der Feuerbusch, der die Intensität des Blühens und des Frühlings wiedergibt. Er ist das Symbol des wieder auferstandenen Lebens und war für Koechlin eine Art Selbsttherapie. Nach dem Ausbruch des 2. Weltkriegs hat(te) Koechlin kaum mehr komponiert und (war) in eine Art Starre gefallen. Er, der früher jeden Tag hunderte von Seiten vollgeschrieben und sich erst langsam anhand von kurzen Solostücken wieder regeneriert hat(te), wurde so wieder schöpferisch aktiv." * Musikbeispiel: Charles Koechlin - aus: "Le Buisson ardent" Im 2. Teil dieser Tondichtung "Der brennende Busch" von Charles Koechlin wird diese Wiedergeburt dargestellt von einem seltsamen Klang, erzeugt von den "Ondes Martenot", dem Lieblingsinstrument der 30er Jahre in Frankreich, das seine Töne elektronisch erzeugt, aber eine starke Sinnlichkeit dadurch bekommt, dass man auf einem Band, das der Spieler mit dem Daumen berührt, die Tonhöhen ganz fein dosieren kann. Auch über die Tasten ist es möglich, ähnlich wie bei einem Clavicord, durch Vibrati und andere feine Schattierungen den Melodiecharakter zu beeinflussen. * Musikbeispiel: Charles Koechlin - aus: "Le Buisson ardent"