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Charlotte Kerr gegen den Rest der Welt

In einem stattlichen Band mit literaturkritischen Aufsätzen zu Schweizer Autoren hat sich der Verfasser Hugo Loetscher Freunde und eine Feindin gemacht. Die Witwe von Friedrich Dürrenmatt, die Schriftstellerin und Schauspielerin Charlotte Kerr, sah sich durch einige böse Seiten Loetschers angegriffen und beleidigt, weil Loetscher ihr vorwarf, Dürrenmatts Tod inszeniert zu haben und für sich genutzt zu haben.

Von Joachim Güntner | 30.03.2005
    Die neue Klagesucht, die uns in letzter Zeit mehrfach Gerichtsverfahren über Bücher beschert hat, scheint ein wahrlich hochinfektiöses Virus zu sein. Es befällt mittlerweile selbst jene, die man für immun hielt, weil sie selber schriftstellerisch tätig sind und es darum eigentlich besser wissen müssten. So hat Charlotte Kerr, die schreibende Witwe Friedrich Dürrenmatts, einen Kollegen verklagt, nämlich den Schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher. Sie klagt auf Unterlassung. Loetscher soll nicht mehr verbreiten dürfen, was er in einem Buch über die Trauerfeierlichkeiten für den 1990 verstorbenen Friedrich Dürrenmatt berichtet. Nächste Woche Dienstag geht das Verfahren vor dem Landgericht Berlin in seine erste Runde.

    Der Diogenes-Verlag brachte Loetschers Buch, eine Sammlung mit dem Titel "Lesen statt klettern - Aufsätze zur literarischen Schweiz", Ende August 2003 heraus. Der Band verkaufte sich für ein literaturkritisches Werk ausnehmend gut; darüber hinaus geschah monatelang nichts. Dann aber erschien in der "FAZ" eine Rezension von Heinz Ludwig Arnold. Seine beiden Schlussabsätze widmeten sich dem Dürrenmatt-Kapitel bei Loetscher, urteilten beißend über die Witwe des toten Schriftstellers und endeten mit der Behauptung, Charlotte Kerr sei als Weggefährtin Dürrenmatts eine "Fehlbesetzung" gewesen. Pikanterweise liess die Rezension durchblicken, dass Dürrenmatt selbst dieses Urteil gefällt habe. Daraufhin zog Frau Kerr den Rezensenten vor den Kadi. Mit nur mäßigem Erfolg: Die Richter billigten Arnold weitgehende Meinungsfreiheit zu, nur dürfe er künftig nicht mehr sagen, dass Dürrenmatt selbst seine Quelle für das böse Wort von der Fehlbesetzung sei.

    Das alles steht, wohlgemerkt, nicht in Loetschers Text, sondern allein bei Arnold. Aber sei es, dass der vor dem Landgericht München geschlossene Vergleich für Charlotte Kerr ein Stachel blieb, sei es, dass sie sich nun auf Hugo Loetschers Buch als Ursache ihrer schlechten Presse besann - jedenfalls wendete sie ihren juristisch angespitzten Ärger dem Schweizer Schriftsteller zu. Diesmal mit Gerichtsort Berlin. Ob aber wirklich die Berliner Richter weniger liberal urteilen als die Münchner, bleibt abzuwarten.

    Es sind nicht wenige Stellen, die Frau Kerr in Loetschers Text gern getilgt sähe: Allem voran ein wohl ziemlich frei wiedergegebenes Telefonat zwischen ihm und ihr. Sodann, wie Loetscher den Ablauf der Trauerfeier im Dürrenmattschen Hause schildert, insbesondere das Verhalten der Witwe. Im weiteren die Lage und die Kleidung Dürrenmatts auf dem Totenbett - oder wann wessen Rosen auf dem Sarg lagen, wer als erster zum Leichenschmaus ans Buffet schritt und anderes mehr, lauter Dinge, die laut Klageschrift erstens die Intimsphäre der Klägerin verletzen und zweitens unwahr sein sollen. Anders als in der Streitsache Kerr gegen Arnold, wo die Pressefreiheit zur Debatte stand, geht es beim Streit gegen Loetscher um den Konflikt zwischen Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit.

    Versuche gütlicher Einigung im Vorfeld sind gescheitert. Wir erwarten nächsten Dienstag eine anregende Verhandlung, bei der allerdings schon jetzt klar ist, welche Seite sich zwangsläufig blamieren wird, und zwar unabhängig vom Urteil. Loetschers Buch hat sich über zehntausendmal verkauft, da käme es auf das Verbot einer Nachauflage gar nicht mehr an. Die für Charlotte Kerr kränkenden Details sind längst in der Welt. Mit dem Prozess sorgt sie nur für weitere Entblößungen.