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Charmant und witzig

Einerseits verordnet Schatzkanzler George Osborne den Briten Kürzungen in Höhe von 83 Milliarden Pfund, andererseits unternimmt er nichts gegen Großkonzerne, die Steuern in Höhe von rund 25 Milliarden Pfund pro Jahr hinterziehen. Viele Briten sind sauer und protestieren - auf etwas ungewöhnliche Art.

Von Ruth Rach |
    Zwei Dutzend Schulkinder stehen in der südenglischen Kleinstadt Lewes vor einer Filiale von Boots, der groβen britischen Drogeriemarktkette. Sie haben sich als Zombies verkleidet und verteilen Plakate.

    "Reiss dich am Riemen, Boots, und zahl deine Steuern."

    Vor kurzem verlegte Boots seinen Hauptgeschäftssitz in die Schweiz - und reduzierte damit seine Steuerrechung von 100 auf gerade noch 14 Millionen Pfund, steht auf dem Flugblatt. Mit der Differenz könnten 4000 Krankenschwestern bezahlt werden, so rechnen die jungen Demonstranten vor. Doch, statt Schlupflöcher für Steuerflüchtlinge zu stopfen, demontiere die Regierung lieber den staatlichen britischen Gesundheitsdienst.

    Ich finde das total unfair: sagt der elfjährige Ben, der in vorderster Reihe demonstriert: seine Eltern zahlten doch auch ihre Steuern, und die hätten viel weniger Geld als Boots.

    Ben hat sogar seinem Hund Bertie ein Zombie-Kostüm verpasst. Denn, wenn die Regierung so weitermache, würden alle auf den Hund kommen, und aussehen wie ein Zombie.

    Das ist eure Demo, denkt bitte an eure Manieren, mahnt die Lehrerin. Auch sie trägt ein abgerissenes Leichenkleid. Und strahlt über das ganze Gesicht. Finde ich toll, dass die Kinder protestieren, sagt ein älterer Herr.

    Er kaufe grundsätzlich nicht mehr bei Boots ein. Eine Passantin widerspricht: so ein Unsinn, wenn das Staatssäckel leer sei, müsse gespart werden.

    Die Kinder gehen in den Drogeriemarkt und stecken diskrete selbstgemalte Kärtchen in die Regale, um die Kunden über Steuertricks britischer Multis aufzuklären Dutzende von Polizisten formieren sich vor dem Eingang. Vor zwei Wochen wurde Bens Oma bei einem Protest-Picknick vor Boots festgenommen, doch diesmal greift niemand ein.

    Das ist Demokratie, sagt die Türsteherin von Boots mit stark osteuropäischem Akzent. Und läβt die Kleinen gewähren. Mit den Kindern haben sich jetzt auch Erwachsene solidarisiert. Ein Vater greift zum Megaphon.

    Die Aktion richtet sich nicht gegen die Angestellten von Boots, schlieβlich haben auch ihr unter den Sparplänen zu leiden. Und sie ist nicht gegen euch Polizisten, denn auch bei euch wird gekürzt ...

    Ob in Brighton, Bristol, Birmingham, Lewes, Liverpool oder Edinburgh, Uk Uncut gewinnt landesweit Zulauf. Die ersten Aktionen wurden im Oktober 2009 von einer Handvoll junger Leute in einem Pub in Nordlondon ausgeheckt, um die in Groβbritannien durchaus legalen Steuertricks britischer Multinationals wie Vodafone und Arcadia blosszustellen. Schauplatz ihrer Sitzblockaden, Dichterlesungen, Sketcheinlagen, waren zunächst Geschäfte in der Londoner Oxford Street. Die Aktionen fanden, über Twitter, Facebook und Internet verbreitet, rasch landesweit Nachahmer

    Wir haben ja gesehen, dass konventionelle Protestmärsche von A nach B wenig bringen, und dass es viel zu lange dauert, um sie zu organisieren, meint James, ein Student. Direkte Aktionen hingegen, möglichst originell und friedlich konzipiert, von autonomen lokalen Grüppchen organisiert, kämen blitzschnell zustande, und hätten wesentlich mehr Aufklärungskraft und Publicity.

    Inzwischen haben sich in der Fuβgängerzone in Lewes lebhafte Diskussionsgrüppchen gebildet. Eine ältere Dame sammelt Unterschriften.

    Vor ein paar Wochen haben die Leute noch gesagt: Die Kürzungen sind notwendig. Aber das hat sich geändert. Jetzt kriege ich jede Woche 80 bis 100 Unterschriften. Die Leute bekommen die Kürzungen am eigenen Leib zu spüren, und sagen, es gibt eine einfache Alternative: die radikale Umverteilung der Steuerlasten. Immer mehr sehen dass die Superreichen auf unsere Kosten immer reicher, und die Zustände in unserer Gesellschaft immer ungerechter werden.

    In den nächsten Wochen werden sich die Aktionen vermehrt gegen Banken richten, sagt Ed, ein Designer Mitte 30. Ed kommt gerade von einer Sitzblockadein vor der Barclays Bank in Brighton zurück.

    Ich kämpfe schon seit Jahren für grüne Belange. Da zieht die Öffentlichkeit lange nicht so mit. Aber wenn Barclays über elf Milliarden Pfund Profit erwirtschaftet und gleichzeitig nur ein Prozent Körperschaftssteuern bezahlt, da regen sich die Leute echt auf. Ich denke, dass 95 Prozent der Bevölkerung hinter uns steht. Diese Kampagne hat Zukunft.