Niklas Potthoff: Seit einem Jahr ist klar, dass die Special Olympics 2023 nach Berlin kommen. Am Donnerstag wurde der Vertrag unterzeichnet. Was für einen Eindruck haben Sie von den Vorbereitungen auf das Event?
Tim Shriver: Die ganze Vorbereitung ist etwas besonderes, weil die Athleten bei der Planung und der strategischen Arbeit von Beginn an mit dabei sind. Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen, die von vorn herein mit einbezogen sind in die Spiele. Das werden keine Spiele für Athleten sein, sondern Spiele von Athleten. Das ist eine weitreichende Verbesserung und eine weitreichende Innovation in der Vorbereitung der Special Olympics. Außerdem habe ich mich gerade mit Vertretern aller politischer Parteien in Deutschland getroffen. Die haben ja wirklich sehr unterschiedliche Ansätze. Aber wenn es darum geht, mehr Möglichkeiten im Sport für Menschen mit geistigen Behinderungen zu schaffen, dann kann man denke ich sagen: Da gibt es Einigkeit.
Potthoff: Sie sind seit 1996 bei den Special Olympics. Wie ist es für Sie den Fortschritt zu sehen, den die Special Olympics in der Zwischenzeit gemacht haben?
Shriver: Ich bin wirklich erstaunt. Wissen Sie, die Leute aus der Strategie-Abteilung würden sagen: Wir hatten wirklich große und kühne Ziele. Und wenn man solche Ziele hat, also dich, was die Größe angeht zu verdoppeln, in hunderte neue Länder und Gemeinden über all auf der Welt hinein zu wachsen, dann macht man ein Zielkonzept. Aber ein Teil von mir hat immer gedacht: Naja, die sind zu groß, um sie zu erreichen, aber sie werden uns motivieren. Doch dann haben unsere Freiwilligen und Athleten die größten Ziele, die wir hatten, immer wieder erreicht. Vor 20 Jahren hatten wir weniger als eine Million Athleten und heute haben wir fünf Millionen Athleten. Vor 20 Jahren waren wir in ungefähr 120 Ländern, heute in fast 200. Also unsere Bewegung erreicht Ziele, von denen wir vor einer gewissen Zeit nur zu träumen gewagt haben. Auf der anderen Seite bin ich ehrlicherweise nicht überrascht. Weil, wenn ich mir unsere Athleten und Freiwilligen ansehe, dann merke ich: Auf vielen Ebenen sind sie nicht zu stoppen. So etwas wird gerne mal dahin gesagt, aber ich meine es auch so. Ich glaube, dass es nichts gibt, was diese Bewegung nicht erreichen kann.
Ein Sportsystem schaffen, das Menschen im Sport hält
Potthoff: Sie haben viel über die Einstellung der Athleten gesagt. Sätze wie: "Es geht nicht so sehr darum, wie du ins Ziel kommst, sondern mit wem du ins Ziel kommst. Es geht nicht so sehr darum, wen du schlägst, sondern mit wem du ins Ziel kommst." Was glauben Sie, dass Sie die restliche Sportwelt von der Einstellung der Special Olympcis lernen können?
Shriver: Nun, ich glaube, der Rest der Sportwelt muss als erstes lernen, wie man ein Sportsystem schafft, das Menschen im Sport hält. Der Großteil der Sportwelt basiert immer noch auf der Idee: wenn dich jemand besiegt, dann bist du aus dem Spiel. Man fragt die Leute: Wann haben Sie mit dem Sport aufgehört? Die meisten sagen dann mit 12 oder 13. Fragt man sie: Warum haben Sie aufgehört? "Nun, ich war nicht gut genug." Das ist doch lächerlich. Niemand sagt, man solle aufhören zu lesen, wenn man ein langsamer Leser ist. Es ist ein verrücktes System. Unser Modell ist: Du spielst weiter, so, wie du kannst. Wir haben ein passendes Rennen für dich, wir haben ein Spiel für dich. Ganz gleich, was du kannst, wir haben ein Team für dich. Das ist das Erste, was der Rest der Sportwelt lernen könnte: Versuchen Sie, Modelle zu finden, bei denen alle im Spiel bleiben, anstatt raus zu fliegen. Ich glaube, das zweite ist, dass man lernt, aus Freude am Spiel dabeizubleiben und nicht wegen der Belohnung für das Ergebnis am Ende. Niemand lehrt diese Lektion besser als die Athleten der Special Olympics.
Potthoff: Die Olympischen Spiele waren in den letzten Jahren vermehrt der Kritik ausgesetzt. Unter anderem, weil es dieses gigantische Riesenevent geworden ist und den Kontakt zum olympischen Charakter verloren habe. Sehen Sie das auch so?
Shriver: Nun, ich denke, die olympische Bewegung inspiriert die Menschen auf der ganzen Welt immer noch. Der olympische Geist hat für sie noch immer eine Bedeutung. Die Olympischen Spiele selbst ziehen die Aufmerksamkeit von Milliarden von Menschen auf sich. Ich glaube, wir alle wollen immer noch zu Menschen aufschauen, die Außergewöhnliches leisten können. Und die olympische Bewegung hat immer noch die Kraft, davon zu träumen: WOW, was Menschen tun können, ist wunderbar. Und ich denke, das wird auch weiterhin so bleiben, das hoffe ich.
Potthoff: Was sind die nächsten wichtigen Aufgaben und Ziele der Special Olympics?
"Gebt ihnen eine Perspektive!"
Shriver: Hier in Deutschland scheinen nur acht Prozent der Menschen mit geistiger Behinderung Sport zu treiben. Wir müssen also zunächst einmal 50, 75, 80 Prozent der Menschen in Deutschland auf das Spielfeld bringen. Ihnen eine Chance geben. Bringt sie in Sportvereine, bringt sie in Sportorganisationen, gebt ihnen eine Perspektive! Sport ist ein lebensrettendes Geschenk für diese Menschen. Die Bedrohung für ihr Leben kann Einsamkeit sein, es kann Isolation sein, es kann Spott sein, es kann Demütigung sein, es kann Ungerechtigkeit sein. Aber in diesen Fällen kann der Sport diese Dinge verändern - und sie stoppen. Wir müssen die Möglichkeiten erweitern. Also - ich glaube, wir werden in den nächsten Jahrzehnten eine Bewegung erleben, in der die Zahl der Teilnehmer stark zunimmt. Und dann werden wir eine große Erweiterung dessen erleben, was wir als "Unified Sport" bezeichnen, nämlich die Zusammenführung von Menschen in einer Mannschaft. Und dann haben wir die Inklusionsrevolution, die wir schon jetzt einleiten. Das heißt, wir haben nicht nur eine Bewegung für Menschen mit geistigen Behinderungen, sondern auch eine Bewegung, die von ihnen selbst ausgeht und die den anderen sagt, wie sie andere mit einbeziehen können. Das ist dringend notwendig.
Potthoff: Sie wurden das sicher schon oft gefragt, aber: Von all der Zeit, die Sie bei den Special Olympics involviert waren - gibt es ein Highlight, was heraussticht? Ein Moment, der besonders in Erinnerung geblieben ist?
Shriver: Das ist eine gute Frage, die ist mir noch nicht gestellt worden. Ich werde Ihnen eine Antwort geben, die Sie nicht erwarten. Ich würde sagen: Heute, wenn Sie Nyasha Derera zugeschaut haben, dem Sprecher der Special Olympics-Athleten bei seiner Rede vor den Bundestagsabgeordneten. Es gibt so viele Momente, bei denen ich das Gefühl habe, etwas gesehen zu haben, das ich vorher nicht gesehen habe. Und das ist eigentlich das Geheimnis unserer Bewegung - nämlich, dass selbst, wenn Sie hundertmal, tausendmal aufgepasst haben, dass Sie etwas sehen werden, das Ihr Leben heute verändern wird.
"Die Athleten der Special Olympics werden die Stadt zusammenbringen"
Potthoff: In den sozialen Medien haben Sie zuletzt ein Video von Kobe Bryant gepostet. Welche Verbindung hatte er zu den Special Olympics, wie wichtig ist die Förderung von Athleten wie Kobe Bryant für die Special Olympics?
Shriver: Er war großartig für uns - sowohl in Los Angeles als auch auf seinen Reisen in China und anderen Teilen der Welt. Dort hat er sich um Veranstaltungen mit Special-Olympics-Athleten gekümmert, hat gespielt, trainiert, war dabei und hat gejubelt. Wenn ich die Reaktion auf seinen tragischen Tod und den seiner Tochter und all der anderen Menschen in diesem Hubschrauber sehe, fällt mir auf, wie hungrig wir alle nach Vorbildern sind, nach Menschen, die uns vereinen, die uns zusammenbringen. Ich wage zu behaupten, dass genau das in Berlin geschehen wird: Die Athleten der Special Olympics werden die Stadt zusammenbringen. Und ich hoffe, dass Kobe Bryant viele Vermächtnisse haben wird, die die Menschen daran erinnern, nach solchen "Vereinigern" zu suchen. Und wenn Sie danach suchen, finden Sie vielleicht Kobe, Sie finden vielleicht LeBron James, aber Sie finden auch Nyasha Derera, und die Athleten für die Special Olympics, und dann werden Sie das ganze Ausmaß ihrer Stärke sehen.
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