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Chefdirigent der Stammzellen

Biologie. - Stammzellen spielen bei der Entstehung eines Embryos aus einer einzelnen Zelle eine Schlüsselrolle. Eine Kernfrage der Biologie ist, auf welche Art die Stammzellen dabei gesteuert werden. Schweizer Krebsforscher sind der Antwort nun einen wichtigen Schritt näher gekommen. Der Wissenschaftsjournalist Michael erläutert ihn im Gespräch mit Monika Seynsche.

Monika Senyche im Gespräch mit Michael Lange |
    Senysche: Wer dirigiert die Stammzellen und wie werden sie dirigiert? Zu diesen Kernfragen der Biologie stellen Schweizer Krebsforscher heute neue Ergebnisse in der Fachzeitschrift Developmental Cell vor. Michael Lange, was haben die Schweizer Forscher denn herausgefunden?

    Lange: Die Wissenschaftler haben einen Faktor untersucht, den sie schon kannten: ein Eiweiß, das um den Embryo herumschwimmt. Das muss man sich so vorstellen: Ein Embryo besteht in dieser ganz frühen Phase aus vier oder acht Zellen. Um ihn herum ist ein Blase und in dieser Blase gibt es eine Flüssigkeit. Die Embryonen stellen selbst ein Eiweiß her, das sie in diese Flüssigkeit abgeben. Und die Schweizer Wissenschaftler vom Schweizer Institut für Experimentelle Krebsforschung hatten die Idee, dass dieses Eiweiß ein ganz wichtiges Eiweiß sein könnte, und wollten untersuchen, wie es funktioniert. Das Eiweiß heißt Nodal, kommt vom englischen "node", Knoten. Dieses Eiweiß scheint tatsächlich der Chefdirigent zu sein.


    Senysche: Und wie arbeitet dieser Dirigent?

    Lange: Das haben die Forscher jetzt in "Developmental Cell" veröffentlicht. Sie haben in Mäuseexperimenten getestet, ob sich dieses Eiweiß irgendwie an- und ausschalten lässt, und haben gefunden, dass dieses Eiweiß in der Natur gespalten wird. Immer wenn dieses Eiweiß, Nodal, gespalten wird, fördert es die Stammzelleneigenschaften, also dass Zellen sich teilen, dass Zellen jung bleiben, dass Zellen alle Möglichkeiten offen behalten. Und wenn dieses Eiweiß, Nodal, nicht gespalten wird, dann entwickeln sich die Zellen, sie differenzieren sich, werden zu verschiedenen Geweben, Hautzellen, Muskelzellen oder Nervenzellen. Diese beiden Wege stehen sozusagen offen. Man kann es sich vorstellen wie bei einem Dirigenten, der den Taktstock hebt und senkt. Das sind schon mal zwei Befehle, die die Schweizer Forscher jetzt entschlüsselt haben.

    Senysche: Ist denn Nodal der einzige Chef oder gibt es da noch mehr?

    Lange: Es gibt ganz sicher mehrere Chefs, aber er scheint in der frühen embryonalen Phase, also wenn wirklich dieser Embryo nur aus vier bis acht Zellen besteht, der oberste Chef zu sein, in dieser frühen Zeit. Es gibt noch andere Zellen, die noch um diese Blase herumsitzen, das sind Nährzellen. Es gibt die Zellen, aus denen später die Plazenta, also der Mutterkuchen entsteht. Auch die bilden Faktoren, auch die bilden Eiweiße. Man muss sagen, man weiß auch noch nicht ganz genau, ob dieses Taktstock-Heben und -Senken nun der einzige Befehl ist, den dieser Chefdirigent drauf hat. Man kann sich durchaus vorstellen, dass es auch weitere Befehle gibt, die wirklich auch an verschiedene Zellen in diesem Embryo gerichtet werden.

    Senysche: Aber wie muss ich mir das denn vorstellen: Die Zellen entwickeln sich ja in ganz unterschiedliche Organe. Das heißt, er muss doch unterschiedliche Signale geben?

    Lange: Ja, muss er eigentlich. Ganz klar: Wenn wir acht Zellen im Embryo haben, dann müssen die einen später mal zu Gehirnzellen werden, die anderen müssen zu Hautzellen werden, das heißt, die Entwicklung geht auseinander. Das Signal in dieser chemischen Suppe, in dieser Blase, muss eigentlich gleich sein, ist es aber nicht. Es gibt Gradienten, das heißt, es gibt spaltende Enzyme, die diesen Nodal-Faktor spalten, und die Spaltung ist ja wichtig, haben die Schweizer Forscher herausgefunden. Und damit können Gradienten entstehen. Gradient bedeutet: Die Konzentration ist in der einen Seite der Blase größer als in der anderen. Und so könnte man sich vorstellen, dass es noch weitere Faktoren gibt, die auch Gradienten bilden und damit ganz genaue Befehle geben wie von einem Dirigenten: Jetzt spielt dieses Instrument und jetzt ein anderes Instrument. Und genauso können auch die Signale an die Zellen: Jetzt die Zelle rechts oben und jetzt die Zelle links unten. Das ist ein ganz kompliziertes Gefüge, aber ein Anfang ist gemacht, das zu verstehen.

    Senysche: Wie kommt es denn, dass es Krebsforscher waren, die das herausgefunden haben?

    Lange: Man erhofft sich, dass man, wenn man dieses Konzept der Embryonalentwicklung versteht, dass man dann weiß, wie Zellen kontrolliert werden. Wie werden Zellen zum Wachstum angeregt und wie wird auch ein Wachstum beendet - das ist ja auch der gleiche Prozess, der bei der Krebsentstehung aus dem Ruder läuft. Also man will verstehen, wie wirklich die Krebsentstehung aus Stammzellen zum Beispiel abläuft und was man noch unterbrechen kann, wie man zum Beispiel auf solche Faktoren, solche Chefdirigenten einwirken kann, um vielleicht in Zukunft das Krebswachstum zu hemmen oder Krebszellen zu zerstören.