Dienstag, 19. März 2024

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Chiara Lubich und die Fokolarbewegung
Immer mit Frau an der Spitze

Die Gründerin der katholischen Fokolarbewegung würde heute 100 Jahre alt. Chiara Lubich starb zwar 2008, aber ihr Werk lebt weiter. Die Fokolarbewegung hat weltweit 140.000 Mitglieder. Sie stehen für Aufbruch in ihrer Kirche - aber auch für Rückbesinnung. Und sie reden viel vom Feuer.

Von Corinna Mühlstedt | 22.01.2020
Chiara Lubich als junge Frau auf einer Schwarz-Weiß-Aufnahme
Chiara Lubich entzündete in jungen Jahren ein Feuer: die Fokolarbewegung (Fokolar Bewegung Deutschland / Centro S. Chiara Audiovisivi)
"Ein Pinsel weiß nicht, welches Bild mit ihm gemalt wird. Das weiß nur der Maler. Genauso war es mit mir. Ich war nur ein Instrument und hatte ursprünglich keine Ahnung, dass durch mich eine weltweite Bewegung entstehen würde."
… resümierte Chiara Lubich gegen Ende ihres Lebens. Geboren in Trient wurde sie zunächst Volksschullehrerin. Dann studierte sie Philosophie. Doch bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs musste sie ihre Ausbildung abbrechen. Ihr Schicksal entschied sich endgültig 1943, als sie mit einigen Freundinnen in den Kellern ihrer Heimatstadt Schutz suchte vor verheerenden Bombardements.
"Die Bomben machten damals all unsere Zukunftshoffnungen zunichte. Gab es ein Ideal, das noch Bestand hatte? Ich dachte viel über die Frage nach und kam zu dem Schluss: Ja, es gibt ein solches Ideal: Gott! - Wenig später haben wir Mädchen eine Art Pakt geschlossen: Wir wollten die Liebe, die das Evangelium lehrt, wirklich leben und uns ohne Vorbehalt für andere einsetzen. Dabei erlebten wir staunend, wie sich viele Zusagen Jesu erfüllten. Und wir haben allen davon erzählt."
"Das hat unglaublichen Eindruck auf den Bischof gemacht"
Dies war der Anfang der Fokolar-Bewegung. Ihr Name bezieht sich auf die Licht spendende Feuerstelle, die in Italien einst den Mittelpunkt einer Wohngemeinschaft bildete, den sogenannten "focolare". Die neue katholische Initiative, deren Mitglieder in kleinen Gruppen zusammenlebten, breitete sich rasch aus: zunächst in Trient, dann in ganz Italien, anfangs nur unter Laien und bald auch unter Klerikern. Die heutige Präsidentin der Fokolare Maria Voce erinnert sich:
"Schon in den ersten Jahren gab es in Trient Priester und Ordensleute, die zu Chiara Lubich kamen und sie nach ihrer Meinung fragten. Das hat einen unglaublichen Eindruck auf den Bischof gemacht: Priester, die eine 'Signorina', eine junge Frau um Rat fragten und öffentlich zugaben, dass die Art, wie dieses 'Fräulein' von ihrem Glauben sprach, sie bereicherte. Das war etwas absolut Neues."
Maria Voce, Vorsitzende der Fokolar-Bewegung, am 10 November 2019 im Petersdom
Maria Voce ist nach Chiara Lubich die erste Präsidentin der Fokolar-Bewegung (imago stock & people / CCP / Massimiliano Migliorato)
Chiara Lubich forderte alle auf, Gott, den sie als Liebe verstand, zum Mittelpunkt ihres Lebens zu machen. Ihre Botschaft war einfach und radikal an der Liebesbotschaft Jesu orientiert. Doch in manchen klerikalen Kreisen stieß sie auf Widerstand. Einige Bischöfe warfen den Fokolaren vor, sie seien zu evangelisch - also häretisch. Wilfried Hagemann, Priester aus Wilhelmshaven, erinnert sich an die Zeit seines Theologiestudiums am Germanicum in Rom:
"Ich habe die Fokolare kennengelernt 1958 in Rom, indirekt, weil der damalige Rektor des Germanicums sagte: Die italienische Bischofskonferenz hat beschlossen, die Fokolar-Bewegung zu verbieten und bittet darum, dass alle Priester den Kontakt zu der Bewegung sofort aufgeben. Und das gilt auch für deutsche Seminaristen. Und der Rektor hat zwei Jahre später gesagt: Die Wolken haben sich verzogen. Die Fokolare werden nicht mehr negativ beurteilt. Ihr dürft da wieder hingehen."
Wilfried Hagemann wurde ein Mitglied der Priestergemeinschaft der Fokolare. 1962 akzeptierte Papst Johannes XXIII. die Bewegung vorläufig. Zwei Jahre später, während des Zweiten Vatikanischen Konzils, wurde sie von Paul VI. offiziell anerkannt. Heute zählen die Fokolare mehr als 100.000 Mitglieder und zwei Millionen Freunde in 182 Ländern. Einige leben - wie Chiara Lubich selbst - nach den evangelischen Räten "Besitzlosigkeit, Ehelosigkeit und Gehorsam" in Wohngemeinschaften.
Instrument der Einheit
Daneben entstanden verschiedene Zweige der Bewegung: für Jugendliche, Familien, Priester oder Ordensleute. Nach und nach öffnete sich die zunächst rein katholische Gemeinschaft für Angehörige anderer Kirchen und Religionen. Roger Schutz, Gründer der ökumenischen Bruderschaft in Taizé, sagte nach einem Treffen mit Chiara Lubich:
"Die Begegnung mit Chiara hat mich zutiefst beeindruckt. Ich sah sie öfter - und erlebte immer die gleiche Transparenz dieser Frau: eine Seite geöffneten Evangeliums. Ich bin überzeugt, dass Gott uns durch Frauen wie Chiara ein unvergleichliches Instrument der Einheit gibt - für uns Christen, die wir seit Jahren getrennt leben."
Die Einheit der Kirchen wurde mehr und mehr zum Thema der Fokolare. Noch vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, als man in Rom Kontakte zu Evangelischen durchaus skeptisch sah, nahm die Katholikin Chiara 1960 eine Einladung lutherischer Pfarrer nach Deutschland an. Während des Konzils wurde sie - als Frau - zu einer wichtigen Brücke zwischen dem Vatikan und dem Patriarchat von Konstantinopel.
"Eine historische Gestalt"
Fokolare gingen in viele Länder, so auch in die damalige DDR. In Leipzig entstand bereits in den 60er-Jahren ein Zentrum der Fokolar-Spiritualität, dessen Netzwerk schließlich bis nach Moskau reichte. Der Historiker und Gründer der italienischen Basisgemeinschaft von Sant'Egidio, Andrea Riccardi, staunt rückblickend:
"Chiara Lubich war eine historische Gestalt. Die Geschichte des Christentums wurde im 20. Jahrhundert zum großen Teil von Männern geschrieben. Aber Chiara war eine Frau, die stark politisch und gesellschaftlich engagiert war. Wir müssen diese Gestalt im politischen Kontext ihrer Zeit genauer studieren. Dann werden wir zum Beispiel erkennen, wie viel das Engagement der Fokolare in Osteuropa zum Fall der Mauer beigetragen hat."
Die Gründerin der ökumenischen Fokolar-Bewegung, Chiara Lubich (Foto vom 31.05.03 beim Ökumenischen Kirchentag in Berlin)
Chiara Lubich engagierte sich zeitlebens für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse (imago stock&people / epd)
Nicht zuletzt engagierte sich Chiara Lubich auch in der interreligiösen Friedensarbeit. Sie wurde als Frau eingeladen, in Moscheen und buddhistischen Tempeln zu sprechen. Bei den Weltfriedensgebeten in Assisi zählte sie zu den ersten Frauen, denen der Vatikan das Wort erteilte.
Im Statut der Fokolar-Bewegung, das 1990 unter Johannes Paul II fertiggestellt wurde, ist festgelegt, dass die Fokolare für alle Zeit von einer Frau als Präsidentin geleitet werden. Und Chiara Lubich, deren Seligsprechungsprozess 2019 in Rom eröffnet wurde, sprach im Namen unzähliger Frauen, als sie sagte:
"Ein Problem der heutigen Zeit ist die Stellung der Frau in der Kirche und in der Welt. Das Männliche und das Weibliche sind komplementäre Kräfte, die sich ergänzen. Der Mann hat - auch im kirchlichen Bereich, in der Hierarchie - durchaus seine Funktion. Aber die Frau verwirklicht die Liebe. Sie ist das eigentliche Fundament der Kirche, ihr Wesen, ihre Basis."