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Chiara Margarita Cozzolani: Marienvesper

Über das Wirken von Komponistinnen in der Musikgeschichte wissen wir dank spezieller Forschungen heute deutlich mehr als noch vor 20 Jahren. Dennoch gibt es hier immer noch weiße Flecken auf dem Musikatlas. Beim Thema Kirchenmusik und Komponistinnen zum Beispiel fällt manchem Musikliebhaber vielleicht noch die heilige Hildegard von Bingen ein, die im 12. Jahrhundert Hymnen, Responsorien, Psalmen und andere Gesänge geschrieben hat. Aber sonst? Beim Schallplattenlabel Thorofon ist jetzt eine Doppel-CD erschienen, die ein großes, abendfüllendes Kirchenmusik-Opus einer Frau bietet, eine Marienvesper, vergleichbar der berühmten von Claudio Monteverdi. * Musikbeispiel: Chiara Margarita Cozzolani - 'Deus in aiutorium' aus: "Marienvesper" Chiara Margarita Cozzolani war die jüngste Tochter einer wohlhabenden Mailänder Kaufmannsfamilie und hatte vermutlich bereits eine musikalische Ausbildung genossen, als sie mit 17 Jahren in das Kloster Santa Radegonda gleich gegenüber vom Mailänder Dom eintrat. Dort legte sie 1620 ihre ewigen Gelübde ab und war bis zu ihrem Lebensende als "Maestra di capella" Chefin der klösterlichen Musik. Und das war nicht irgendein naiver selbstgestrickter Singsang, sondern bewegte sich auf der Höhe der Zeit. Denn die Nonnen dieses Benediktinerinnenklosters betrieben schon vor Schwester Chiara Margarita und noch bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein eine reiche Musikpflege, die ein Zeitzeuge um 1670 so beschrieb: "Die Schwestern von Santa Radegonda in Mailand sind mit solch seltenen und ausgezeichneten musikalischen Fähigkeiten ausgestattet, dass sie als die besten Sängerinnen Italiens angesehen werden. Sie tragen die dunklen Gewänder des Heiligen Benedikts, aber dem Hörer erscheinen sie eher als weiße, melodiöse Schwäne, die die Herzen mit Wundern erfüllen und die Zungen mit Entzücken, um ihre Kunst zu preisen. Unter diesen Schwestern verdient Chiara Margarita das höchste Lob für die außergewöhnliche und hervorragende Würde ihrer musikalischen Erfindungen..." Diese Musikpflege auf hohem Niveau zog einen stetigen Strom von Bewunderern nach Mailand, hatte aber auch Zensurversuche erzbischöflicher Beamter zur Folge, die tief beunruhigt waren wegen der "Weltlichkeit" der Musik und der möglichen Kontakte zwischen Klosterschwestern und Außenwelt. Sollten sie das folgende Loblied auf Maria als weltliches Liebeslied mißverstanden haben? * Musikbeispiel: Chiara Margarita Cozzolani - Concerto: 'O Maria dulcis' aus: "Marienvesper" Der ungewöhnlichste Aspekt an Schwester Cozzolanis Karriere war nicht die Tatsache, dass sie ihre Kompositionen auch drucken ließ - in Venedig übrigens, dem damaligen Zentrum des italienischen Musikaliendrucks - nein, das tat auch etwa ein Duzend anderer Nonnen dieses Jahrhunderts. Auffällig ist vielmehr, dass so viele dieser Werke in sehr kurzer Zeit erschienen. Einem verlorenen Motettenbuch von 1640 folgten zwei Jahre später ihre Concerti sacri, Motetten für eine bis vier Stimmen und Basso continuo, denen drei Stücke für die vorliegende Einspielung entnommen wurden. 1648 gab sie eine Ausgabe mit Solomotetten in Druck und dann im Jahre 1650 die Salmi a otto voci concertati, die umfangreiche Psalm- und Magnificat-Vertonungen und weitere Motetten enthalten. Aus diesem Material und gregorianischen Gesängen hat der amerikanische Musikforscher Robert L. Kendrick von der Harvard University eine Marienvesper zusammengestellt, wie sie Mitte des 17. Jahrhunderts so oder ähnlich in dem Mailänder Kloster erklungen sein dürfte. Das Ergebnis: zutiefst inspirierte geistliche Vokalmusik in der allerersten Linie norditalienischer Kompositionskunst, voller Abwechslungsreichtum und Originalität, vergleichbar mit Monteverdi oder der "Musiche Sacre" - ebenfalls Vespermusik - des berühmten Monteverdi-Schülers und -Nachfolgers Francesco Cavalli. * Musikbeispiel: Chiara Margarita Cozzolani - 'Magnificat' aus: "Marienvesper" Aufgeführt wird diese 350 Jahre alte Musik bei dieser Aufnahme vom Orlando di Lasso Ensemble, das hier mit 9 Sängern und 5 Instrumentalisten agiert. Diese 1981 in Hannover gegründete Gruppe gehört inzwischen zu den führenden Vokalensembles Alter Musik. Hauptanliegen ist es, die Ausdruckswelten von Vokalmusik des 15. bis 17. Jahrhunderts einem heutigen Publikum zugänglich und erfahrbar zu machen, wozu eben nicht nur das Studium der Originalquellen und aufführungspraktischer Hinweise gehört, sondern auch ein professionelles, höchst engagiertes, beseeltes, expressives Musizieren. Neben den Werken des Namenspatrons gilt das Interesse des Ensembles auch italienischen Madrigalen von Komponisten wie Gesualdo und Monteverdi. In diesem Zusammenhang ist die Berliner Inszenierung von Orazio Vecchis Madrigalkomödie "L'Amfiparnasso" in Kooperation mit der Berliner Kammeroper zu erwähnen oder eine CD-Veröffentlichung der italienischen Madrigale von Heinrich Schütz. Nach dem Beweis hoher Kompetenz auf diesen bekannteren Pfaden des Repertoires widmet sich das Orlando di Lasso Ensemble zunehmend bisher unbekannter Musik, die anhand der Originalquellen erarbeitet und in Konzert- und Schallplattenprogrammen herausgebracht wird: Werke von Melchior Franck und aus dem Dunstkreis von Monteverdi sowie die vorliegende Aufnahme sind hierfür gute Beispiele. Spiritus rector und Leiter ist Detlef Bratschke, der bei der vorliegenden Aufnahme auch als einer der beiden männlichen Altisten sowie als Organist mitwirkt. Apropos männliche Stimmen: Im Kloster der Heiligen Radegonda in Mailand haben natürlich nur Frauen an der Aufführung dieser wunderbaren Kirchenmusik mitgewirkt, so dass die Tenor- und Baßstimmen wohl entsprechend nach oben transponiert wurden. Das hinderte Chiara Margarita Cozzolani aber nicht, ihre Version für den Druck und die Nachwelt für Frauen- und Männerstimmen einzurichten. * Musikbeispiel: Chiara Margarita Cozzolani - Psalm 126 'Nisi Dominus' aus: "Marienvesper"

Ludwig Rink |