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Chicago 36: NOW
"Wir sind eine intellektuelle Band"

Die Band Chicago entwickelte Ende der 1960er eine Mischung aus Funk, Soul und Rock mit Bläsersätzen und durchaus vertrackten Arrangements. Die Hinwendung zum Softpop kam erst später. Chicago gibt es ununterbrochen seit 1967, von der Originalbesetzung ist noch fast die Hälfte dabei. Derzeit ist die Band auf Deutschlandtour, und nach langer Pause gibt es auch wieder ein Studioalbum - "Chicago 36: NOW".

Von Fabian Elsäßer | 12.07.2014
    Die Band Chicago bei einem Konzert in Bloomington, USA
    Die Band Chicago bei einem Konzert in Bloomington, USA (AFP/Jeff Schear)
    "Der Klang der Chicago-Bläser ist ziemlich unverwechselbar. Sobald die drei Knallköpfe loslegen, weiß man sofort: Das ist Chicago," sagt Keyboarder, Sänger und Gründungsmitglied Robert Lamm. Die "drei Knallköpfe" sind Walter Parazaider, Lee Loughnane und James Pankow, und man darf sicher sein, dass Lamm das liebevoll meint. Schließlich ist der Bläsersatz neben ihm die einzige Konstante in der langen Bandgeschichte – seit 1967.
    Chicago ist eine der erfolgreichsten und langlebigsten Gruppen der USA, doch der kommerzielle Zenit ist schon seit Jahrzehnten überschritten. Das wird wohl auch der einschmeichelnde Titelsong "Now" nicht mehr ändern. Er ist allerdings der einzige Song des Albums, der regelrecht um Airplay bettelt. Denn die Radiotauglichkeit, die Chicago in den 1980ern so auszeichnete, sieht Robert Lamm heute kritisch.
    Technisch hochversierte Veteranenband
    "Die ganzen Hits, die wir hatten: 'If you leave me now', 'Hard habit to break' und so weiter, die zeigen zwar, wozu wir fähig sind, denn wir sind wirklich gute Musiker und können solche Songs gut klingen lassen. Aber sie haben nicht den Intellekt der Band, den ich so liebe und den wir hoffentlich auf dem neuen Album repräsentieren."
    Teilweise. 'Now' klingt ziemlich poliert. Zeigt aber eine technisch hochversierte Veteranenband mit überraschend schrägen Arrangements und gesellschaftskritischen Texten. Ein gutes Beispiel ist 'Naked in the garden of Allah', Lamms Aufruf zum Frieden an alle Weltreligionen.
    "Am Anfang unserer Karriere haben wir beschlossen: Wir dürfen aufnehmen, was immer wir wollen, und die anderen in der Band werden es unterstützen. Das war damals wie ein Manifest. Das wollte ich wieder aufgreifen. Das trifft auf 'Garden of Allah' zu, aber auch auf andere Stücke. Zum Beispiel 'Nice Girl'. Das ist ein Chicago-Song, wie man ihn lange nicht gehört hat: Elektisch, mit Taktwechseln, fast schon langatmigen Soli und interessanten Bläsersätzen. Alle Elemente, die für uns typisch sind."
    50 ist das jüngste Bandmitglied
    'Nice Girl' stammt aus der Feder von Gitarrist Keith Howland, der seit 1995 bei Chicago spielt und mit seinen 50 Jahren das "jüngste" Mitglied ist. Mit der Band verbindet ihn aber eine viel längere Geschichte.
    "Es war Musik, mit der ich aufgewachsen bin. Mein älterer Bruder hat ihre Platten mit nach Hause gebracht, da war ich acht. Das war 1972. Wir hörten es auf seiner Stereoanlage und ich dachte mir: Die Typen sind cool! Wir haben die Band später ein paar Mal live gesehen...."
    Als er dann bei Chicago einsteigt, ist es, als ob seine Plattensammlung auf einmal lebendig wird.
    "Es gab einen ganz besonderen Moment, als ich damals zum Vorspielen kam. Wir probten einen der alten Songs. Und in dem Moment, als Robert anfing zu singen, hätte ich fast aufgehört zu spielen. Weil ich dachte: Ach Du Schande, dass ist ja tatsächlich Robert Lamm, der da neben mir singt. Ich hab's erst gar nicht begriffen, aber dann habe ich gemerkt: Das passiert gerade wirklich!"
    Trotz der Altersunterschiede und unterschiedlich langer Zugehörigkeit ist Chicago offenbar eine demokratische Band – fast alle neun Musiker tauchen auf dem aktuellen Album auch als Komponisten auf. Das ist der grauen Band-Eminenz Robert Lamm besonders wichtig:
    "Es gibt keinen Boss. Auf diesem Album ist das immer derjenige, der den Song schreibt."
    Tourneeauftakt in Bonn
    Gerade auf der Bühne funktioniert Chicago als unabdingbares Kollektiv – zu bestaunen etwa beim Tourneeauftakt voriges Wochenende in Bonn. Es gibt nicht nur einen Leadsänger, sondern mindestens drei. Lamm spielt mal am Bühnenrand Keyboard, mal im Hintergrund, dann wieder bildet sich ein kleines Akustik-Trio, dann darf Bassist Jason Scheff ganz allein eine Ballade vortragen.
    In solchen Momenten möchte man Chicago als Sinnbild eines netten Amerikas verstehen, das wir fast schon vergessen hatten: Ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem jeder seinen Platz finden kann.