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Chile
Drei Gründe für eine Abtreibung

In Chile ist Abtreibung verboten. Das soll sich durch ein neues Gesetz ändern, das bestimmte Gründe für einen Abbruch - etwa Lebensgefahr für die Schwangere - anerkennt. Die katholische Kirche ist die entschiedenste Gegnerin: Mit einer Anzeigenkampagne versucht die Bischofskonferenz, auf christliche Abgeordnete einzuwirken.

Von Sophia Boddenberg | 22.06.2017
    Befürworterinnen des Rechts auf Abtreibung in Santiago de Chile
    Befürworterinnen des Rechts auf Abtreibung in Santiago de Chile (AFP / MARTIN BERNETTI )
    Tausende Frauen protestieren in den Straßen von Santiago de Chile. Sie fordern das Recht auf Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper. Das Recht auf Abtreibung. Bis zu fünf Jahre Gefängnis drohen einer Frau in Chile, wenn sie heimlich abtreibt.
    Die Organisation MILES Chile läuft beim Protestmarsch ganz vorne mit. Sie kämpft für das Gesetz der "Tres Causales " - das Gesetz der drei Gründe. Die Organisation hat selbst am Gesetzesentwurf mitgearbeitet. Es soll Abtreibung in Chile in drei Fällen legalisieren: Wenn der Embryo lebensgefährlich geschädigt ist, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist oder wenn die Frau nach einer Vergewaltigung schwanger geworden ist. Constanza Fernandez ist Soziologin und Forschungskoordinatorin der Organisation MILES. Sie trägt roten Lippenstift und ein Nasenpiercing. Während sie spricht, hält sie sich an der großen Fahne ihrer Organisation fest, die sie später beim Protestmarsch schwenken wird.
    "Es ist ein Gesetzesentwurf, der die Entscheidungen der Frauen respektiert, sei es wegen Gesundheit, Lebensgefahr oder Vergewaltigung. Es handelt sich um einen historischen Prozess, der während der Militärdiktatur aufgehalten wurde. Aber heute haben wir eine Stimme, um zu kämpfen und die Möglichkeit des Wandels, damit das Parlament endlich für uns spricht"
    Streng gegen das Gesetzesvorhaben: die katholische Kirche
    Chiles Präsidentin Michelle Bachelet - die erste Frau in diesem Amt - hat den Gesetzesvorschlag der "Tres Causales" in ihr Regierungsprogramm aufgenommen. Bereits vor mehr als einem Jahr hat die Abgeordnetenkammer den Gesetzesentwurf abgesegnet, erst im Januar hat der Senat zugestimmt, den Entwurf zu diskutieren. Die Gegner des Gesetzesentwurfs, meistens Abgeordnete der rechtskonservativen Parteien, wollen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes anfechten. Es verletze das Recht auf Leben und sei deshalb verfassungswidrig, meinen sie. Chile ist stark von der katholischen Kirche geprägt.
    Die chilenische Bischofskonferenz hatte vor der Abstimmung im Parlament mehrfach Anzeigen in der konservativen Tageszeitung "El Mercurio" veröffentlicht, um die christlichen Abgeordneten dazu aufzurufen, gegen den Gesetzesentwurf zu stimmen. In der gleichen Zeitung veröffentlichten fünf konservative Bischöfe einen unterschriebenen Brief an die Abgeordneten, der den Gesetzesvorschlag als willkürlich, ungerecht und unmoralisch bezeichnete. Er würde das Land in eine "Kultur des Todes" führen.
    Claudia Dides ist Leiterin der Organisation MILES. Miles heißt übersetzt "Tausende" und soll die Zahl der Mitglieder und Unterstützer verdeutlichen. Die Organisation hat das Gesetz der "Tres Causales" mitentworfen. Neben Lobbyarbeit bietet MILES Frauen psychologische Beratung und Rechtsbeistand. Sie wird außerdem von der liberalen katholischen Organisation "Catholics for a choice" unterstützt, die sich in den USA und in Lateinamerika für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen über ihren Körper einsetzt.
    Claudia Dides ist 50 Jahre alt, hat lange, dichte Locken und sieht müde aus. Sie hat den gesamten Gesetzesprozess der "Tres Causales" mitbegleitet, der sich immer weiter in die Länge zieht. Sie sagt:
    "Ein Grund ist die Uneinigkeit innerhalb der Regierung. Der andere ist der permanente Druck durch die Hierarchie der katholischen Kirche, durch rechtskonservative Parteien und andere konservative Menschen. Das war nicht nur so bei der Abtreibung, sondern auch bei der Diskussion über die Pille danach und über die Ehescheidung. Das ist eine Konstante in der chilenischen Geschichte".
    Abtreibungsverbot aus der Zeit der Militärdiktatur
    Das Abtreibungsverbot in Chile stammt aus dem Jahr 1989, aus Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Vorher war die therapeutische Abtreibung seit 1931 erlaubt gewesen. Claudia Dides:
    "Seit 25 Jahren wird ein negatives Image der Abtreibung konstruiert und die Regierung hat nichts dagegen getan. In dieser Zeit haben konservative Gruppen dieses Image nicht nur in Chile, sondern weltweit verbreitet. Das ist ein sehr starker Gegenangriff. Heute war ich auf einer Pressekonferenz und es kam eine Gruppe, die uns täglich Föten schickt und uns angreift."
    Laut Umfragen von Miles sprechen sich circa 70 Prozent der chilenischen Bevölkerung für das Gesetz der "Tres Causales" aus. Aber konservative und katholische Gruppen haben viel Zulauf. Am "Tag des ungeborenen Kindes" protestierten Tausende vor allem katholische Menschen in Chile "für das Leben". Natalia Freire ist Sprecherin der Protestmärsche "Chile marcha por la vida" - "Chile protestiert für das Leben" - und für sie ist Abtreibung Mord.
    "Heute feiern wir international den Tag des ungeborenen Kindes und wir wollen ihn groß feiern. Wir sind in 15 Städten Chiles vertreten und geben eine Nachricht an die Bürger und die Frauen weiter: Dass ihre Mutterschaft und ihre Schwangerschaft in Chile willkommen sind. Abtreibung ist der Mord an einem menschlichen Wesen, das Rechte hat und beschützt werden muss."
    Für Claudia Dides ist das Argument der katholischen Kirche, das Leben zu verteidigen, ein Totschlagargument ohne Inhalt. Es gehe bei dem Gesetz der "Tres Causales" schließlich nicht darum, eine Frau zur Abtreibung zur zwingen, sondern ihr in besonders schwierigen Situationen Entscheidungsfreiheit zu geben. Dides sagt:
    "Wir haben immer gesagt, dass die ersten beiden Gründe - und das sind fast 98 Prozent der Fälle, auf die das Gesetz zielt - gewollte Schwangerschaften sind. Da geht es um Krankheiten, um Föten, die nicht überlebensfähig sind und das sind sehr schmerzhafte Umstände. Und die Vergewaltigung ist für mich einer der schwersten Fälle, das Grausamste, was ein Mensch, insbesondere eine Frau, erleben kann. Und sie geben ihr nicht das Recht, selbst zu entscheiden. Wir haben auch immer gesagt: Die Frau, die die Schwangerschaft fortführen will, kann das auch machen und bekommt jede Unterstützung."
    Hohe Dunkelziffer von heimlichen Abtreibungen
    160.000 chilenische Frauen treiben jedes Jahr heimlich und illegal ab. Diese Zahl stammt von Human Rights Watch. Die chilenische Regierung spricht lediglich von 33.000 Fällen, die jährlich in den Krankenhäusern erfasst werden. Dabei handelt es sich aber nur um die Frauen, die aufgrund von Komplikationen ein Krankenhaus aufsuchen. Die Dunkelziffer der Frauen, die heimlich zu Hause abtreiben, ist viel größer.
    Paula, die ihren richtigen Namen lieber für sich behalten möchte, ist Studentin an einer Universität in Santiago de Chile. Sie ist jetzt 28 Jahre alt. Als sie 18 Jahre alt war, wurde sie ungewollt schwanger und entschied sich für eine Abtreibung, weil sie ihre Zukunft nicht aufs Spiel setzten wollte. Sie trieb wie die meisten chilenischen Frauen mit dem Medikament Misoprostol ab. Es kann oral als Tablette oder vaginal als Zäpfchen eingenommen werden und stößt den Fötus ab. Die Preise auf dem Schwarzmarkt liegen zwischen 100 und 150 Euro. Feministische Gruppen stellen die Tabletten kostenfrei oder gegen eine Spende zur Verfügung. Paula sagt, dass es nur wenige Informationen über die Einnahme gibt. Die Frauen müssen sich die Gebrauchsanweisung im Internet suchen und haben keine medizinische oder psychologische Betreuung. Wenn eine Frau bei Komplikationen ins Krankenhaus geht, läuft sie Gefahr, angezeigt zu werden.
    Paulas Fall würde auch nach Verabschiedung des Gesetzes der "Tres Causales" illegal bleiben. Sie meint, dass die katholische Kirche in Chile dafür verantwortlich ist, dass Abtreibung unter Gefängnisstrafe steht.
    "Ich denke, dass die katholische Kirche das meiste zu sagen hat, was das 'Nein zur Abtreibung' angeht. Weil es einen bedeutenden Teil in der chilenischen Gesellschaft gibt, der rechts ist, konservativ, und zähneknirschend das Leben verteidigt, unabhängig von der späteren Entwicklung dieses Menschen, der da entsteht. Die Sache bei der Abtreibung ist, dass die Konservativen es auch machen, aber nicht darüber sprechen. Deshalb gibt es einen Zynismus, eine Scheinheiligkeit hinter ihnen. Sie beschützen das ungeborene Leben, aber mischen sich in das Privatleben aller anderen ein, ohne ein Bewusstsein dafür zu haben, was danach passiert. Was ist mit der Bildung dieses Kindes, was soll dieses Kind essen, womit soll es sich kleiden?"
    Ob das neue Gesetz durch den Senat kommt oder nicht, das wird nichts daran ändern, dass Frauen in Chile weiter heimlich abtreiben, meint Paula. Aber es würde zumindest manchen Frauen medizinische und psychologische Betreuung gewährleisten. Es wäre ein kleiner Schritt nach vorne. Paula sagt:
    "Chile ist an langsame Veränderungen gewöhnt, nicht an schnelle. Es ist keine Gesellschaft, die soziale Veränderungen von einem auf den anderen Tag erlaubt. Es ist trotzdem ein Fortschritt, Abtreibung unter den drei Umständen zu erlauben. Aber es ist wichtig, dass Abtreibung komplett straffrei wird unter allen Umständen, die eine Frau will."