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Chilly Gonzales im Porträt
"Dein Musikgeschmack prägt deine soziale Identität"

Viele kennen Chilly Gonzales als Komponist minimalistischer Klavierstücke mit ordentlich Pop-Appeal. Dagegen sind seine subversiven Anfänge als Musiker in Berlin weniger bekannt. Die musikalischen Capricen dieser Jahre sind jedoch besonders spannend.

Von Juliane Reil | 08.09.2018
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    Chilly Gonzales bei einer Veranstaltung der lit.Cologne 2018 (imago stock&people)
    Lange hat er um seine künstlerische Persönlichkeit gerungen, bis Gonzales 2004 schließlich mit "Solopiano" den Grundstein für seine erfolgreiche Karriere legte. Nun erscheint "Solopiano III" - ein guter Moment, um auf das vielfältige Schaffen des Künstlers und seine unterschiedlichen Rollen zurückzublicken. Alles, was er wollte, war ein Publikum, meint Jason Beck alias Chilly Gonzales über die Anfänge seiner Karriere:
    "Ich habe nie davon geträumt, als Nummer-eins-Popsänger auf irgendeinem Magazincover zu landen. Ich wusste schon, dass ich nichts für jeden bin, dass meine Persönlichkeit auf gewisse Weise voraussetzungsvoll ist. Außerdem habe ich instrumentale Klaviermusik gemacht."
    King of Berlin Underground
    Das mit dem Klavier war aber nicht immer so. Als Gonzales 1999 - mit Ende 20 - von Montreal nach Berlin ging, hatte er gerade einen missglückten Karriereanlauf als Sänger und Keyboarder einer Alternative Rockband hinter sich. So glattpoliert wie die Plattenfirma es wollte, ließen er und seine Bandkollegen sich nicht vermarkten.
    Berlin - zehn Jahre nach der Wende - war experimentelles Biotop für viele Kreative aus der ganzen Welt. Als selbsternannter "King of Berlin Underground" experimentierte Gonzales damals mit einer subversiv-provokanten Bühnenpersönlichkeit.
    Der dunkelhaarige Typ im Tropenanzug mit dicker Goldkette wirkte Anfang der 00er-Jahre wie die Persiflage von Eminem oder Cypress Hill, damals angesagte Rapper. Wie kein zweites Popgenre thematisiert der Hip-hop das künstlerische Alter Ego. Das passt zum "Musical Genius" oder "Super Producer", wie sich Gonzales zwischenzeitlich selbst nannte. Exzentrisch und mit großer Selbstironie rappt er bis heute immer wieder über die eigene Rolle als Künstler und das Musikgeschäft.
    Auf der Bühne ist der Kanadier nicht nur ein begnadeter Live-Musiker, der aus dem Stegreif improvisiert, sondern auch ein charismatischer Entertainer – um nicht zu sagen, eine Rampensau. Vom Konzertpublikum lässt er sich gern wortwörtlich auf Händen tragen.
    Chilly Gonzales im Bademantel am Konzertflügel, begleitet von den Musikern des "Kaiser Quartetts"
    Kammermusik in Versailles: Chilly Gonzales und das Kaiser Quartett (Alexandre Isard)
    Dabei hat Gonzales ein klares Künstlerverständnis von sich selbst:
    "Ein Entertainer ist ein Künstler, für den das Publikum Priorität hat. die die Bindung zum Publikum an erste Stelle setzt. Der Grund dafür, warum ich mich auf die Performance konzentriere, ist: Musik ist genau das für Tausende von Jahren gewesen, bevor es die Aufnahme gab und drumherum eine ganze Industrie entstand. Aber die Idee, dass es eine definitive Version eines Musikstückes gibt, ist nicht mehr gültig. Wenn Du heute ein Publikum halten willst, musst Du ein guter Performer sein."
    "The Gonzervatory" in Paris
    Mittlerweile bedient "Gonzo", wie seine Fans ihn nennen, noch eine weitere Rolle: die des popmusikalischen Mentors. In diesem Jahr hatte "The Gonzervatory" - ein mehrtägiger Workshop in Paris Premiere. Ausgewählte Nachwuchstalente aus verschiedenen Nationen und Musikgenres ließen sich gemeinsam als Band in ihrer Performance-Qualität schulen. Der Grundgedanke dahinter hat beinahe eine politische Note:
    "Dein Musikgeschmack prägt Deine soziale Identität. Das sorgt allerdings auch dafür, dass Leute neuer Musik gegenüber nicht so aufgeschlossen sind, wie sie es sein könnten. Deshalb versuche ich in meienr sogenannten Meisterklasse zu erklären, was zum Beispiel ein Arpeggio ist. Wie es in klassischer spanischer Musik anhört, bei Glenn Millers oder in einem Daftpunk-Song. "Musikalischer Humanismus" meint: Lasst uns darauf konzentrieren, wo zwischen den musikalischen Welten die Gemeinsamkeiten liegen! Das führt zu einem positiveren Ergebnis."
    - Zu offenen Ohren, meint Gonzales.
    Eine Prise Subversion aus seinen Anfangstagen
    Künstlerische Haltung und musikalische Metamorphosen – das macht Chilly Gonzales interessant. Mit den Solopiano-Alben, von denen jetzt Nummer drei erschienen ist, ist er berechenbarer – und musikalisch leider etwas eintönig – geworden. Man wünscht sich eine Prise Subversion aus seinen Anfangstagen zurück. Dennoch: Klassische Musik im verdaulichen Popsong-Format bedeutete 2004 mit "Solopiano" eine Wende in der Karriere von Gonzales. Verständlich, dass er da weitermacht. Darüber hinaus setzte die Platte einen neuen Trend, von dem Neoklassiker wie Niels Frahm & Co in ihrer gepflegten Langeweile bis heute profitieren.
    "Ich hatte Null Erwartungen und dachte nur: Vielleicht ist das ein cooles, kleines Nischen-Album für Leute, die meine Produktion mögen. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass es alles verändern würde."