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China
Behinderte Kinder gelten als Strafe für ein früheres Leben

In China gehört die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung zum Alltag. In dem auch vom Buddhismus geprägten Land glauben viele Familien, der Grund dafür sei ein Versäumnis in einem früheren Leben. Die staatliche Versorgung ist außerdem schlecht.

Von Silke Ballweg | 03.12.2013
    Sie haben vom Mittagsschlaf noch etwas Sand in den Augen. Und doch hüpfen sie schnell aus ihren kleinen Betten. Die drei, vier, fünf Jahre alten Kinder stecken in langen, bunten Strumpfhosen und einfachen Pullis, sie sind neugierig und aufgeweckt. Fast 20 Kinder leben in dem kleinen Heim am Stadtrand von Peking, das jüngste ist zwei Jahre alte, die älteste, Dang Yun Ru, schon 21.
    "Ich helfe den Kleinen hier, nach dem Mittagschlaf bekommen sie Obst zu essen und ein paar Süßigkeiten."
    Dang Yun Ru hat einen leicht nach hinten verdrehten, rechten Arm. Als kleines Baby erkrankte sie an Kinderlähmung. Für ihre Eltern war das offenbar untragbar. Noch als Säugling gaben sie die Tochter weg.
    "Ja, ich habe meine Eltern noch nie gesehen, ich bin in einem Waisenhaus groß geworden."
    Schätzungen zufolge leben rund 80 Millionen Menschen mit Behinderung in der Volksrepublik. Wie Dan Yu Run kennt der Großteil von ihnen weder Vater noch Mutter. Die arme Landbevölkerung hat kein Geld für eine medizinische Betreuung. Die Bauern wissen nicht, wie sie sich um ein behindertes Kind kümmern sollen, wenn sie selbst den ganzen Tag über draußen arbeiten. Außerdem gilt ein Kind mit Behinderung in der chinesischen Gesellschaft auch heute noch als Schmach. Viele Eltern legen ihren Nachwuchs deswegen vor den Türen der Waisenhäuser ab, sagt Professor Yang Li Xiong von der Pekinger Volksuniversität. Er forscht über die Situation von Menschen mit Behinderung:
    "China ist traditionell ja auch vom Buddhismus geprägt. Und viele Familien glauben noch immer, dass sie mit einem behinderten Kind dafür bestraft werden, dass sie in ihrem früheren Leben etwas Schlechtes getan haben. Deswegen schämen sich die Eltern für ein behindertes Kind. Wenn sie noch während der Schwangerschaft erfahren, dass das Kind nicht gesund auf die Welt kommen wird, lassen es viele abtreiben. Andere Eltern geben es direkt nach der Geburt weg."
    Erst vor gut 30 Jahren hat China begonnen, sich um seine Behinderten zu kümmern. 2008, kurz vor den paraolympischen Spielen in Peking, wurde die UN-Konvention zum Schutz der Rechte der Behinderten ratifiziert. In den großen Städten gibt es mittlerweile Zentren mit Rehabilitierungsmaßnahmen, Menschen mit Behinderung erhalten staatliche Sozialhilfe und sind krankenversichert. Doch auf dem Land, wo Schätzungen zufolge zwei Drittel der Behinderten leben, ist die Versorgung noch immer schlecht. Fast 90 Prozent der Kinder in Chinas Waisenhäusern sind behindert, doch Therapie und medizinische Versorgung gibt es kaum. Zhao Li Ping, die Leiterin des Pekinger Heimes, holt deswegen vor allem Kinder aus den Provinzen zu sich nach Peking.
    "Die Situation in den Waisenhäusern hat sich in den vergangenen Jahren zwar stark verbessert. Die Kinder bekommen mittlerweile genug zu essen und es ist auch nicht schmutzig. Aber die Häuser sind oft sehr groß, der Einzelne wird kaum betreut und bekommt nur wenig Zuwendung. Hier bei mir aber können die Kinder das Gefühl bekommen, eine Familie zu haben."
    In Zhao Li Pings Heim passen die größeren Kinder auf die Kleineren auf, am Wochenende kommen freiwillige Helfer und spielen mit allen. Die Kleinen lachen viel und albern herum. Viel mehr kann aber auch die Mitvierzigerin derzeit nicht bieten. Die Geschäftsfrau finanziert ihr Heim in erster Linie selbst, Freunde und Bekannte helfen mit Spenden. Doch für professionelle Therapien fehlt es auch hier an Geld. Offen ist bislang auch, wie die Kinder demnächst unterrichtet werden sollen. Denn das staatliche Schulsystem diskriminiere Menschen mit körperlichen Einschränkungen, die geistig aber fit sind, sagt Maya Wang von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch:
    "Laut Gesetz können Kinder eine ganz normale Schule besuchen, wenn sie sich an die Umstände dort anpassen können. Das aber heißt, dass die Verantwortung bei den Schülern oder bei ihren Eltern liegt. Ich kenne zum Beispiel den Fall eines gehbehinderten Kindes. Die Mutter musste es jeden Tag in der Schule in den dritten Stock ins Klassenzimmer tragen und in der Pause auf die Toilette, weil das Kind die Treppenstufen alleine nicht überwinden konnte. Die Schulen haben oft keine andere Wahl, weil sie selbst keine finanzielle Unterstützung bekommen, um Schüler mit Behinderung zu integrieren."
    Fast die Hälfte von Chinas Behinderten kann deshalb weder lesen noch schreiben. Und ohne Ausbildung kein Job, sagt Yang Li Xiong von der Volksuniversität:
    "Ich bin sehr unglücklich über unser System. Es wäre viel besser, Kinder mit Behinderung zu integrieren, ihnen einen speziellen Unterricht zu geben, wenn sie ihn brauchen, aber an ganz normalen Schulen. Im Moment gleicht ihre Situation eher dem Leben in einem Gefängnis. Je länger sie darin sind, desto schwieriger ist es für sie, sich anschließend im normalen Leben zurechtzufinden."
    Um die Integration zu fördern, hat die Regierung vor ein paar Jahren eine Quote beschlossen. Unternehmen sind nun verpflichtet, Menschen mit Behinderung einzustellen. Doch wie so oft in China mangelt es an der Umsetzung. Selbst Universitäten und Behörden weigern sich und zahlen lieber eine lächerlich geringe Strafe.