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China
Schriftsteller möchte Anstoß für eine neue Erinnerungskultur geben

Der chinesische Schriftsteller Ye Fu war als politischer Häftling mehrere Jahre im Gefängnis. Ein Jahr lang war er Stipendiat bei der Kölner Akademie der Künste der Welt. Besorgten Herzens will er nach China zurückkehren und dort die Geschichte in Texten kritisch festhalten.

Von Ortrun Schütz | 14.12.2013
    Während der Kulturrevolution wurden Ye Fus Eltern als Intellektuelle aufs Land umgesiedelt. Ye Fu selbst wurde nach dem Studium der chinesischen Literatur eine Stelle als persönlicher Assistent des lokalen Polizeichefs zugeteilt. Die verließ er, um sich den Studentenprotesten am Platz des Himmlischen Friedens anzuschließen, was ihm sechs Jahre Gefängnis einbrachte. Weder das Massaker von 1989, noch die anderen Verbrechen der kommunistischen Partei seit 1949 in China wurden jemals aufgearbeitet. Wenn man über diese Verbrechen rede, komme man ins Gefängnis, denn die Täter seien immer noch an der Macht, sagt Ye Fu. Deswegen wüssten 20-jährige Chinesen heute nicht mal, was am Platz des Himmlischen Friedens passiert sei.
    "In China wird auch nichts aufgearbeitet, was in den sogenannten Anti-Rechts-Kampagnen in den 50er-Jahren und in der Kulturrevolution in den 60er-Jahren passiert ist. Also ist das Übel dieser ganzen Geschichte noch weiter in unseren Köpfen und in unserer Gesellschaft. Ein Beispiel: Am 15. September letzten Jahres gab es eine Anti-Japan-Aktion. Junge Leute stürzten in Geschäfte, in denen japanische Produkte verkauft werden, und schlugen alles kaputt. Die Produkte waren zwar alle in China produziert und die Ladenbesitzer waren Chinesen. Trotzdem haben sie das gemacht. Dieser Hass gegen die Japaner ist ein Beweis: Wenn man bestimmte Dinge in der Vergangenheit nicht aufarbeitet, kann das katastrophale Folgen haben."
    In Köln fielen Ye Fu zuerst die glänzenden Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig ins Auge. Außerdem besuchte er mehrere Konzentrationslager. Er sah, wie sich Schulklassen dort mithilfe von Dokumenten und historischen Objekten mit der Geschichte auseinandersetzten. Er erfuhr vom Kniefall von Willy Brandt in Warschau und auch das Mauermuseum in Berlin hat ihn beeindruckt.
    "Am Beispiel des Stasi-Archivs kann man sehen, wie die Wahrheit wieder hergestellt und auf diese Art Versöhnung herbeigeführt werden soll. Wenn man alles verschweigt, ist das äußerlicher Friede, aber kein wirklicher Friede. Auch die Filme "Das Leben der Anderen" und "Der Vorleser" haben mich sehr beeindruckt, weil darin wirklich schonungslos mit der Vergangenheit umgegangen wird. So was kennt man von keiner anderen Nation. Das ist auch der Grund, warum die Deutschen bei den anderen wieder Respekt zurückgewinnen konnten."
    Deshalb möchte Ye Fu eine alte chinesische Tradition fortsetzen. Nicht das Kaiserhaus oder die offizielle Seite des Staates schrieben früher in China die Geschichte auf, sondern Privatleute aus der Gesellschaft. Viele solcher Bücher werden heute außerhalb des Landes veröffentlicht, haben aber dennoch großen Einfluss in China. Ye Fu möchte Teil dieser Tradition werden und in Zukunft durch sein Schreiben noch expliziter die Geschichte bewahren. Aber das ist nur ein Punkt von mehreren:
    "Erstens möchte ich bei mir anfangen. Meine Essays sind zwar keine Reportagen, aber sie beruhen alle auf der wahren Geschichte. Das ist der erste Schritt. Es gibt noch so viel zu schreiben. Zweitens möchte ich diese Tradition, dass das Volk die Geschichte aufschreibt, vorantreiben. Also noch mehr Leute dazu überreden, es mir gleich zu tun. Drittens möchte ich versuchen, die noch lebenden Augenzeugen heranzuziehen, damit ihre Erlebnisse dokumentiert werden."
    In Deutschland hat Ye Fu sein Projekt begonnen und unter anderem den Essay "Erinnerung und Reue" geschrieben, in dem er sich mit der Erinnerungskultur Deutschlands auseinandersetzt. Am Schluss des Essays dichtet er:
    "Auf diesem Territorium hat jeder eine andere Hautfarbe. Nur der Schnee bleibt schneeweiß und das Blut bleibt blutrot. Oh Schnee, aus den Weiten des Himmels, vielleicht sogar aus einer noch ferneren Vorzeit, du bedeckst die Sünden unseres heutigen Lebens."
    Um die Sünden aufzudecken, kehrt Ye Fu wieder in sein Land zurück, mit gemischten Gefühlen. In Deutschland hatte er nicht nur ein Jahr Zeit zum Schreiben, sondern auch Geborgenheit und Sicherheit, wie er sagt. Tatsächlich hat sich die politische Lage in China durch die neue Führung verschlechtert. Viele seiner Kollegen mussten ins Gefängnis. Ye Fu hofft, als international bekannter Intellektueller etwas weiter gehen zu können, als andere. Auf einer Plattform im Internet sammelt er mit anderen Künstlern Geld für die Familien politischer Gefangener. Das Profil wurde vor wenigen Tagen offiziell gesperrt.