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China verstehen

Als am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China aus der Taufe gehoben wurde, war China ein armes und rückständiges Land. Heute ist China eine Atommacht, ein wirtschaftlicher Riese und eine weltpolitische Größe. Die Feiern zum 60. Jahrestag der Volksrepublik in Peking waren daher auch eine Demonstration der Macht.

Von Matthias von Hein | 12.10.2009
    "China zu verstehen, stellt eine große Herausforderung dar." Mit dieser ebenso lapidaren wie zutreffenden Feststellung beginnt die Einleitung zu Sabine Dabringhaus´ "Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert". Tatsächlich scheint China nicht nur ein fremdes Land zu sein. Eher schon ist es ein geistiger Kosmos, der nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktioniert: Der Kompass zeigt nach Süden, die Trauerfarbe ist weiß, geschrieben wird mit Bildzeichen und nicht in Lautzeichen, Bücher fangen da an, wo sie bei uns aufhören. In ihrem Buch stellt sich Sabine Dabringhaus der Herausforderung, China verstehen und vermitteln zu wollen. Sie bringt dafür die besten Voraussetzungen mit: Sie hat Sinologie, Geschichte und Politikwissenschaften studiert und bereits als Studentin Mitte der 1980er-Jahre ein Jahr in China gelebt. Später studierte sie vier Jahre in Peking Geschichte. Ihre Dissertation verfasste sie in chinesischer Sprache. Seit Dezember 2008 ist sie Professorin für außereuropäische Geschichte in Freiburg. In Deutschland macht Sabine Dabringhaus einen Markt aus für eine Geschichte Chinas:

    "Es gibt ja, muss ich sagen, im deutschsprachigen Raum jetzt nicht allzu viele Geschichten Chinas. Meistens sind es ja doch Übersetzungen aus dem anglo-amerikanischen Raum."
    So wie das Standardwerk zur chinesischen Geschichte an deutschen Universitäten: Es wurde von dem Sinologen Jonathan Spence verfasst und trägt den Titel "Chinas Weg in die Moderne". Anders als Dabringhaus setzt Spence bereits in der späten Ming-Zeit des 16. Jahrhunderts an. Seine knapp 1.000 Seiten spannen also einen Bogen von knapp 500 Jahren.

    Was das moderne China betrifft, so schließt das Buch von Sabine Dabringhaus eine Lücke in Deutschland. Sie unterteilt ihr Buch in fünf Kapitel. In den Kapitelüberschriften finden sich jene Begriffe, die für die Autorin zu den Konstanten der chinesischen Geschichte gehören:

    "Ich denke, das Interessante ist, wenn wir spontan an China denken, denken wir in der Zeit, im 20. Jahrhundert vor allen Dingen an Kriege, Bürgerkriege, die Einbeziehung in die Weltkriege, an Katastrophen und Gewalt und einfach viel Veränderung auch. Es heißt ja auch das Jahrhundert der Revolutionen. Aber daneben gibt es eben doch auch Kontinuitäten und das war mir jetzt auch wichtig, das herauszuarbeiten, dass eben, wie ich auch das Buch angelegt habe mit den fünf Leitbegriffen: Konfuzianismus, Nationalismus, Kommunismus, Demokratisierung/Liberalisierung, das ist ein bisschen schwieriger, dieses Kapitel, und dann Kapitalismus. Das sind alles Phänomene, die immer wieder ja auch kehren und das denke ich ist ein neuer Weg das Jahrhundert zu beschreiben."
    Die Kapitel sind in einzelne Abschnitte gegliedert, die ihrerseits im Text durch hervorgehobene Absätze klar strukturiert sind. Das macht das Buch zu einem idealen Nachschlagewerk. Hier ist es hilfreich, dass Sabine Dabringhaus nicht streng chronologisch vorgeht. Stattdessen verfolgt sie konzentriert einzelne Entwicklungen. Beim Nachschlagen hilft auch der umfangreiche Anhang: Er umfasst ein sorgfältig gepflegtes Sach- und Personenregister, eine ausführliche Quellen– und Literaturliste sowie eine Fülle von Anmerkungen. Die Autorin will das Buch aber nicht als Nachschlagewerk verstanden wissen:

    "Ich würde schon sagen: Man kann die einzelnen Kapitel auch mal alleine lesen. Aber weil es ja doch ein Jahrhundert beschreibt, würde ich sagen, ist es ein Buch, was man schon mal auch durchlesen kann. Es ist ja auch nicht so lang, dass man da auch, denke ich, ganz gut durchkommt."
    Tatsächlich sind knapp 300 Seiten nicht viel Platz für ein ganzes Jahrhundert. Die Ereignisse, ihre Ursachen und ideengeschichtlichen Hintergründe lassen sich nur durch einen hohen Grad an Abstraktion in den Griff bekommen. Diese Verdichtung beeinträchtigt die Lesbarkeit. Die geschilderten Figuren bleiben oft farblos. Selbst Katastrophen von historischem Ausmaß werden auf wenigen Seiten abgehandelt. So zum Beispiel der "Große Sprung nach vorn", die größte von Menschen verursachte Hungersnot der Geschichte. Geschätzte 30 Millionen Menschen kamen dabei zwischen 1959 und 1961 zu Tode. Diese Tragödie wird auf eineinhalb Seiten komprimiert. Auf denen allerdings tatsächlich alles Wesentliche zusammengefasst ist.

    e Utopie des Großen Sprungs lag in seiner extrem radikalen, unrealistischen Strategie wirtschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlichen Wandels. Ein industrielles Wachstum ließ sich nicht einfach durch einen Input aus dem Agrarsektor erreichen. Das utopische Experiment steigerte sich zur menschlichen Tragödie, als Mao in Lushan den Kampf gegen Rechtsabweichler in die Partei trug, anstatt eine kritische Konsolidierung der bereits kritischen Versorgungslage einzuleiten. Dreijährige Missernten im Zuge des Großen Sprungs, Naturkatastrophen und der endgültige Bruch mit der Sowjetunion, der China technisches Wissen und finanzielle Hilfe entzog, trafen zusammen. In Maos Entscheidungen lag die Hauptursache für die Katastrophe.
    Ausführlich schildert Sabine Dabringhaus die Entfaltung intellektueller und künstlerischer Freiheiten in den 1980er-Jahren. Der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung im Juni 1989, die diese Phase beendete, werden dagegen lediglich eineinhalb Seiten gewidmet.

    "Ein Bündnis alter Kräfte gewann die Oberhand. Angesichts des beispiellosen Ausmaßes der Demonstrationen, die vor den Augen der internationalen Medien vonstattengingen, fürchteten sie um ihre privilegierte Stellung. Aus diesen Reihen entlud sich die Kritik am Beschwichtigungskurs Zhao Ziyangs. Da sich gleichzeitig die Unterstützung der Demonstranten von der städtischen Bevölkerung auch auf die Mitglieder von Partei und Armee ausweitete, befürchteten sie ihren totalen Machtverlust und warnten vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges. Als "konterrevolutionäre Rebellion" wurde die Bewegung schließlich in der Nacht zum 4. Juni von Soldaten der Volksbefreiungsarmee blutig niedergeschlagen.
    Besonders verdienstvoll ist die Einbeziehung der Randzonen Chinas in die Darstellung. Ausführlich beschäftigt sich Sabine Dabringhaus mit dem Schicksal der Tibeter und der Uighuren. Sie schildert den Han-Chinesischen Nationalismus der chinesischen Republik: Die chinesische Republik vom Beginn des 20. Jahrhunderts richtete sich kurzerhand in den Grenzen des Qing-zeitlichen Vielvölkerstaates ein. Dabei fühlten sich die Han-Chinesen den Grenzvölkern kulturell überlegen und behandelten sie mit kühler Arroganz. An dieser Stelle platziert Sabine Dabringhaus eines der zu sparsam eingesetzten Zitate ihres Buches: Sie lässt den tibetischen Sportler Chang Bo mit einer Äußerung aus dem Jahre 1935 zu Wort kommen:

    Die Ausländer verachten die Chinesen als niedrig stehend und schwach. Ebenso sehen die Chinesen die Völker der Grenzgebiete als wertlos an. Besteht dabei irgendein Unterschied? Die Ausländer meinen, dass alles in China rückständig sei und die Chinesen bezeichnen die Grenzregionen als grob und unzivilisiert. Gibt es darin etwa irgendeinen Unterschied?
    Tibet und Xinjiang tauchen in jedem Kapitel des Buches auf. Sabine Dabringhaus macht deutlich, dass es auch interne Probleme waren, die bei diesen Völkern die Schaffung eines eigenen Nationalstaates verhinderten. Sie schildert die Sinisierung Tibets und das starre Festhalten an der Unterdrückungspolitik Pekings bis in die heutige Zeit.

    Besonders spannend liest sich das letzte Kapitel des Buches: China im Übergang zum Kapitalismus. Alle wichtigen Probleme werden angeschnitten: die Bildung einer Mittelklasse, die Informationsrevolution im Zeichen des Internet, die katastrophale Umweltpolitik, das Streben nach Weltgeltung, selbst die neue Partnerschaft mit Afrika.

    Sabine Dabringhaus hat eine Fülle von Informationen gesammelt, bewertet und verdichtet. Wer sich schnell und zuverlässig über einzelne Perioden der chinesischen Geschichte informieren will, ist bei ihr gut aufgehoben.

    Matthias von Hein über Sabine Dabringhaus: "Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert", Verlag C.H. Beck, München 2009, Euro 22,90. ISBN 978-3-406-59286-7.