"Chopin - Études"
Wenn ein Pianist wie Murray Perahia eine CD mit den Etüden op. 10 und op. 25 von Frédéric Chopin vorlegt, dann ist das allemal ein Ereignis wie, sagen wir, eine neue "Ring"-Inszenierung in Bayreuth. Da teilt ein Großer seine Ansichten zum Stand der Dinge mit, und entsprechend ist auch der Aufwand, mit dem Sony Classical diese Neuproduktion im Markt zu platzieren sucht. Der Aufwand ist gerechtfertigt. Gewiss wird über diese Interpretation heftig diskutiert, vielleicht sogar gestritten werden. Der Kosmos der Chopin’schen Etüden ist schließlich vieldeutig. Er beginnt übrigens in C-dur, und wie Perahia das Entrée in diese Welt formt, das zeugt von einer ungemein befreienden Souveränität. Das ist Musik zum Durchatmen. * Musikbeispiel: F.Chopin - Étude op. 10,1 C-dur (Ausschnitt) Murray Perahia mit der Etüde op. 10,1 in C-dur von Frédéric Chopin. Schon bei diesem Beginn spürt man, dass Perahia, der doch durchaus zum Grübeln neigt, die Etüden ohne Umschweife spielt. Das ästhetische Konzept ist kristallklar: großer Flügel, großer, geradezu orchestraler Klang. Chopin als Titan, der er vielleicht dem eigenen Selbstverständnis zufolge nicht einmal war. Aber der Notentext ist nun einmal gewaltig, und bedeutende Werke werden allemal mehr, als selbst ihre Schöpfer ahnten. Insofern spielt Perahia nicht nur Chopin, sondern vornehmlich das, was die Nachwelt mit einigem Recht aus dessen Texten herausliest. Das türmt sich von Etüde zu Etüde, und die Gelassenheit, mit der Perahia die technisch höchst anspruchsvollen Werke entstehen lässt, das Unangestrengte dieser Interpretation, der stete Tonfall des mühelos Grandiosen müssen einfach bezwingen. Auch die dritte Etüde aus Opus 10 in E-dur bleibt frei von jeglicher Gefühlsseligkeit; das Rubato wird nie übertrieben. Perahia verliert sich nicht, sondern er disponiert auch dieses in sich durchaus zerrissene Werk als großen Wurf. * Musikbeispiel: F.Chopin - Étude op. 10,3 E-dur Murray Perahia ist, man erinnert sich, auch ein bewegender Bach-Interpret. Aufschlussreich ist, dass er der Polyphonie bei Chopin ganz anders beikommt. Nichts erinnert an die eher philosophisch-analytische Art, mit der er die Vielstimmigkeit des Bach’schen Satzes darzustellen vermag. Chopins Polyphonie wächst quasi organisch unter den Händen dieses Pianisten, und auch hier wird man eher an Orchesterfarben erinnert als an ein Keyboard. * Musikbeispiel: F.Chopin - Étude op. 25,7 cis-moll Die Etüde op. 25,7 in cis-moll von Frédéric Chopin, gespielt von Murray Perahia auf seiner neuen Sony-CD. Noch eine Bemerkung zum Aspekt der Mühelosigkeit, der Souveränität. Die sechste Etüde in gis-moll, die so genannte Terzen-Etüde, wird allgemein gefürchtet. Ganze Ketten von Terzen zu spielen, - das heißt: erst einmal zu üben -, kann eine ausgesprochen unersprießliche Tätigkeit bedeuten. Gerade an dieser Etüde macht Perahia freilich deutlich, dass diese ganzen sogenannten "Studien", wie "Études" ja in aller Naivität zu übersetzen wäre, eigentlich nicht dem Zweck der Übung dienen, sondern Studien sind zur poetischen Relevanz bestimmter typischer Handreichungen des Pianisten. An der Etüde gis-moll lässt sich erfahren, wie sehr Perahia Chopin im Wortsinn "begriffen" hat. Da kommt zusätzlich eine Ahnung von Impressionismus auf, ohne dass Perahia diesen Aspekt übertriebe. Er übertreibt eigentlich überhaupt nicht, und man kann sich am Ende des Eindrucks nicht erwehren, dass Chopin einfach so klingen müsse und nicht anders. Er kann in der Tat ganz anders klingen, aber das Moment des Natürlichen, des Selbstverständlichen ist vielleicht das, was an dieser CD am stärksten beeindruckt. * Musikbeispiel: F.Chopin - Étude op. 25,6 gis-moll