
Musik: Pierre Henry - "La dixième symphonie" (Ausschnitt)
Pierre Henry gehört in Frankreich zu den bedeutenden Wegbereitern der elektronischen Musik und Musique concrète. Hierbei handelt es sich um eine Technik, bei der mit aufgenommenen und auf Tonträgern gespeicherten Klängen komponiert wird. Diese Aufnahmen werden dann durch Montage, Bandschnitte, Verlängerungen der Bandgeschwindigkeiten und wiederholt wiederkehrende Sequenzen, also Loops verfremdet. Als Namensgeber dieser Form von Geräuschmusik durch Klangverfremdung gilt der französische Ingenieur Pierre Schaeffer, der 1943 ein eigenes Studio in Paris gründet. Die Möglichkeiten dieses Spiels mit aufgenommenen Klängen fasziniert auch Pierre Henry, der sich zu Beginn der 1950er Jahre Schaeffer anschließt und später auch dessen Studio übernimmt, weil er sich als Komponist von der klassischen Notation zugunsten experimenteller Klangkollagen verabschiedet.
Großvater des Techno
Die Auseinandersetzung mit den Sinfonien von Beethoven steht im Leben Henrys über mehrere Jahrzehnte mehrfach im Fokus. Bereits 1979 widmet er sich einer experimentellen Klangcollage, die Beethovens sinfonischem Schaffen gilt, wobei er sich das ursprüngliche Material schöpferisch aneignet und facettenreich elektroakustisch überarbeitet. Die Uraufführung findet 1979 in der Beethovenhalle Bonn statt. 1998 entsteht dann im Rahmen des Jazz-Festivals in Montreux eine Überarbeitung als Remix und 1998 sorgt eine dritte Version mit Techno-Rhythmen für Aufsehen. Die vorliegende, bislang unveröffentlichte Variante verzichtet gänzlich auf elektroakustische Passagen und bietet eine Transkription ausschließlich für Orchester. Die Uraufführung fand im November 2019 in der Cité de la musique in Paris unter Mitwirkung von drei Orchestern und drei Chören statt.
Musik: Pierre Henry - "La dixième symphonie" (Ausschnitt)
Am 9. Dezember 1927 wird Pierre Henry in Paris geboren und studiert ab seinem 10. Lebensjahr am Pariser Konservatorium u.a. bei Nadja Boulanger und Olivier Messiaen. Neben Komposition und Harmonielehre studiert er Klavier und Schlagzeug. Zunehmend gilt seine Neugier Verbindungen elektronischer, instrumentaler und vokaler Musik. Entscheidend wird die Begegnung mit Pierre Schaeffer. Knapp zehn Jahre lang arbeiteten beide Komponisten zusammen und es entsteht unter anderem die "Symphonie pour un homme seul" - jenes Werk, das als Geburtsstunde der musique concrète gilt. Gleichzeitig tritt Henry aber regelmäßig als Live-Performer seiner Musik in Erscheinung, wobei er mit seinen "Remixes" auch ein jüngeres Publikum erreicht. Der "Psycho Rock" aus der "Messe pour le temps présent" wurde seinerseits remixed und Henry avancierte, eher unfreiwillig, zum "Großvater des Techno".
Er selbst hat sich immer als Erfinder von Klängen bezeichnet. Am 6. Juli 2017 stirbt Pierre Henry. "Die Revolution beginnt beim Hören. Für den Musiker ist das gleichzeitig ein experimentelles und ein imaginiertes Abenteuer. Ich verstehe diese Musik als Verlängerung und Hinauswachsen über die klassische Musik". Mit seiner "10. Sinfonie", einer Hommage an Beethoven hat Henry eine Klangcollage geschaffen, die spezifische Charakteristika seiner Klangsprache vereint.
Musik: Pierre Henry - "La dixième symphonie" (Ausschnitt)
Kunst des Fragmentierens
Pierre Henry selbst hat zu dieser orchestralen Fassung einige Gedanken formuliert, die seine künstlerische Motivation offen legen. Er verweist darauf, dass es sich mit dieser Hommage an Beethoven nicht um eine Verarbeitung von Skizzen handelt, die der Komponist noch selbst für eine 10. Sinfonie konzipiert hat. Es handelt sich auch nicht um eine Synthese der neun Sinfonien, sondern im Wesentlichen um eine kombinatorische Arbeit. Henry möchte damit Beethoven würdigen als einen Komponisten der immer gehofft habe, die Grenzen des Orchesters zu überschreiten. "Vielleicht eine Möglichkeit, mein Portrait durch diese Musik und den Einfluss, den sie auf mich hatte, zu malen. Es ist eine traumhafte, logische und respektvolle Entwicklung durch das, was diese Sinfonien enthalten und suggerieren", notiert Pierre Henry.
Als Rohmaterial greift er auf einzelne Noten, Akkorde oder Motive aus den neun Sinfonien zurück. Im Zentrum stehen acht Sätze der insgesamt zwölfsätzigen Originalfassung von 1979. Auch ohne elektroakustische Behandlung werden hier die charakteristischen Schnitte, Collagen oder Mischungen auf die analog erklingenden Orchesterstimmen übertragen. Dabei schimmern immer wieder ursprüngliche Strukturen Beethovens durch, die sich aber in gänzlich neuen Kontexten entfalten.
Musik: Pierre Henry - "La dixième symphonie" (Ausschnitt)
Collage als eigenständiges Werk
Bei dieser sinfonischen Hommage an Beethoven handelt es sich um keinen Rekonstruktionsversuch mit modernen Kompositionstechniken, auch nicht um eine zeitgenössische Reflexion über den Komponisten. Im Zentrum steht eine Materialsammlung. Henry begreift das Werk als einen Streifzug durch essentielle sinfonische Momente.
In Form einer gigantischen Collage montiert und zerlegt er zahllose rhythmische, melodische und harmonische Zellen. Aus all diesen Fragmenten destilliert Henry schließlich ein neues Werk, obwohl er mit Momenten spielt, die sich quasi als musikalisch-kulturelles Gedächtnis längst eingraviert haben. "Ist es Beethoven? - nein, es ist Pierre Henry" betont er selbst und spricht von einem Originalstück, aber er schließe nicht aus, damit vielleicht ein Verbrechen begangen zu haben.
Musik: Pierre Henry - "La dixième symphonie" (Ausschnitt)
Beethoven habe er nie vergessen, in jungen Jahren immer gehört oder gespielt, so Pierre Henry im begleitenden Booklet. Zudem habe er von Beethoven mehr an kompositorischem Handwerk gelernt als bei anderen Komponisten. Er verfüge über eine Dramaturgie der Töne, die weder Bach, Wagner oder Webern nutzten. Dem Ohr bietet sich ein gleichzeitiges Erklingen verschiedenster Momente aus neun Sinfonien, die sich im Raum durch diverse Schichtungen immer wieder neu formieren und den Hörer irritieren.
Musik: Pierre Henry - "La dixième symphonie" (Ausschnitt)
Die Einspielung mit drei Orchestern und zwei Chören über drei Bühnen verteilt, wirkt imposant, teilweise theatralisch, aber nicht klanglich überladen. Vielmehr dominiert eine hohe Virtuosität und eine bemerkenswerte Dynamik, mit der die Dirigenten Bruno Mantovani und Pasqual Rophé sowie Marzena Diakun agieren. Dem Hörer bleibt über gut 75 Minuten ein fulminantes Hörerlebnis. Insgesamt eine originelle, aber auch durchdachte Auseinandersetzung mit Beethovens sinfonischer Hinterlassenschaft. Pasqual Rophé, einer der Uraufführungsdirigenten, bezeichnet das Werk als eine Art Remix der neun Beethoven-Sinfonien, aber es "sei auch die Schaffung eines neuen Objekts. Wie Picasso zu seiner Zeit, indem er Tapetenstückte klebte, um etwas Neues zu bauen."
Musik: Pierre Henry - "La dixième symphonie" (Ausschnitt)
Soweit abschließend ein Ausschnitt aus dem Finale der "Dixième Symphonie" von Pierre Henry, einer sinfonischen Hommage an Beethoven. Vorgestellt wurde Ihnen heute dieses Werk in einer Fassung mit acht Sätzen, aufgenommen 2019 in der Cité de la Musique in Paris. Unter der Leitung von Marzena Diakun, Bruno Mantovani und Pasqual Rophé spielten das Orchestre Philharmonique de Radio France und das Orchestre du Conservatoire de Paris. Ferner hörten Sie den Chœur de Radio France und Le jeune Chœr de Radio France, sowie Benoît Rameau, Tenor. Erschienen ist die CD bei Alpha Classics, im Vertrieb erhältlich über Note 1.
Pierre Henry
LA DIXIÈME SYMPHONIE – HOMMAGE À BEETHOVEN
Orchestre Philharmonique de Radio France
Orchestre du Conservatoire de Paris
Ltg. Pasqual Rophé, Bruno Mantovani, Marzena Diakun
Cœur de Radio France, Le jeune Chœur de Paris
Ltg. Richard Wilberforce
Benoît Rameau, Tenor
CD Alpha Classics 630, LC 00516
EAN: 3760014196300
LA DIXIÈME SYMPHONIE – HOMMAGE À BEETHOVEN
Orchestre Philharmonique de Radio France
Orchestre du Conservatoire de Paris
Ltg. Pasqual Rophé, Bruno Mantovani, Marzena Diakun
Cœur de Radio France, Le jeune Chœur de Paris
Ltg. Richard Wilberforce
Benoît Rameau, Tenor
CD Alpha Classics 630, LC 00516
EAN: 3760014196300