Freitag, 19. April 2024

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Chorwerke von Heinz Holliger
Musik als utopische Sprache

Oboen-Virtuose, Dirigent, Komponist – der Schweizer Heinz Holliger ist eine vielgestaltige Künstlerpersönlichkeit. Musik ist für ihn eine Kunst, die beginnt, wo Sprache endet. Mit seiner neuen CD „Choral Utopia“ widmet sich das SWR Vokalensemble fünf Chor-Werken Holligers.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre | 15.07.2018
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    Das Cover der CD: Heinz Holliger - "choral utopia" (WERGO)
    In der Musikwelt sorgt Heinz Holliger erstmals 1959 für Aufsehen, als er in Genf den renommierten "Internationalen Oboen-Wettbewerb" im Alter von 20 Jahren gewinnt. Schon kurze Zeit später begleitet seine internationale Karriere als Instrumentalist auch das Dirigieren und Komponieren, stets im Zeichen von Kompromisslosigkeit unter dem selbst formulierten Credo: "Eine Kunst der Mitte ist uninteressant!"
    Klangflächenverschmelzung
    Heinz Holliger fühlt sich von Texten angezogen. Immer wieder richtet er seine Neugier auf verfolgte oder ignorierte Autoren. Einen Beleg liefert bereits das erste Chorwerk der vorliegenden Aufnahme. David Rokeah, 1916 in Lemberg geboren, floh 1934 nach Israel und arbeitete dort als Elektriker im Straßenbau. Daneben schrieb er auf Jiddisch und Hebräisch.
    12 Gedichte unter dem Titel "Shir Shavur" (deutsch: "Zerbrochenes Lied") lieferten Holliger 2004 die Grundlage für einen Zyklus für gemischten Chor mit Soli a cappella. Er komponierte sowohl die deutsche als auch die hebräische Fassung des Textes, was sich besonders in verschiedenen Besetzungen des Chores niederschlägt. Antiphonale, also doppelchörige Sätze wechseln mit responsorialen Passagen, für Soli und Chor. Zum einen greift Holliger Techniken der altniederländischen Polyphonie auf, zum anderen prägen kanonartige Verläufe die Satztechnik.
    Hier aus "Shir Shavur" die Teile "Rosen lassen Nacht erglühn", "Regenaugen. Hagelsplitter", sowie "Dornen und ihr vielfingriger Schatten". Markus Creed leitet das SWR Vokalensemble.
    Musik: Heinz Holliger - "Shir Shavur" (Ausschnitte) für gemischten Chor mit Soli a cappella
    Musik der Sprachlosigkeit
    Geräuscheffekte, phonetische Elemente und Klang-Schichtungen spielen immer wieder eine wichtige Rolle im Vokalschaffen von Heinz Holliger. Er sucht und forscht als Komponist an den Rändern von Klang, Sprache und Ausdruck, zerlegt Worte in ihre Bestandteile, wobei er besonders auf eine sehr differenzierte Betonung von einzelnen Silben achtet. So entsteht eine sehr suggestive Deutung des Textmaterials.
    In "Psalm" für 16 Solostimmen a cappella nach einem Text von Paul Celan geht es nicht nur um eine Vertonung, sondern um eine Stellungnahme zum Schrecken der Schoah. Das Prinzip der Sprachlosigkeit wird zum Ausdrucksmittel. "Diese Musik verurteilt sich zum Schweigen", so Clytus Gottwald, Freund und profunder Kenner von Holliger im CD begleitenden Booklet.
    "Psalm" von 1971 ist die einzige ältere Komposition auf der CD. Das Stück setzt auf Möglichkeiten des Atmens als klanglicher Effekt, bei dem der Hörer Teilhaber wird. Hörbar werden Geräuschanteile, das Atmen und Seufzen, erstickte Schreie des Schmerzes. Diese klanglichen Facetten verkörpern, was sich nicht mehr in Worte fassen lässt. Celan ersetzt in seinem Psalm den Gottesbegriff durch die Worte "Nichts und Niemand", was Holliger aufgreift, indem er die Klänge teilweise dem Schweigen annähert.
    Der Chor bewegt kaum mehr als die Lippen, um einen "Lobgesang mit durch geschnittener Kehle" wiederzugeben. Gewidmet ist das Vokalwerk Paul Celan, Nelly Sachs und Bernd Alois Zimmermann, die im Jahr 1970 verstarben und denen Heinz Holliger tief verbunden war.
    Musik: Heinz Holliger - "Psalm" für 16 Solostimmen a cappella
    Die Eindringlichkeit der Vokalwerke Heinz Holligers realisiert sich in der vorliegenden Aufnahme durch das exzellente Klanggefühl des SWR Vokalensembles und seinem Dirigenten Markus Creed, der seit 2003 künstlerischer Leiter des Ensembles ist. Kompositionen der jüngsten Vergangenheit zeichnen das Repertoire dieses internationalen Spitzenensembles, das im Lauf seiner 70-jährigen Geschichte mit Experimentierlust und musikalischem Forschergeist hoch komplexe Partituren aufgesucht hat.
    Klang als Sinnsuche?
    Als Kompositionsauftrag des Leipziger Thomanerchores entstand 2011 die neun-teilige Motette "hölle himmel" nach Gedichten von Kurt Marti für gemischten Chor mit Schlagzeug ad libitum. Eine Komposition, die in ihrer Gesamtkonzeption einen neuen Weg in der Gestaltung der Kirchenmusik beschreitet, weil sie innerhalb der gewohnten liturgischen Thematik Fragen stellt und musikalisch mit der traditionellen Form bricht. Die Textvorlage will unbedingt aufrütteln, wenn es heißt: "... es muss eine Hölle geben, wo wäre sonst Hitler, es muss einen Himmel geben, wo wären sonst die Vergasten...".
    Erörtert werden neben Glaubensfragen auch weltliche Themen unserer Zeit wie Frieden und Umwelt. Holliger ist fasziniert vom unorthodoxen Umgang mit Bibelzitaten und reagiert auf den Text sowie einzelne Worte mit extremen Intervallsprüngen, häufigen rhythmischen Brüchen und einem steten Wechsel zwischen Singen und Sprechen.
    Musik: Heinz Holliger - "intonation" aus: "hölle himmel" für gemischten Chor mit Schlagzeug ad lib.
    Ebenfalls auf Gedichten von Kurt Marti beruht der Zyklus "Rosa Loui" mit vier Chorliedern in 10 Variationen für gemischten Chor a cappella aus den Jahren 2006/07. Holliger und Marti verbindet der gemeinsame heimatliche Berner Dialekt, der heute vom Aussterben bedroht ist.
    Auf musikalischer Ebene ist hier in vierstimmigen Sätzen konzipiert, auch wenn Holliger in manchen Momenten über Kanonbildungen zur Achtstimmigkeit erweitert. Zudem spielt er mit Differenztönen, indem er gelegentlich Akkordblöcke ineinander verschachtelt, was für das Textverständnis jedoch eine akustische Herausforderung bedeutet. Trotzdem taucht man beim Hören in einen klanglich sehr feinnervigen und vor allem packenden Klangkosmos ein.
    Musik: Heinz Holliger - "kabbalistik" aus "Rosa Loui" für gemischten Chor a cappella
    Differenzierte Erweiterung des Chorambitus
    Abschließend fällt der Blick auf "Utopie Chorklang" für drei zwölfstimmige Chorgruppen im Dritteltonabstand - 2004 komponiert für das SWR Vokalensemble Stuttgart. Den Text zum Stück hat Holliger selbst geschrieben und unternimmt auf Kompositionsebene den Versuch, den Chorklang im Ganzen zu verändern. Dabei geht es ihm um die Erzeugung von Differenztönen, die sich aber auf stimmlicher Ebene nur schwer erzeugen lassen. Dazu benötigt man immer differenziertere Vokaltechniken, die in der Neuen Musik bislang nur auf Sologesang zielten.
    Von seinen Erfahrungen als Oboist ausgehend, versucht Holliger mit dieser Komposition, seine Vision auf den gesamten Chorklang zu übertragen. Der Chor ist eingeteilt in drei Gruppen zu jeweils zwölf Stimmen, verschieden gestimmt wie ein Orgelregister. Dabei singt die zweite Gruppe ihren Text wie notiert, während die erste Gruppe einen Drittelton höher intoniert und die dritte Gruppe einen Drittelton tiefer. Alle Sänger singen aber zur gleichen Zeit die gleichen Vokale. Somit erklingen die unzähligen Differenztöne und schließen sich in manchen Momenten zu einer übergeordneten Klangschicht zusammen.
    Clytus Gottwald weist im Booklet darauf hin, dass dieses Werk eine optimistische Sicht auf die Zukunft des Chorgesangs spiegelt und notiert: "Die Vorstellungen, was Utopie des Chorklangs sein könnte, gehen zurzeit meist in die Richtung, dass dem Chor telegen interessante gymnastische Übungen beigebracht werden. Die damit verbundenen musikalischen Utopien sind nur schwächlich ausgebildet, erschöpfen sich meist in der Ablehnung aller vokalen Innovationen der sogenannten neuen Musik, wenn sich Chormusik insgesamt nicht der Popmusik an den Hals wirft."
    Auf der CD erklingt das Werk als Ersteinspielung mit dem SWR Vokalensemble unter der Leitung von Markus Creed.
    Musik: Heinz Holliger - "Utopie Chorklang" für drei zwölfstimmige Chorgruppen
    Mit "Utopie Chorklang" endet die heutige Ausgabe der Neuen Platte. Im Mittelpunkt stand die CD "Choral Utopia" mit Vokalwerken von Heinz Holliger, interpretiert durch das SWR Vokalensemble unter der Leitung von Markus Creed. Erschienen sind die Aufnahmen beim Label WERGO. Weitere Informationen finden Sie auch im Netz unter www.wergo.de.
    Heinz Holliger: CHORAL UTOPIA
    SWR Vokalensemble, Ltg. Marcus Creed
    WERGO CD 73332, LC00846
    EAN: 4010228733327