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"Chowantschtschina" in Antwerpen
Begriffs-, bild- und teilnahmslos

Dmitri Jurowski und David Alden deuten "Chowantschtschina" von Modest Mussorgsky an der Oper in Antwerpen. Dem Dirigenten Jurowski gelingt mit dem Symfonisch Orkest Opera Vlaanderen eine wohldosierte, in den Extremen nicht zu grelle Interpretation. Leider werden die theatral möglichen Widersprüche nicht gewagt.

Von Frieder Reininghaus |
    Morgenstimmung mit zarten Bläsertönungen und altgläubigem Kirchenton kann sich auch zwischen Betonwänden einstellen. Das auf unterschiedliche Weise rechtgläubige alte Russland erwacht in der plausibel schlichten Ausstattung von Paul Steinberg. Sie ist mit modernen Stühlen und Bürotischen zeitlos funktional möbliert. Am Eingang zu inneren Bezirken der Staatsmacht befindet sich eine Kontrollstelle. Durch Bemäntelung mit gerafftem Tuch verwandeln sich die Betonrundungen später in fürstliche Residenzräume. Erst einmal verweisen große Zeiger darauf, was die Uhr geschlagen hat: acht nach sechs.
    Fulminante Bassgewalt
    Die Sicherheitskräfte in modisch gesprenkelter Tschetschenien-Kampfmontur schaffen zwei Leichen weg, die bei nächtlichen Kontrollen angefallen sind. Der Chor beklagt seinen Analphabetismus. Fürst Golyzin stellt sich ein und diktiert einem um sein Leben bangenden Schreiber ein Denunziations-Schreiben an die Regentin Sofia. Die will ihren geistig minderbemittelten Bruder Ivan auf dem wackligen Zaren-Thron halten - zusammen mit dessen minderjährigen Halbbruder Peter (nachmals der Große). Als Intrigant der patriarchalisch-jovialen Sorte stellt sich Vsevolod Grivnov vor - mit fulminanter Bassgewalt und versiert gut geführter Stimme. Er ist der Antipode des nicht minder machtbewussten Iwan Chowanski, der als Kommandeur der Strelitzen die zentrale Funktion im Sicherheitssystem einnimmt und zu spät bemerkt, wie ihm die Huld des Hofes und damit das Gesetz des Handelns entgleitet.
    Hemmungslose Geilheit des Jungfürsten
    Mussorgskys grobkörnige, zwischen Sentimentalitäten, religiöser Inbrunst und Martialismus changierende Musik staffiert drastisch Konflikte aus - zuvorderst die zwischen Traditionalisten und den Kräften einer allfälligen Erneuerung, aber auch zwischen der hemmungslosen Geilheit des Jungfürsten und dem Recht auf weibliche Selbstbestimmung. Dem Dirigenten Dmitri Jurowski ist das Herausprozessieren der Kontraste hörbar Herzensangelegenheit - mit dem Symfonisch Orkest Opera Vlaanderen gelingt ihm eine wohldosierte, in den Extremen nicht zu grelle Interpretation. In ihr profilieren sich der virile Bass Ante Jerkunica mit baritonalem Timbre als Vater und der makellos singende und aussehende Tenor Dmitri Golovnin als Sohn Chowanski. Beide werden auf dem Altar des Vaterlandes geopfert, d.h.: Der Vater fällt einem Meuchelmord zum Opfer, der Sohn zieht mit Marfa und dem dezimierten Häuflein der Altgläubigen den Tod im selbst gelegten Feuer der Hinrichtung durch die Petrowsken vor. Die Garde des neuen Autokraten kann sich darauf konzentrieren, die Strelitzen zu liquidieren.
    Trotz Sex-Szene bleibt die Handlung kalt
    So sinnfällig David Aldens Inszenierung zunächst in einer von historischer Verortung abstrahierenden Form die Intrige dazustellen versteht, so sehr rächt sich, dass er sich weder auf die Historie einlässt noch auf das Fortdauern einer Mentalitätsgeschichte, die allemal die skrupellosesten Führernaturen begünstigt und Machtbalance, Interessenausgleich oder gar Barmherzigkeit für Schwäche hält. Trotz einer sadistischen Sex-Szene mit einer persischen Tänzerin und anderen Auflockerungen aus dem britischen Herrenmagazinprogramm bleibt die pflegeleichte Produktion gegenüber den Emotionen der Handlung kalt und gegenüber dem historischen Elend wie den aktuellen russischen Defiziten begriffs-, bild- und teilnahmslos.
    Staatliche Sparkommissare haben leichtes Spiel
    Wer bei "Chowantschtschina" die theatral möglichen Widersprüche nicht wagt, bringt die Oper auf ein nurmehr der Musik ausgeliefertes Niveau herunter, mit dem dann auch die staatlichen Sparkommissare leichtes Spiel haben. Und die haben im Nachbarland Belgien jetzt zugeschlagen, behandeln die Opernhäuser in Antwerpen und in der europäischen Hauptstadt Brüssel wie die in Neustrelitz und Halle.