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Christen im DDR-Bildungssystem
Stockende Aufarbeitung

Wer in der DDR öffentlich als religiös auftrat, musste mit Repressionen rechnen. Oft wurden Christen Bildungschancen verwehrt. Das Unrecht soll schon seit Längerem aufgearbeitet werden - doch Politik, Kirchen und Wissenschaft werden sich nicht einig.

Von Henry Bernhard | 13.12.2018
    Der Berliner Dom und der 'Palast der Republik' in Berlin im Frühjahr 1990.
    Die Diskriminierung von Christen im DDR-Bildungssystem beschäftigt Kirche und Politik bis heute. Zu sehen sind der Berliner Dom und der 'Palast der Republik' der SED-Regierung im Frühjahr 1990. (imago / Werner Otto)
    Matthias Sengewald ist 63 Jahre alt, hat wilde graue Haare. Er ist im äußersten südöstlichen Zipfel der DDR aufgewachsen. Er war – wie viele in seiner Klasse – Christ. Und das bekam er in der Schule regelmäßig zu spüren.
    "Das heißt, wenn man da eben als Christ sich bekannte oder eben zur christlichen Jugendarbeit ging – Junge Gemeinde hieß das –, dann war man eben automatisch keine 'ausgereifte sozialistische Persönlichkeit'. Also, ich habe in meinen Zeugnissen immer stehen gehabt, dass ich mich noch um einen 'klaren Klassenstandpunkt' bemühen muss."
    Die Niederschlagung des Prager Frühlings erlebte er aus nächster Nähe. Die Panzer nach Prag rollten durch seinen Ort. Für ihn war das ein Bruch mit der Hoffnung, dass sich der Sozialismus menschlich und tolerant entwickeln könnte. In der Schule eckte er immer wieder an. Ob nun in Staatsbürgerkunde, in Geschichte, in Deutsch.
    "Also, Lessing, 'Nathan, der Weise'. Da mußte ich einen Vortrag halten über diesen Toleranzgedanken. Und irgendwann war man eben soweit – oder ich jedenfalls –, dass man eben auch gesagt hat, was man gedacht hat, nämlich, dass ich das gut finde, dass das aber mit der Toleranz gegenüber der Religion in der DDR nicht verwirklicht ist. Also, das waren so die kleinen Sachen, das klingt jetzt so harmlos, aber letzten Endes hieß das ja: Abgeschnitten-Sein von Bildungswegen. Karriere in dem Sinne, wie man das heute als was ganz Normales versteht, war eben für viele nicht möglich. Also, Abitur habe ich mich letzten Endes gar nicht beworben, obwohl ich den Notendurchschnitt hatte. So nach dem Motto: Hat sowieso keinen Zweck."
    "Wer brav war, wurde belohnt"
    Matthias Sengewald hat dennoch eine Berufsausbildung mit Fachabitur machen können. Aber nur, weil ihm ein wohlgesonnener Lehrer geraten hat, doch noch in die FDJ einzutreten. Doch nach dem Abitur stand er vor dem gleichen Problem: Er wäre gern Lehrer geworden.
    "Letzten Endes war mir völlig klar, dass das nichts wird. Dass ich schon beim Studium zum Lehrer anecken würde. Weil die Lehrer in der DDR – also, es ist sogar mal so formuliert worden – als 'Sprachrohr des Staates', dieses sozialistischen Staates und damit auch atheistischen Staates verstanden wurde. Und das ganze System in der DDR war ja – ich sage manchmal: eine Erziehungsdiktatur. Ein bisschen wie ein Kindergarten – obwohl das jetzt verharmlosend auch ist. Wer brav war, der wurde belohnt. Und Belohnung hieß eben zum Beispiel: Abitur machen können, Bildungswege, studieren können. Und wer nicht brav war, wer sich nicht an die Regeln hielt, der war noch nicht 'reif' dafür oder war auch nicht geeignet dafür."
    Also besuchte er eine kirchliche Ausbildungsstätte und wurde Religionspädagoge – mit entsprechend geringeren Karriereaussichten - und auch geringeren Verdienstmöglichkeiten, die sich bis in die spätere Rente auswirken.
    Geschichten wie die von Matthias Sengewald gibt es zigtausendfach. Deshalb wollte sich die Rot-Rot-Grüne Landesregierung in Thüringen des Themas annehmen, wie Christen im Bildungssystem der DDR benachteiligt wurden. Eine Arbeitsgruppe wurde gegründet, in der verschiedene Ministerien vertreten sind, die beiden großen, aber auch freie Kirchen.
    "Damit ist das Thema nicht tot"
    Ein Jahr später wurde ein Kirchenhistoriker der Universität Erfurt beauftragt, einen Forschungsantrag zu erarbeiten. Gewöhnlich wickelt die Thüringer Aufbaubank die Finanzierung solcher Projekte ab. Bis dahin ein üblicher Vorgang. Aber es kam anders: Der Förderantrag für die Finanzierung der Forschung wurde von unabhängigen Experten abgelehnt. Ilse Junkermann, Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, und Ulrich Neymeyr, der katholische Bischof von Erfurt, veröffentlichten sofort eine gepfefferte Pressemitteilung:
    "Das Scheitern dieses für die Aufarbeitung der SED-Diktatur so wichtigen Forschungsvorhabens enttäuscht uns sehr. Damit ist weit mehr gescheitert als ein bloßer wissenschaftlicher Förderantrag: Hier wurde die Chance vertan, die systematische und oft massive Benachteiligung von Christen in der DDR mit ihrer Wirkung bis heute umfassend zu beleuchten und den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, über Erlebtes und Erlittenes zu sprechen."
    Die oppositionelle CDU setzte nach und unterstellte der Staatskanzlei, geführt von der Partei "Die Linke", Vorsatz: Wenn sie die Studie wirklich gewollt hätte, dann hätte sie dem Historiker nicht zu ungeeigneten Förderstrukturen geraten. Der Historiker wiederum sagte, er werde den Antrag nicht überarbeiten. Dafür stehe er nicht zur Verfügung. Das traf die Staatskanzlei kalt. Damit hatte man nicht gerechnet. Die zuständige Staatssekretärin Babette Winter musste sehr schnell sehr viele Krisengespräche führen. Ihre Botschaft: Es geht, irgendwie, weiter.
    "Von daher sind in etlichen Gesprächen, die ich geführt habe, etliche auch mittlerweile nach der ersten Enttäuschung, die verständlich ist – ich war auch enttäuscht, sage ich ganz ehrlich! –, da viel deutlich entspannter – was das Verfahren angeht! Mir ist nur wichtig das Signal: Damit ist das Thema nicht tot."
    "Es muss jetzt einfach losgehen"
    Selbst in den beiden großen Kirchen sprechen viele – allerdings nicht öffentlich – davon, dass ihre Bischöfe in der Presseerklärung maßlos überzogen hätten. Die Bischöfin Ilse Junkermann möchte derzeit darüber nicht reden.
    "Also, wir sind übereingekommen, dass wir die Zeit und Kräfte jetzt nicht dazu verwenden wollen, diesen Konflikt und das Entstehen des Konfliktes aufzuarbeiten. Wir sind zu nahe dran. Deshalb würde ich es erst mal ruhen lassen, bevor wir es uns irgendwann mal angucken aus einer Perspektive, die nicht mehr vom Scheitern ausgeht."
    Wie aber soll es weitergehen? Darüber herrscht Uneinigkeit. Da gibt es die, die fordern, dann solle das Geld halt aus dem Landeshaushalt genommen werden. Astrid Rothe-Beinlich, eine evangelische Bündnis-Grüne im Thüringer Landtag, die allein aufgrund ihres Alters in der DDR nicht diskriminiert werden konnte, sieht das Ende ihrer Legislatur in einem Jahr näher rücken.
    "Was für mich entscheidend ist: dass diese Forschung stattfindet! Weil es uns um die Sache geht und weil ich mich da in besonderer Weise verpflichtet fühle, gerade auch aus dieser Konstellation kommend, die ja regiert und sich auch vorgenommen hat, Zeichen zu setzen. Und aus meiner Sicht muss es jetzt einfach losgehen. Und im Zweifel wäre ich dafür, politisch zu sagen: Dann nehmen wir das Geld aus dem Landeshaushalt – uns ist jetzt das Ergebnis oder die Forschung wichtiger als das Signal: Es findet nicht statt."
    "Es gab auch Nischen, Lücken, Wege und Umwege"
    Wissenschaftler sehen das ganz anders. Über die Qualität des Forschungsantrages will sich keiner äußern, da gib es verschiedene Aussagen. Manche sagen hinter vorg ehaltener Hand, die Kirchen hätten zu sehr hineinregiert und dem Antrag zu viel aufgeladen. Andere sagen, der Antrag habe Mängel gehabt. Die meisten aber meinen, auch ein guter Antrag könne scheitern. So sieht es auch der Historiker Jörg Ganzenmüller, Vorsitzender der Stiftung Ettersberg.
    "Aus Sicht der Wissenschaft heißt das, dass so ein Projekt eher in Unabhängigkeit entworfen und auch durchgeführt werden muss. Und insofern wäre es ein falscher Weg gewesen zu sagen: Jetzt kommt die Landesregierung und bestimmt jetzt Thema, Fragestellung und Person, die das erforschen soll – und dann wird das gemacht. Auch innerhalb der Wissenschaft würde so ein Verfahren keine Anerkennung finden. Das wäre sozusagen staatliche Auftragsforschung. Die Ergebnisse würden sofort auch in der Wissenschaft unter dem Vorbehalt stehen: Ist das nicht eine staatliche Auftragsforschung mit politischem Impetus? Wie weit können wir das überhaupt ernst nehmen? Insofern muss man die Regeln der Wissenschaft einhalten, und da gehört eben auch dazu, dass Anträge auch mal abgelehnt werden können."
    Das hat auch die Staatskanzlei eingesehen. Nun wird hinter verschlossenen Türen nach einer Lösung gesucht, die das Gesicht aller wahrt und es ermöglicht, die Diskriminierung der Christen im DDR-Bildungssystem zu erforschen. Wie wichtig es dabei ist, zu differenzieren, auf Grautöne zu achten, darauf verweist der Kirchenhistoriker und erfahrene DDR-Aufarbeiter Peter Maser.
    "Christliche Schüler wurden repressiert; ich gehöre ja selber dazu, habe in meinem ganzen Leben nie ein Abitur gemacht. Aber ich bin das lebendige Beispiel dafür – das war das Verrückte an diesem System –, es gab eben auch Nischen, Lücken, Wege und Umwege, in denen das eine oder andere repariert werden konnte. Manche sind zerbrochen, die haben sozusagen keinen Weg oder Ausweg gefunden, andere sind über Volkshochschule oder kirchliche Bildungseinrichtungen oder wie auch immer vorangekommen. Mir hat die Arbeiter- und Bauern-Fakultät 'Walter Ulbricht' – gesegnet sei ihr Andenken – dazu geholfen, dass plötzlich der Weg zur Uni auch ohne Abitur möglich war. Das gab es eben auch. All diese Geschichten müssen erst mal gesammelt werden. Und wenn der Projektantrag entsprechend überarbeitet wird oder neu formuliert wird oder wie auch immer, dann ist das eine gute Sache."