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Christian Bangel: "Oder Florida"
Mehr Erinnerungsreportage als Roman

Christian Bangel setzt mit seinem ersten Roman "Oder Florida" der Nachwendezeit in Franfurt (Oder) ein literarisches Denkmal. Das Buch lebt von seinen farbenfrohen Figuren und lässt das Lebensgefühl von damals lebendig werden. Allerdings gelingt es dem Autor nicht ganz, seinen Erzählstoff zu bündeln.

Von Tanya Lieske | 20.02.2018
    Blick vom Grenzübergang Stadtbrücke in Frankfurt (Oder) (Brandenburg) am 12.09.2016 auf eine große Sandbank die im Niedrigwasser der Oder zu sehen ist.
    Der Grenzübergang Stadtbrücke in Frankfurt (Oder). (dpa / picture alliance / Patrick Pleul)
    Die deutsche Grenzstadt Frankfurt (Oder) war in den 1990er Jahren ein besonderer Ort. Hier die Nähe zur jungen Hauptstadt Berlin, dort eine Brücke nach Polen, die plötzlich offen war. Im Umland boten sich Treffpunkte für Typen mit Schmuggelware, für Lokalpolitiker mit dicken Stasiakten und für Neonazis. Die meisten Wohnungen hatten noch kein Telefon; wer ein Faxmodem besaß, war technisch gesehen absolut auf der Höhe. Jeder kannte jeden, die östlichste deutsche Grenzstadt war ein Ort der kurzen Wege.
    Sie war auch ein Biotop, in dem allerhand farbenfrohe Existenzen gedeihen konnten. Viele davon tauchen auf in Christian Bangels Debütroman "Oder Florida". Es gibt hier den langjährigen Oberbürgermeister Krautzig, Beiname "Der Ewige", der immer auf Tauchstation geht, wenn Spiegel Online in der Stadt ist. Es gibt den Wenderitter Franziskus, einen Unternehmer, der seinen Landsleuten die Freie Marktwirtschaft predigt. Günther Franziskus will der nächste Bürgermeister werden, weshalb er Fliege anheuert, einen Punk und ehemaligen Hausbesetzer, der eine Werbeagentur gegründet hat. Dort arbeitet auch Mathias Freier, er ist 20 Jahre alt, Zivildienstleistender, Nazi-Hasser, Lokalpatriot und der Erzähler dieses Romans.
    "Freiheit", sagte Franziskus, "ist immer auch die Freiheit des Leistungsfähigeren. Im Westen haben sie das schon lange verstanden, aber wir Ossis verfrühstücken jeden Tag den Wohlstand, den uns andere geschenkt haben. Du zum Beispiel", er zeigte mit dem Finger auf mich, "bist jung, gesund und ein schnieker Bursche. Gute Zähne. Du müsstest doch eigentlich jeden Tag früh um sechs aufstehen und sagen: Was kann ich heute erreichen? Aber machst du das auch?" Na ja, machmal schlief ich schon ein bisschen länger. Ich sah zu Fliege, der kaum merklich nickte. "Ja", sagte ich.
    Roman lebt von seinen Figuren
    Mathias Freiers Geschichte kommt in Gang, als sein Freund Fliege und der Unternehmer Franziskus beschließen, aus ihm einen Pressesprecher zu machen, und ihn mit der bevorstehenden Wahlkampagne zu betrauen. Das ist der Ruf, dem unser Held nun folgen muss. Da Freier mit einer gründlichen Portion an Seelenruhe ausgestattet ist – er lebt gerne in den Tag hinein und wenn es mal nicht klappt, schickt Mutti Fresspakete – ist der Boden der komischen Lokalposse bestens vorbereitet. "Oder Florida" gehört zum Genre des unterhaltsam erzählten Nachwenderomans, in dem es eigentlich nicht so wichtig ist, was im Einzelnen passiert. Dieser Roman lebt von seinen Figuren.
    Der Autor Christian Bangel setzt den verschrobenen, kauzigen, bunten Typen seiner Nachwendejahre ein Denkmal. Sind sie jung, heißen sie Klarlack, Mike Mischjemüse oder Töffel, sie feiern, kiffen und schlagen sich den Nachwendesommer 1998 um die Ohren. Bis Nadja auftaucht, die große Jugendliebe des Erzählers, die ihn mit einer Spritztour nach Berlin aus seinem Trott reißt. Hier bietet sich Gelegenheit für einen Schnappschuss des Potsdamer Platzes:
    "Ich stand vor etwas Riesigem. Es war nicht direkt kaputt, aber auch nicht heil. Nicht Stadt, aber Land erst recht nicht. Direkt vor uns erhob sich ein apokalyptisches, kilometerweites Durcheinander von Kränen, Rohbauten, Wassergräben, Metallgerüsten, Holzplanken. Hunderte Flutstrahler, an unmöglichen, versteckten Orten, machten die Nacht zum Tag. Ein Betondschungel, ohne einen einzigen Menschen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. "Der Potsdamer Platz", sagte Nadja und untersuche eine ihrer Haarsträhnen. Diese Helligkeit, diese Stille. Wie bei Flutlicht in einem leeren Stadion. Ich drückte mein Gesicht an die Streben des Bauzauns. "Räuberleiter", sagte Nadja."
    Roman der ständigen Passage
    "Oder Florida" ähnelt mehr einer Erinnerungsreportage als einem Roman. Bangel schreibt dinglich und belebt, stellenweise auch sehr komisch. Eine Zeit und ein Lebensgefühl werden lebendig, es ist die Stimmung derjenigen, die im Wendejahr im Osten Deutschlands Kind waren. Sie schwanken zwischen Euphorie und übergroßer Vorsicht, zwei Positionen, die im Roman mit Mathias und Nadja besetzt sind. In ihrer Begegnung liegt die Chance der Gefühlsentwicklung des Helden, Coming of age hieße hier das Stichwort, doch auch diesen Erzählstrang legt Christian Bangel eher nebenbei aus.
    So ist ein Roman der ständigen Passage entstanden, etwas redselig und beiläufig, es gelingt dem Autor nicht ganz, seinen Erzählstoff zu bündeln. Schlussendlich macht Mathias Freier das, was viele junge Menschen in den 1990er Jahren getan haben, er verlässt seine Heimat. Freier soll für Frankziskus eine Zoohandlung in Florida gründen und wird vorher von einem befreundeten Unternehmer in Hamburg ausgebildet. Der funktioniert ganz gut als Kapitalistenklischee und zeigt, dass der Autor auch Schwarz-Weiß kann:
    Strössner stand auf und schloss das Fenster. "Ich hab sofort zugesagt, als mich Franziskus angerufen hat", sagt er. "Ist für mich Ehrensache, unseren Freunden aus den neuen Bundesländern zu helfen." Er setzte sich wieder und begann, einen Lolli auszuwickeln, der auf dem Tisch lag. "Schrecklich, die Zustände da. Ich war vor zwei Jahren in Dresden", sagte er. "Da haben sie wirklich was draus gemacht. Aber der ganze Rest. Das muss komplett durchgekärchert werden." Er schob sich den Lolli in den Mund und betrachtete mich. "Aber du, du bist da rausgekommen."
    Man ahnt, dass jemand wie Mathias Freier gar nicht rauskommen will. Seine Reise zurück nach Frankfurt ist eine Reise in die neue Freiheit, er entschließt sich, dort zu bleiben, wo er herkommt. Das bewegt nicht die Welt, aber es wärmt allemal das Herz. Und es bewahrt die Erinnerung an ein paar Nachwendejahre im deutschen Osten, die auch schon wieder Geschichte sind.
    Christian Bangel: "Oder Florida".
    Roman. Piper Verlag, München 2017. 352 Seiten gebunden 18,00 Euro.