Donnerstag, 09. Mai 2024

Archiv


Christoph Dieckmann, Babette Quinkert, Tatjana Tönsmeyer (Hg.): Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im östlichen Europa 1939 - 1945

Der französische Marschall Philippe Pétain prägte den Begriff "Kollaboration" für die Zusammenarbeit mit dem Feind. Für die Vielfalt und die unterschiedliche Motivation dieses Tuns stehen so bekannte Kollaborateure wie der sowjetische General Andrej Vlasov, der kroatische Faschistenführer Ante Pavelic, sein holländisches Pendant Adriaan Mussert, der ungarische Staatsführer Miklós Horthy und zahllose andere bis zum norwegischen Faschisten Vidkun Quisling, dessen Name längst zum Synonym für Volksverräter geworden ist. Das scheinbar so eindeutige Phänomen "Kollaboration" fächert sich bei genauerer Prüfung nahezu unübersehbar auf.

Wolf Oschlies | 15.12.2003
    In der westlichen Forschung variieren die Ansichten darüber, wie eng oder weit der Begriff zu verstehen ist und welche Formen von Kollaboration zu unterscheiden sind. Die bisherige Forschungsdiskussion hat vor allem gezeigt, dass der semantisch verschwommene Begriff keine neutrale analytische Kategorie darstellt, sondern vielmehr eine subjektive, moralisch wertende und oftmals stark politisierte. Häufig waren Grenzen zwischen Kollaboration, Anpassung und Widerstand fließend.

    So Tanja Penter in dem neuen Sammelband zum Thema Kollaboration. Wer von ihm definitorische Präzisierung und symptomatische Darstellung erwartet, wird weithin enttäuscht. Die in dem Band versammelten sieben Beiträge sind zumeist Auszüge oder Zweitaufgüsse von Dissertationen oder Habilitationen, die mit dem Thema oft wenig zu tun haben. Die Einleitung der HerausgeberInnen mag zwar feministisch korrekt sein, wirkt sprachlich aber grotesk und inhaltlich hilflos. Die in den Beiträgen verwerteten Quellen nehmen sich imponierend aus, lassen aber auch arge Lücken erkennen. Und völlig unverständlich erscheint der ganze Ansatz des Buchs, den Autorin und Mitherausgeberin Tatjana Tönsmeyer so formuliert:

    So ist doch die Beschäftigung mit der Kollaboration immer noch ein junger Zweig der Erforschung des Nationalsozialismus. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema lange Zeit einem Tabu unterlag, besonders in der Bundesrepublik. Schien doch die Frage nach nichtdeutscher Tatbeteiligung, besonders im Zusammenhang mit dem Mord an den europäischen Juden, auf eine Relativierung der deutschen Schuld hinauszulaufen.

    Ach ja? Was ist mit den nicht wenigen Monographien zu Pétain, Vlasov und anderen? Was mit Hannah Arendts Buch "Eichmann in Jerusalem", was mit dem Eichmann-Prozess vor 40 Jahren generell? Seine Protokolle sind veröffentlicht und als Vademecum für Kollaboration zu nutzen – auch und gerade zu Ländern, die in dem jetzigen Sammelband behandelt sind: Slowakei, Ungarn, Rumänien. Mit der Slowakei hat sich Tatjana Tönsmeyer befasst, und heraus kam eine gute und gut lesbare Studie über sozusagen slowakische Listigkeit, die die Deutschen mit Tricks, Tarnung und Täuschung oft genug ins Leere laufen ließ, also Verweigerung unter der Maske der Kollaboration betrieb. Kann man das so sagen? Wohl nur, wenn man die Deportation slowakischer Juden so obenhin behandelt wie die Autorin und den für Kollaboration bezeichnendsten Umstand unterschlägt: Die Slowakei bezahlte die deutschen Deportierer noch mit 500 Reichsmark pro Kopf, was als Kostenerstattung für die Schulung zum Arbeitseinsatz im Osten ausgewiesen wurde.

    Die schweren Verhältnisse von heute haben die alten, oft künstlich konstruierten Gegensätze ganz in den Hintergrund gedrängt und die althergebrachten freundschaftlichen Gefühle nur vertieft.

    So der ungarische Reichsverweser, Admiral Miklós Horthy, der mehrfachen Anlass hatte, mit Hitler in Dankbarkeit zu kollaborieren. 1938 sicherte er sich große Teile aus der von Hitler zerschlagenen Tschechoslowakei, 1940 zwang Hitler die Rumänen, ihre nördlichen Regionen an Ungarn abzutreten. Und generell verhalf die Partnerschaft mit Deutschland den Ungarn dazu, ihrem geschichtsnotorischen Judenhass die Zügel schießen zu lassen. In dem vorliegenden Sammelband behandelt der Engländer Tim Cole diesen Aspekt, was einen faktenreichen und leserfreundlichen Aufsatz zeitigte – der jedoch mit dem Thema Kollaboration so gut wie nichts zu tun hat. Von den territorialen Kollaborationsgewinnen ist kaum die Rede, und zum Terror gegen die Juden betont Cole zu Recht, dass dieser fast durchgehend eine ungarische Eigenleistung war. Zutreffend, aber das Thema verfehlend. Besser machte es Mariana Hausleitner in ihrem Essay über die Rumänen, die die Partnerschaft zu Hitler aus höchst nationalen Motiven suchten:

    Herr Vorsitzender, ich möchte nicht bestreiten, von Anfang an versucht zu haben, die alten Landesgrenzen wiederherzustellen, alle Grenzen; das war meine Mission für das rumänische Volk.
    So 1946 vor einem rumänischen Volksgericht Marschall Ion Antonescu, Ex-Staatsführer Rumäniens. Mariana Hausleitner hat den Prozess und die ihm voran gehenden Ereignisse sehr schlüssig analysiert und dabei ein exemplarisches Stück über Kollaborations-Motive zustande gebracht: 1918 hatte Rumänien sein
    Territorium auf Kosten Russlands und Ungarns verdoppelt, 1940 gab es die neuen Territorien auf deutschen Druck wieder zurück. Es blieb dennoch an Hitlers Seite, dessen Krieg gegen die Sowjetunion eine Wiedereroberung Besarabiens und der Bukovina und noch weiterer Gebiete versprach. Ein paar Jahre lang traf das auch ein, aber der rumänische Blutzoll war so hoch, dass das Land im August 1944 aus der deutschen Front ausscherte. Alle eroberten Gebiete gingen erneut verloren, aber wenigstens gab Stalin den Rumänen Nord-Siebenbürgern zurück, das sich fünf Jahre zuvor Ungarn genommen hatte. Einen ähnlich überzeugenden Eindruck macht Klaus-Peter Friedrichs Aufsatz über Kollaboration in Polen, hält ihn aber nicht gänzlich durch. Spricht eine Handvoll publizistischer Kollaborateure wirklich gegen die polnische Überzeugung, Polska nie wydała Quislinga – Polen hat keinen Quisling hervorgebracht? Ist so etwas gar eine Mythisierung des Widerstandes? Was Friedrichs über Kollaboration im Verwaltungs-, Sozial- und Arbeitsbereich sagt, ist richtig und gut belegt, geht faktisch aber kaum über das hinaus, was die Nazis selber sagten, etwa in Max du Prels Sammelband "Das Generalgouvernement" von 1942. Und was Friedrichs über polnischen Antisemitismus und polnische Pogrome gegen Juden berichtet, das las und sah man schon 1986 beeindruckender in Claude Lanzmanns Shoa. Neu und überzeugend aufbereitet ist hingegen, was Frank Golczewski über Kollaboration in der Ukraine berichtet. Die Ukrainer wollten eine Staatsnation bilden und kooperierten mit jedem, der ihnen dazu verhelfen konnte, wie sie jeden bekämpften, der sie daran zu hindern schien, also Russen und Juden. Die NS-Deutschen wiederum waren antijüdisch, und nur zu gern spannten sie Ukrainer in ihr Vernichtungswerk ein. Die Ukrainer lebten auch in Gebieten wie Polen, das Deutschland erobert hatte, um nun Ukrainer gegenüber Polen zu bevorzugen und beide gegeneinander zu stellen. Golczewski hat das faktenreich und souverän dargestellt, sein Beitrag gehört zu den wenigen Lichtpunkten des Bandes. Mindestens ein Vorwurf ist allen Autoren zu machen: Sie haben die Rolle und Wirkung der Deutschen in Osteuropa, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs rund 10 Millionen Menschen, nicht thematisiert. Warum sie es hätten tun müssen, ist im Protokolls des Eichmann-Prozesses vielerorts nachzulesen, etwa da, wo es um die Slowakei, Ungarn etc. geht.

    Wolf Oschlies über "Kooperation und Verbrechen – Formen der 'Kollaboration’ im östlichen Europa 1939-1945". Der Reader wird von Christoph Dieckmann, Babette Quinkert und Tatjana Tönsmeyer als Band 19 der Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus herausgegeben. Wallstein Verlag, Göttingen, 320 Seiten, 20 Euro