Im Oktober 680 rüstete sich in der Ebene von Kerbela, einem Flecken am Euphrat, der Enkel des Propheten mit seiner Karawane zum letzten Gefecht. Angesichts der feindlichen Übermacht wollte Hussein seine 72 Begleiter aus ihrem Treueschwur entlassen. Doch die Gefährten weigerten sich, den Imam im Stich zu lassen. So zogen sie gemeinsam gegen die Armee des Kalifen. Kein einziger überlebte. Husseins Körper wurde von sieben Feinden zerstückelt und von den Hufen der Pferde zerstampft, sein Kopf als Trophäe nach Damaskus gebracht und am Stadttor zur Schau gestellt.
"Kerbela, Hussein, Chomeini", skandierten Anfang der 80er Jahre Zehntausende persischer Kindersoldaten, als sie auf die irakischen Stellungen zuliefen, um mit ihren Körpern die Front aufzubrechen. Um den rasierten Schädel trugen sie eine rote Schärpe, um den Hals den Plastikschlüssel zum Paradies. In gewaltigen Angriffswellen rannten sie um ihren Tod. Unzählige wurden vom Feuer der Maschinengewehre niedergemäht. Um in den Minenfeldern nicht zerfetzt zu werden, hüllten sich viele Teenager in Decken, so dass man ihre Überreste nach der Detonation zu den Gräbern tragen konnte. Der Todeslauf zu den heiligen Schreinen von Kerbela endete auf dem Friedhof der Märtyrer.
In der Klerikaldiktatur des Ayatollah sieht Christoph Reuter die Geburtstätte der modernen Selbstmordattentäter. Im Iran wurde das religiöse Tabu der Selbsttötung gebrochen und das Himmelsfahrtskommando zur Heldentat verklärt. Die persischen Mullahs lieferten der schiitischen Hisbollah im Libanon neben Waffen und Geld auch die Idee des Opfertods. Das heilige Vorbild fand internationale Anerkennung, in Palästina und Kurdistan, in Colombo, New York und Moskau.
Kapitel für Kapitel erzählt Reuter die Geschichte des Angriffsselbstmordes, von den Assassinen des Mittelalters bis zu Al-Quaida, jener internationalen Brigade arbeitsloser Söldner, die sich nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan auf den Weltkrieg gegen die westliche Zivilisation verlegte. Reuter, der für diverse Blätter im Orient unterwegs war, erweist sich nicht nur als präziser Beobachter der islamischen Welt, sondern auch als begabter Erzähler. Von manch ungehörter Begebenheit weiß er zu berichten: vom letzten Abendmahl hinduistischer Attentäter auf Sri Lanka beispielsweise, bei dem die Auserwählten von ihrem Anführer noch zu Lebzeiten als Märtyrer gefeiert wurden. Oder von jenem 28-jährigen Palästinenser, der in einem Café in Haifa der Kellnerin am Tresen den Sprengstoffgürtel zeigte und sie fragte, ob sie wisse, was das sei. Nachdem alle Gäste schreiend das Café verlassen hatten und der Attentäter allein im Gastraum stand, betätigte er den Schalter. Sein Kopf landete auf einem Tisch. Der Anschlag kostete nur ihm selbst das Leben.
Neben Bombenlegern und Heckenschützen gehören Selbstmordattentäter mittlerweile zum Stammpersonal der neuen, wilden Kriege. Reuters Studie ist die erste, die sich ausschließlich diesem Tatkomplex widmet. Weniger ein Psychogramm liefert seine Untersuchung jedoch als einen Abriß der historischen und kulturellen Umstände.
Gründlich räumt Reuter mit gängigen Stereotypen auf. Selbstmordattentäter sind in der Regel weder Psychopathen noch religiöse Fanatiker. Im Libanon wurden die meisten Anschläge von säkularen Gruppen verübt. Die kurdische PKK, die palästinensischen Brigaden oder die tschetschenischen Kommandos sind weniger islamistisch als nationalistisch. So frenetisch mancherorts der Märtyrerkult gepflegt wird, die Religion ist nicht die Ursache der Tat, sondern ein Mittel des politischen Konflikts. Je nach Opportunität setzen die Chefideologen des heiligen Krieges Versatzstücke der Überlieferung zusammen oder erfinden neue Traditionen aus dem Nichts.
Aber selbst von religiöser Inbrunst führt kein direkter Weg in einen Supermarkt, vor eine Pizzeria oder in das Cockpit einer Passagiermaschine. Um sich in eine lebende Bombe zu verwandeln, gehört mehr dazu als die Naherwartung eines Logenplatzes im Paradies. Was hat wohl ein Frauenphobiker wie Mohammed Atta von 72 Jungfrauen im Paradies? Es dürfte für ihn der blanke Horror sein. Mehr als eine Trostprämie für die Erledigung einer Terrorarbeit sind die paradiesischen Vergünstigungen nicht. Der wahre Märtyrer will nicht sterben, sondern ewig leben. Was ihm sein eigenes Ende erträglich macht, ist die Aussicht auf Ruhm und Unsterblichkeit, und sei es nur im Gedächtnis der Hinterbliebenen.
Zu Recht versucht Reuter, die Organisationsformen des Terrors zu unterscheiden. Da ist die internationale Söldnersekte Al-Quaida, deren Weltbild Züge einer globalen Verschwörung trägt. Sie operiert ohne politisches Ziel und ohne territoriale Bindung. Terror ist für sie Selbstzweck. Die Zerstörung hat keinen anderen Sinn als sie selbst.
Da sind ferner die geschlossenen Verbände unter despotischer Führung wie die PKK oder die tamilischen Tiger. Als totale Kollektive erlauben sie ihren Mitgliedern kein Leben außerhalb der Gruppe. Die Entscheidung über Leben und Tod ist dem einzelnen von vornherein aus der Hand geschlagen.
Und da sind schließlich die offenen Geheimbünde der Hamas oder Hisbollah, welche in der Gesellschaft wechselnde Sympathie genießen. Neben gezieltem Terror sorgen sie auch für eine gewisse soziale Infrastruktur. Die Täter - Jünglinge und Familienväter, Frauen und Männer - werden nicht selten als Volkshelden verehrt. Wer sein Leben der Gemeinschaft darbringt, vollbringt den höchsten Akt der Sittlichkeit, die Preisgabe seiner selbst, indem er andere Menschen in die Luft jagt.
So verschieden die Motive und Umstände, die Logik des Selbstmordattentats ist stets dieselbe. Auf die allgemeine Struktur dieser Gewaltform hat Reuter angesichts der Vielzahl seiner Befunde leider nur wenig Aufmerksamkeit verwendet. So kommt es zur Verwechslung historischer Tatbestände und zur großzügigen Verwendung des Jargons der heiligen Propaganda. Worin also liegt das Besondere des modernen Opfermords und woher rührt die Irritation, die er bei westlichen Beobachtern regelmäßig hinterlässt?
Die Preisgabe seiner selbst verleiht eine einzigartige Zerstörungskraft. Die Tapferkeit der Gegner reicht so weit wie die Hoffnung aufs Überleben. Der Selbstmordattentäter hingegen geht von vornherein aufs Ganze. Er weiß, dass er nicht zurückkehren wird. Mit dem Prinzip der Selbsterhaltung bricht er definitiv. Er ist überlegen, weil er keine Grenzen kennt. Abschreckung schreckt ihn nicht. Indem er stirbt, macht er sich unbesiegbar.
Der Opfermörder vereint in seiner Person die beiden ärgsten Widersacher der Macht. Wie der Märtyrer weist er die Macht in ihre Schranken. Wer sich töten lässt, entzieht sich der Unterwerfung. Die Macht kann ihn unmöglich zwingen, am Leben zu bleiben. Indem er die Freiheit zur Selbstaufgabe nutzt, legt er die Unvollkommenheit jeder Macht bloß.
Wie alle Attentäter demonstriert auch der Selbstmordbomber, dass jeder Machthaber, und sei er doppelt und dreifach gerüstet, verletzbar ist. Keine Macht ist so vollkommen, dass sie vor einem Angreifer sicher wäre. Kein Herrscher vermag die ursprüngliche Gleichheit der Menschen aufzuheben, die physische Verletzbarkeit jedes einzelnen. So können Selbstmordattentäter eine ganze Zivilisation in Angst und Schrecken versetzen.
Für den Täter sind Angst und Terror wichtiger als die eigene Existenz. Manche kämpfen für ein besseres Leben, indem sie ihr eigenes mutwillig beenden. Andere kämpfen für nichts als für ein Fanal ihrer Wut. Indem sie andere ermorden, töten sie zugleich sich selbst. Dies ist eine Konstellation sui generis, die sich von allen historischen Vorbildern unterscheidet.
Chomeinis Kindersoldaten waren keine Vorläufer der Selbstmordattentäter, wie Christoph Reuter meint. Sie waren blindes Kanonenfutter, ähnlich den Millionen ahnungsloser Soldaten des Ersten Weltkriegs, die schon nach wenigen Metern Sturmangriff im Niemandsland erschossen wurden. Auch mit militärischen Himmelfahrtskommandos sind Opfermörder nicht zu verwechseln. Das Kommando sucht den Kampf, auch wenn er aussichtslos ist. Der Attentäter hingegen sprengt Wehrlose in die Luft. Er ist und bleibt ein Terrorist, der plötzlichen Schrecken verbreitet. Deshalb gehören auch die japanischen und deutschen Kamikazepiloten nicht in die Ahnengalerie heutiger Selbstmordattentäter.
Märtyrer wiederum erdulden ihren Tod, aber sie bringen weder sich noch andere um. Daher waren die Kriegshelden von Kerbela, die Hussein in den Tod folgten, auch keine Märtyrer. Die Geschichte der Selbstmordattentate begann nicht im Iran der Mullahs, sondern 1983 in Beirut, als verwegene Chauffeure ihre mit Sprengstoff gefüllten LKWs in die Unterkünfte französischer und amerikanischer Elitesoldaten lenkten. Die Verluste waren immens. Das Selbstopfer fällt stets leichter, wenn man möglichst viele mit sich reißt. Andere in großer Zahl zu töten, minderte schon immer die eigene Todesangst.
Christoph Reuter: "Mein Leben ist eine Waffe. Selbstmordattentäter. Psychogramm eines Phänomens", Bertelsmann Verlag, München, 448 Seiten, 23,90 Euro.