Sonntag, 12. Mai 2024

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Christoph Willibald Gluck- "Iphigénie en Tauride"

Ich möchte Sie heute, in Gedanken und Tönen, auf die ukrainische Halbinsel Krim bitten - freilich in eine Zeit, als das fruchtbare Eiland im Schwarzen Meer noch Tauris hieß, der Krim-Sekt noch nicht in Strömen floss und die Barbaren das Terrain beherrschten - wie der folgenden Ballettmusik unschwer anzuhören ist. * Musikbeispiel: C. W. Gluck - 1. Akt: Ballet aus: Iphigénie en Tauride So etwa stellten sich die Pariser Opernconnaisseurs von 1779 den Ausbruch von Barbarei und Primitivität vor: mit bäurischen Tanzboden-Rhythmen, ein paar harmoniefremden Tönen und einem unkultiviertem, gleichwohl mitreißendem Tschinderassa. Doch nur die Wenigsten unter den Adligen und Intellektuellen im Publikum dürften damals geahnt haben, dass nur zehn Jahre später - ausgelöst durch den Sturm auf die Bastille - ganz ähnliche Töne die barbarische Arbeit der Guillotine begleiten sollten. Dabei wollte der aus Wien zugereiste Christoph Willibald Gluck, der seit einigen Jahren das Opernleben in Paris gehörig aufmischte, mit diesem Ballett den Stamm der Skythen charakterisieren, die sich in Urzeiten auf der Insel Tauris - eben der heutigen Krim - niedergelassen hatten. Und jeder Goethe-feste Leser ahnt jetzt, um welchen Stoff aus der Mythologie es sich dabei handelte: "Iphigénie en Tauride" - zu deutsch: "Iphigenie auf Tauris" - hieß die neueste musikalische Tragödie, die Gluck 1779 an der Académie Royale de Musique, der nachmaligen Opéra in Paris aufführen ließ. Der Franzose Marc Minkowski hat das Werk, das als Höhepunkt von Glucks Opernkarriere gilt, zusammen mit seinen "Musiciens du Louvre" in einer Neuaufnahme der Archiv Produktion vorgelegt - eine hinreißende Deutung, die sofort klar macht, wie sehr Gluck, dieser Vorreiter von Wagner und Berlioz, im Grunde doch auch der barocken Oper verpflichtet war. In Glucks "Iphigénie en Tauride" herrscht - anders als bei Goethe - keine edle Einfalt und arkadische Gelassenheit. Hier prallen Leidenschaften archaisch aufeinander. Und die Besessenheit von Orest, der seit dem Mord an seiner Mutter Klytämnestra von den Furien gejagt wird, findet passionierten Ausdruck in einem komponierten Alptraum, in dem ihm die Furien den Muttermord vorwerfen. Der englische Bariton Simon Keenlyside ist Orest; Marc Minkowski dirigiert "Chœur et Musiciens du Louvre". * Musikbeispiel: C. W. Gluck - 2. Akt (Ausschnitt) aus: Iphigénie en Tauride Wohl niemand, der der Uraufführung von Glucks "Iphigénie en Tauride" in Paris zujubelte - darunter seine wichtigste Gönnerin, die französische Königin Marie-Antoinette - wäre auf den Gedanken gekommen, dass der Komponist die meisten seiner packenden Szenen aus früheren, zumeist italienischen Opern übernommen hatte, die sein Werkverzeichnis füllten. Das "brillanteste Pasticcio der Operngeschichte" hat man Glucks Hauptwerk denn auch genannt, in dem die Karrierestationen des oberpfälzischen Förstersohn gleichsam Revue passierten: die Werke, die er als Mitglied reisender Theatertruppen schrieb; seine Ballette und Opéra comiques, die er für Wien komponierte; und natürlich die Reformopern seit "Orfeo ed Euridice". Und die Gründlichkeit, mit der Gluck seine Stoffe von Nebenhandlungen und allegorischem Dekor säuberte, mit der er die starre Nummernabfolge der Arien aufsprengte und den Primadonnen und Sängerstars alle lieb gewordene Stimmakrobatik untersagte - dies alles sicherte ihm zu Lebzeiten historischen Rang. Aber auch Kritik! "Gluck, dieses Untier, hat alles zertrampelt!" wetterte Claude Debussy, wobei er der luftigen Galanterien eines Jean-Philippe Rameau nachtrauerte. Doch die musikalische Revolution in Frankreich war ebenso wenig umzukehren wie die politische. Und wer die große Arie der Iphigenie aus dem zweiten Akt hört, in der sie inmitten ihrer Priesterinnen den Untergang ihrer Familie beweint, die fühlt sich instinktiv an Cherubini oder Berlioz erinnert. Die Elsässerin Mireille Delunsch, seit einigen Jahren eine Favoritin von Minkowski im Sopranfach und umjubelte Protagonistin in Benjamin Brittens "Turn of the Screw" bei den diesjährigen Salzburger Festspielen, verkörpert Glucks Iphigenie * Musikbeispiel: C. W. Gluck - 2. Akt (Ausschnitt) aus: Iphigénie en Tauride War 1987, 200 Jahre nach Glucks Tod, noch wenig Interesse am Komponisten aus den Reihen des Alte-Musik-Bewegung zu spüren, so scheint sich in den letzten Jahren das Blatt gewendet zu haben. Vor allem Marc Minkowski hat - beginnend mit seiner Neueinspielung von Glucks "Armide" - die musikdramatischen Tugenden des Komponisten erkannt und wirkungsvoll ausgestellt. Seine Einspielung der "Iphigénie en Tauride" bestätigt jedenfalls einmal mehr das Feuer und die emotionale Dringlichkeit, mit der Minkowski Musiker wie Sänger motivieren kann. Und so ist weder in den großen Chorszenen noch in den unerhört zupackenden Arien etwas von der alten Perücke zu spüren, die man Gluck zuweilen nachsagt. Das französisch dominierte Gesangsensemble mit Mireille Delunsch in der Titelrolle, Simon Keenlyside als Orest, Yann Beuron als sein Freund Pylades und Laurent Naouri als Thoas ist handverlesen und bestens eingeschworen auf Minkowskis extremistische Barocksicht. Und wenn es am Schluss - kurz vor der glücklichen Abreise des Geschwisterpaares - schon stark nach "Zauberflöte" klingt, dann mischen Gluck und Minkowski auch hier noch eine wenig französische Süße hinein. * Musikbeispiel: C. W. Gluck - 4. Akt (Ausschnitt) aus: Iphigénie en Tauride Der Schlusschor aus der Oper "Iphigénie en Tauride" von Christoph Willibald Gluck. In einer Neuaufnahme der Archiv Produktion, einem Label der Deutschen Grammophon, dirigierte Marc Minkowski "Chœurs et Musiciens du Louvre".

Michael Struck-Schloen | 23.09.2001