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Christopher Hitchens: Die Akte Kissinger

Während seiner Zeit als erster nationaler Sicherheitsberater und später als Außenminister unter Nixon und Ford war er immer zur Stelle, um die Armen und Hilflosen zu bombardieren oder anderweitig zu zerstören, von Chile bis Kambodscha, und einen strategischen "Deal" mit den Machthabern zu machen, selbst mit Mao.

Karin Beindorff | 03.09.2001
    Das schreibt der slowenische Philosoph Slavoj Zizek in der Frankfurter Rundschau.

    Wenn ein Land, am besten ein westeuropäisches, Kissinger auf der Promotion-Tour für dessen neuestes Buch auf dieselbe Weise verhaften würde, wie man in England Pinochet verhaftet hat, so wäre das eine authentische politische Tat. Eine solche Geste würde die internationale Menschenrechtsmaschinerie auf den Prüfstand stellen und die Verantwortlichen zwingen, ihren Standpunkt klar zu machen und eine Wahl zu treffen. Entweder würden die USA Kissingers Freilassung fordern und damit den großen Betrug der Menschenrechte belegen oder... Mitunter besteht die klügste Politik in äußerlicher Naivität, oder, um Gandhis geistreiche Bemerkung zur britischen Zivilisation zu zitieren: "Universelle Menschenrechte? Eine gute Idee, vielleicht sollten wir sie ausprobieren." Dieses sollte die Botschaft an Machthaber sein, die für die Menschenrechte eintraten bei der Verhaftung Noriegas, beim Bombardieren des Irak, bei der Wirtschaftsblockade Kubas, beim Verfolgen jugoslawischer Kriegsverbrecher vor dem Haager Tribunal: Verhaftet Kissinger, oder schweigt von Milosevic.

    Zu solch konsequenter politischer Moral hat den slowenischen Philosophen die Lektüre von Christopher Hitchens Buch "The Trial of Henry Kissinger" veranlasst. Bei der DVA in München ist jetzt unter dem Titel "Die Akte Kissinger" die deutsche Übersetzung erschienen.

    Henry Kissinger, der große Staatsmann und Weltenlenker, wie ihn die 'Zeit' einmal nannte, musste im Mai im feinen Pariser Ritz Hotel erfahren, dass nicht jeder ihn, wie Helmut Schmidt, für einen 'äußerst hartnäckigen diplomatischen Vermittler des amerikanischen Ideals von Freiheit' hält. Ein französischer Untersuchungsrichter ließ dem Friedensnobelpreisträger und hochdotierten Vortragsreisenden eine Zeugenvorladung überstellen. Die Familien von fünf Franzosen, die im Chile Pinochets spurlos verschwanden, wollen die Verantwortung für die Verfolgung und Ermordung Oppositioneller im faschistischen Chile aufklären. Der Richter versuchte deshalb zu ermitteln, was der damalige Chef des Nationalen Sicherheitsrates der USA und das Mitglied im Geheimdienstkontrollgremium Committee 40 über die Verwicklung der CIA in die Operation Condor wusste, über den Geheimplan zur Verfolgung Oppositioneller, vereinbart zwischen mehreren rechten Diktaturen Lateinamerikas. Henry Kissinger lehnte es ab, auf die Vorladung zu antworten. Interesse an der Aufklärung kann er wohl auch kaum haben, denn in Zeiten der juristischen Ermittlungen gegen Milosevic, Pinochet, Scharon und andere Zeitgenossen, die sich um das internationale Recht gegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit, Mord und Folter wenig scheren, kann selbst ein ehemaliger us-amerikanischer Außenminister schnell mal in Verruf geraten. Die für die Zwecke der NATO instrumentalisierte Menschenrechtsdebatte schlägt zurück. Christopher Hitchens, ein in den USA lebender britischer Autor, hat sich schon mit der unsanften Entzauberung von medialen Lichtgestalten wie Mutter Teresa und Lady Di einen Namen gemacht, nun hat er sich Henry Kissinger vorgeknöpft. Hitchens geht es weniger um eine politische Analyse, er denkt wie ein Ankläger:

    Ich möchte nur jene Vergehen Kissingers untersuchen, die als Grundlage für eine Strafverfolgung dienen können und sollten: wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Delikte gegen das allgemeine Rechtsverständnis oder internationales Recht, darunter Verschwörung zum Mord, Entführung und Folter.

    Leichen pflastern den Weg des Weltenlenkers Dr. Kissinger, diese These ist nicht grundsätzlich neu. Ob der faschistische Putsch in Chile oder die Endphase des Vietnamkrieges, die illegale Bombardierung von Kambodscha und Laos, schon andere Biographen haben Kissingers geostrategisches Denken und Handeln beschrieben und teils heftig kritisiert.

    Christopher Hitchens hat akribisch recherchiert, Details zusammengetragen, ein paar neue Belege in bisher verschlossenen Archiven ausfindig gemacht und zahlreiche Interviews geführt und ausgewertet. Das Ergebnis, zudem bissig geschrieben, liest sich wie ein Krimi. Doch selbst wenn man nach der Lektüre unterstellt, das Gefundene sei stichhaltig, so ist es doch in der 'Akte Kissinger' zu einem Konstrukt verarbeitet, zu einer gewollt eindimensionalen Beurteilung komplexer politischer Zusammenhänge unter dem Gesichtspunkt strafrechtlich relevanter persönlicher Schuld. Kann man aber Politik unter den Prämissen des Strafrechts machen und beurteilen? War dann nicht zwangsläufig der bewaffnete Kampf des ANC gegen das Apartheid-Regime illegal oder ist dann nicht auch das NATO-Bombardement in Jugoslawien ein Kriegsverbrechen?

    Als erstes Beispiel dient Hitchens der Vietnam-Krieg. Ende 1968 verhandelten in Paris die USA und Südvietnam mit Nordvietnam über einen Friedensvertrag. Zuhause tobte der Wahlkampf zwischen dem Demokraten Humphrey und dem Republikaner Nixon. Kissinger soll nun mit von der Partie gewesen sein, als das Nixon-Team illegal die südvietnamesische Marionettenregierung anstiftete, die Verhandlungen zu verlassen. Man hatte ihr schlicht im Falle eines Wahlsieges von Nixon bessere Konditionen versprochen. Der Krieg dauerte weitere drei Jahre, wurde dann zu ähnlichen Bedingungen vom unter Nixon zum Nationalen Sicherheitschef avancierten Kissinger beendet. In der Zwischenzeit hatte Kissinger Kambodscha und Laos in Schutt und Asche legen lassen und weitere mindestens 20.000 US-Soldaten in den Tod geschickt.

    Und dies alles war nur nötig, um Henry Kissinger nach vorne zu bringen. Es machte aus einem mittelmäßigen, opportunistischen Akademiker einen internationalen Potentaten. Seine herausragenden Eigenschaften waren schon von Beginn an vorhanden: Kriecherei und Doppelzüngigkeit, Machtverehrung und das völlige Fehlen von Skrupeln, das Verschachern alter scheinbarer Freunde für neue scheinbare Freunde... Kissingers Weltkarriere begann so, wie sie auch weiterhin verlaufen sollte. Sie verdarb die amerikanische Republik und die Demokratie, und sie forderte schwächeren und verwundbareren Gesellschaften eine ungeheuerliche Menge Menschenopfer ab.

    Hitchens geht nicht der Frage nach, ob der Krieg in Vietnam tatsächlich 1968 schon hätte beendet werden können, ebenso wenig spielt die militärische Niederlage, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits abzeichnete, eine Rolle. Die Bedingungen für einen Frieden wurden nicht nur von den USA bestimmt, die Nordvietnamesen und der Vietcong hatten zu diesem Zeitpunkt kaum Veranlassung, sich den mit viel Blut bezahlten Triumph des militärischen Sieges durch fadenscheinige Kompromisse nehmen zu lassen. Hitchens personalisiert die Politik allzu stark und zieht gelegentlich Schlüsse, die vielleicht seiner Anklage dienen, aber die politischen Zusammenhänge außer acht lassen. Doch selbst wenn man sich auf die Ebene strafrechtlich relevanten Tuns begibt: Wer ist dann schuldig oder mitschuldig? Der Präsident, der Außenminister, Militärs, der einzelne Soldat, die Geheimdienste und jeder ihrer Mitarbeiter, der angestiftet, gemordet und gefoltert hat, die Journalisten, gar die Wähler in der Demokratie USA? Und wieso konnte ein derart skrupelloser von einem Drahtzieher wie Kissinger gelenkter Herrschaftsapparat am Ende doch sein Waterloo in Vietnam erleben?

    Kissinger, der sich zuerst in der akademisch-politischen Welt von Harvard mit einer Studie über Metternich einen Namen gemacht hatte, war ein Kalter Krieger der realpolitischen Sorte. Der militante Antikommunismus war für den smarten Aufsteiger, der es vom Emigrantenkind aus Fürth zum einflussreichen Außenpolitiker der USA gebracht hatte, die entscheidende Triebfeder. In diesem Kreuzzug war jedes Mittel recht, nicht anders übrigens als beim verhassten und dämonisierten Gegner im Kampf gegen die Krake Kapitalismus. Man stelle sich nur für einen kleinen Moment den umgekehrten Ausgang des Kalten Krieges vor: Der siegreiche Osten würde genüsslich in den dann nicht mehr wie heute so schamhaft verschlossenen Archiven von westlichen Militärs und Geheimdienstlern herum stöbern und zutage fördern, was ein selbstgerechter, weil siegreicher Westen heute nicht wahrhaben will. Nämlich, dass auch im Namen der Freiheit Verbrechen begangen wurden, die ein ziemlich schlechtes Licht auf diese Vorstellung von Freiheit werfen.

    Hitchens zählt eine Reihe blutiger Verbrechen auf, geschehen in Chile, Bangladesh, Zypern, Osttimor, um nur die zu nennen, bei denen die Beweislage für den Laien-Staatsanwalt besonders günstig ist. Die zwielichtige Unterstützung angolanischer Rebellen oder des Massenmörders Mobutu in Zaire, hat Hitchens weggelassen, obwohl auch sie für die Charakterisierung dieser geostrategischen Machtpolitik unerlässlich sind und für die Auffrischung des Gedächtnisses in diesen Zeiten westlicher Selbstgerechtigkeit im Angesicht des Sieges nützlich wären. Es fehlen, weil strafrechtlich kaum zu fassen, auch die Drohungen gegen die italienische Demokratie, gegen den eigenen NATO-Partner, falls der auf die Idee kommen sollte, die legal gewählten Kommunisten an der Regierung zu beteiligen. Heute ist längst bekannt, welch abenteuerliche und mit den Gesetzen einer Demokratie unvereinbaren Pläne auch in der NATO unter Kissingers Druck entwickelt wurden, um die von Moskau unabhängigen Eurokommunisten aus dem Feld des historischen Kompromisses zu schlagen. Wie herzlich wurscht ihm demokratische Wahlentscheidungen waren, wenn er das Militärbündnis in Gefahr sah, offenbarte Kissinger noch 1999 im 3. Band seiner Erinnerungen:

    Mit der Situation in Italien war schwierig fertig zu werden, weil die kommunistische Partei offenbar den Marsch durch das reguläre Wahlsystem angetreten hatte... Natürlich konnten wir nur wenig tun, um die Entscheidung der Politiker eines Landes wie Italien, das für das Atlantische Bündnis so zentrale Bedeutung hatte ... direkt zu beeinflussen. ... Als Führungsmacht der demokratischen Nationen trugen die Vereinigten Staaten eine besondere Verantwortung für den moralischen Zusammenhalt des Bündnisses.

    Doch diese Moral war eher eine Doppelmoral: Präsident Ford, so Kissinger weiter, habe am Beispiel Portugals dem italienischen Regierungschef Aldo Moro klar gemacht, dass man eine marxistische Regierung in der NATO nicht dulden würde. Wenige Monate später wurde der Christdemokrat Moro, der den 'historischen Kompromiss' für Italien wollte, entführt und ermordet. Andreotti, ein Bruder Kissingers im Geiste, nahm dessen Platz ein. Die Chilenen, die Allende zum Präsidenten gewählt hatten, hielt Kissinger schlicht für unvernünftig, weswegen er es als gerechtfertigt ansah, mit Geheimdienstoperationen den faschistischen Putsch zu unterstützen. Sogar seine eigenen Mitarbeiter ließ Kissinger bespitzeln, was ihn fast das Amt des Außenministers gekostet hätte.

    Es ist diese Verklärung von kruder Interessenpolitik zum legitimen Widerstand gegen die kommunistische Weltverschwörung, dieses Legitimationskonstrukt der westlichen Kalten Krieger, das eigentlich auf die Anklagebank gehört. So herzerwärmend es wäre, Henry Kissinger in Handschellen vor seinen gerechten Richtern zu sehen, es würde nur von diesem eindimensionalen Machtdenken, dass derartige politische Verbrechen erst hervorbringt, auf problematische Weise ablenken.

    In Deutschland, wo der affektive Antikommunismus bis weit in die SPD hinein zum guten Ton gehört, ist Kissinger noch heute, trotz allem, was man schon vor Hitchens über ihn wissen konnte, ein Gegenstand hageographischer Verklärung. Gerade erst hat in der 'Zeit' Theo Sommer Henry Kissinger zur 'einmaligen Erscheinung' geweiht. Er sei 'eine Mischung aus Leopold von Ranke, Otto von Bismarck, Raymond Aron und McKinsey'. Zur Verleihung des Franz-Josef Strauß-Preises beweihräucherte Theo Waigel 1996 Kissinger als einen, 'der den Vorrang einer pragmatischen Politik der Verantwortung gegenüber einer an abstrakten Zielen orientierten dogmatischen Prinzipienpolitik betont habe'.

    Nicht umsonst weigert sich der US-Kongress, das Statut über ein Internationales Strafgericht zu ratifizieren. Der Pragmatiker Kissinger wird wohl auch weiterhin seine 30.000 Dollar-Vorträge halten können. Doch vielleicht kann Hitchens Buch und die daraus folgende Debatte ein Anstoß sein, einen ehrlicheren, einen weniger ideologischen Blick auf die Geschichte des Kalten Krieges und seine 'pragmatische Politik der Verantwortung' zu werfen.

    Christopher Hitchens, "Die Akte Kissinger". Der Band ist bei der Deutschen Verlagsanstalt in München erschienen, hat 250 Seiten und kostet DM 39,80.