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Christstollen
Aus Dresden um die Welt

Weihnachten und der Advent sind ohne Tannengrün und Kerzen undenkbar. Auch ohne Christstollen mag sich vielerorts keine Besinnlichkeit einstellen. Christstollen aus Dresden genießt dabei einen ebenso hervorragenden Ruf wie eine lange Tradition.

Von Franz Lerchenmüller | 01.12.2013
    Ein Hauch von Weihnacht liegt in der Luft, ein zartes Aroma von Zimt, Rum und frischgebackenen Keksen. Zwischen Mehlsilo, Semmelpresse und zwei langen, hölzernen Arbeitstischen wartet Bäckermeister Henry Mueller auf die fünf Damen, die heute an seinem Backkurs teilnehmen. In seiner weißen Jacke mit dem aufgestickten Dresdener-Stollen-Siegel in Gold gibt der 46-Jährige wahrlich einen Bilderbuch-Bäcker ab. Ab sofort dreht sich vier Stunden lang alles nur noch um sein Lieblingsthema: den Dresdner Stollen, ein sogenanntes "Gebildgebäck".
    "Es gibt ja viele Gebäcke, die einen historischen Hintergrund haben, Stutenkerle z.B. Der Stollen gehört dazu, als das in Windeln gewickelte Christkind."
    Für jede Teilnehmerin haben Henry und seine Frau Ines die Zutaten schon vorbereitet. Mehl, Butter, Hefe und Milch sind abgewogen, die Rosinen über Nacht in Rum eingeweicht und Orangeat, Zitronat und Mandeln gehackt. Die Arbeit beginnt mit dem Herstellen des Vorteigs: Mehl, Zucker und Milch werden vorsichtig mit den Fingerspitzen zu einem klebrigen Batzen vermischt.
    "Also hier, man siehts, ist eine weiche Konsistenz, läuft nicht, geschmeidig, klebt schön, dann putzen wir jetzt die Finger schön ab, und jetzt deck mer den bisschen zu mit dem restlichen Mehl und da sehen wir dann, was passiert. Auf gehts !
    Und das arbeitet sich dann bis ... - Nein, nein nein. Wir müssen auch noch arbeiten. So. Alles klar?"
    Dieser Vorteig muss jetzt gehen - Zeit für einen kurzen historischen Abstecher: Der Stollen - das war einst ein Gebäck für die adventliche Fastenzeit. Er wurde, wenig appetitanregend aus Wasser, Mehl und etwas Rübenöl zusammengeknetet.
    Durch Butter genießbarer
    Genießbarer wurde er erst, als Papst Innozenz VIII. im 15. Jahrhundert den Sachsen erlaubte, ihren "Striezeln", wie die Stollen auch hießen, Butter beizumischen. Bäcker gab es damals natürlich nicht nur in Dresden.
    "1617 haben wir den Siebenlehner Bäckerkrieg. Bis dahin war ja der Dresdner Stollen nicht so bekannt wie vielleicht der Siebenlehner, der Meißner, der Torgauer Stollen. Aber die Dresdner Bäcker waren trotzdem auf der Hut und haben neidisch geschaut nach denen, die von außerhalb der Stadtgrenzen die Stollen nach Dresden auf den Markt brachten und dort feilboten. Und da gabs dann das große Hauen auf dem Transport nach Dresden"
    Die Dresdner verprügelten die auswärtigen Kollegen kurzerhand und fackelten ihre Fuhrwerke ab. Doch jetzt wird es wieder Zeit für die Arbeit. Der Teig wird geknetet. Henry Mueller zeigt, wie das fachmännisch geht.
    "In der Mitte Druck geben, nach außen arbeiten. Und dabei den Ballen immer ein kleines Stück drehen. Und dann arbeiten wir den Schluss auf der Seite, und alles andere ist umspannt von dieser noch leichten Zähigkeit des Teiges. Der ist ja schon wirklich eher formbar und plastisch. Je weniger Fett drin ist, desto mehr merkt man, wie diese Spannung um den Teig drumrum beim Wirken entsteht."
    Die restlichen Zutaten stehen bereit. Was in einen Dresdner Stollen gehört, ist ziemlich genau festgelegt. Jeder Betrieb muss diese Regeln sorgfältig einhalten. Darauf achtet der Schutzverband Dresdner Stollen e.V. sehr streng. Hatte Geschäftsführer René Groh zuvor in seinem Büro erklärt.
    "Zum Beispiel müssen, bezogen auf die Mehlmenge 50 Prozent Butter drin sein, oder es müssen 65 Prozent Sultaninen drin sein, oder 20 Prozent Zitronat, Orangeat - und das wird eben auch kontrolliert."
    Dazu kommen noch auf jeden Fall 15 Prozent Mandeln. Ob ein Bäcker dann Marzipan beimengt oder nicht, ob er Vanille, Macisblüte oder andere Gewürze dazugibt, bleibt ihm überlassen. So kommt es, dass trotz vorgegebener Kriterien die Stollen von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich schmecken.
    Das ist das eine.
    Geschützte geografische Herkunft
    Zum anderen aber muss der Stollen auf jeden Fall in Dresden oder in einem genau festgelegten Gebiet um die Stadt gebacken worden sein. Da verstehen die Dresdner keinen Spaß. Es kann nur einen geben, meinen sie.
    "Diese geschützte geografische Herkunft, die sagt eben, dass ein Dresdner Stollen nur aus Dresden kommen kann und jede Anspielung, die dann auf Dresden hinwegzieht, das ist eben "nach Dresdner Art" oder "nach Dresdner Familienrezept" oder ein Bild von Dresden, reicht schon aus, um die Marke zu verletzen und dass wir dagegen vorgehen. Keine Frauenkirche. Keinen goldenen Reiter - das sind alles Dinge, die man mit Dresden und damit auch mit dem Dresdner Christstollen verbindet. Leider gibts immer noch viele Nachahmer, aber ich kann nur abraten, das zu tun, denn wir finden denjenigen. Und dann gibts Saures vom Anwalt."
    Kehren wir zurück in die Backstube von Henry Mueller. Da kommen inzwischen die Zutaten in den Teig und alles wird ordentlich durchgeknetet. Ganz wichtig ist, dass immer genügend Rosinen dabei sind - damit der Stollen nicht - schreit?
    "Es gibt "Schreistollen" und "Flüsterstollen".Beim Schreistollen liegen die Sultaninen so weit auseinander, dass, wenn sie sich unterhalten wollen, müssen sie ich anschreien. Und hier liegen sie so dicht zusammen, dass sie flüstern können."
    So einfach wie heute hat man die erforderlichen Zutaten allerdings nicht immer gefunden. In früheren Zeiten war gelegentlich manches arg knapp.
    "Nach dem Krieg wars eben schwierig, Butter zu bekommen, soviel, dass man 50 Prozent vom Mehlanteil hinzugeben kann. So hat man sich dort eben mit Schweineschmalz oder mit Rindertalg beholfen."
    Eine der mitbackenden Damen schwärmt von einem alten Familienrezept, das noch aus DDR-Zeiten stammt.
    "Bei uns kommt in den Stollen unbedingt eine Tonkabohne rein. Die Tonkabohne war mal ein Ersatz für Vanille und Bittermandel und ich finde dieses Aroma im Stollen besonders gut. - Das überrascht mich jetzt nicht wirklich, weil es ja verschiedene Ersatzstoffe gab. Wo wir da eben über kandierte grüne Tomaten sprechen, als Ersatzstoff für Zitronat, ich hab nie gehört, dass jemand daran gestorben ist, aber wir haben es auch nicht wirklich im Stollen eingesetzt, sondern ein spezielles Teegebäck z.B. kreiert."
    Wer Westkontakte hatte, zog es freilich vor, sich originale Zutaten von Verwandten schicken zu lassen. Pünktlich vor Weihnachten ging es dann mit den gesammelten Schätzen zum Bäcker.
    "Früher kam die Großmutter oder die Mutter mit ihren Zutaten, brachte die zum Bäcker, hat sich danebengestellt und geguckt, wies gemacht wird und da wurde dann immer aufgepasst, dass der Bäcker nicht zwischendurch was verschwinden lässt"
    Heute werden in Dresden jedes Jahr über drei Millionen Stollen gebacken und in alle Welt verschickt. 130 Firmen gehören dem Schutzverbund an. Einer der ältesten Betriebe ist die Konditorei Kreutzkamm, 1825 gegründet.
    Drei Millionen Stollen werden in Dresden pro Jahr gebacken und in alle Welt verschickt
    Zur vorletzten Jahrhundertwende lief das internationale Geschäft schon prächtig, erzählt die Chefin Elisabeth Kreutzkamm-Aumüller vor dem neuen Café am Altmarkt. Jugendstillampen, gusseiserne Säulen und Marmortischchen lassen die Atmosphäre jenes "Café Kreutzkamm" wieder auferstehen, in dem sich Anfang des 19. Jahrhunderts die betuchtere Gesellschaft zu Esterhazy-Torte und Baumkuchen traf.
    "Um 1900 hat mein Großvater Max Kreutzkamm begonnen, das Versandgeschäft anzukurbeln, ganz vorne natürlich mit dem Dresdner Christstollen. Es waren zu der Zeit ja in Dresden schon viele Touristen, die oben am Weißen Hirsch zur Kur waren, die Oper hatte einen Weltruf, die Theater, die Museen. Und die kamen alle früher oder später zu uns ins Café Kreutzkamm und probierten einige unserer Dinge und fragten dann später nach, ob wir ihnen das denn auch schicken könnten. Und so begann der Versandhandel. Wenn`s wirklich weit wegging, kam der Nachbarklempner vorbei, hat die Blechkisten zugelötet und dann gingen die Stollen auf ihre zum Teil drei Monate lange Reise."
    1945 lag Dresden in Trümmern. Firmenchef Fritz Kreutzkamm ging nach München und baute ein neues Unternehmen auf. 1993, nach der Wende, zog Elisabeth Kreutzkamm nach Dresden. Sie übernahm das insolvente Dresdner Backhaus und begann wieder, Dresdner Stollen zu backen. Zusammen mit ihren Kollegen arbeitet sie stetig daran, so etwas wie eine neue Stollen-Tradition zu schaffen.
    "Durch glückliche Umstände ist dieser Stollen ja fest mit der Stadt und der sächsischen Historie verwurzelt. Es gab 1730 August den Starken, der das Zelthainer Lustlager ins Leben gerufen hat. Da wurde ein Riesenstollen gebacken, das haben wir vor 20 Jahren aufgenommen. Auf einem alten Stich, der heute in der Landesbibliothek liegt, ist der alte Riesenstollen zu sehen, mit einem Stollenmesser, das wurde damals entwickelt. Und das Stollenfest ist einfach, wenn sie die Stadt fragen, das Wochenende, das am meisten nachgesucht wird im ganzen Jahr in Dresden."
    Der Riesenstollen! Immer am zweiten Advent wird er auf einem Pferdefuhrwerk in einer Prozession mit Fanfarenbläsern und Handwerkern in Berufskleidung zum traditionellen Striezelmarkt gebracht. Hergestellt wird er heute selbstverständlich anders als zu Zeiten Augusts des Starken, verrät Bäcker Mueller, der zugleich Innungsmeister der Dresdner Bäcker ist.
    Riesenstollen und Stollenmädchen
    "Dieser Stollen wird natürlich nicht wie 1730 in einem extra dafür gebauten Ofen gebacken. Heute wird das in vielen einzelnen Puzzleteilen gebacken in Blechgröße 60 mal 40, ungefähr fünf Zentimeter hoch und dann mit unserem Superbaustoff Butter und Zucker zusammengesetzt zu einem gewinkelten Stollen."
    Seit 1995 gibt es außerdem ein Stollenmädchen, die bürgerliche Vertreterin im Reigen der deutschen Wein-, Wald- und Wiesenköniginnen. Eben wurde die 19-jährige Friederike Pohl, Azubi in der Konditorei Bierbaum, zur diesjährigen Würdenträgerin gekürt. Blond, blauäugig und munter sitzt sie in ihrem blau-weiß gestreiften Kleid im Café und gönnt sich, ganz Lokalpatriotin, eine Dresdner Eierschecke. Stollen steht ohnehin auf dem Tisch.
    "Um Stollenmädchen zu werden, muss man Auszubildende am Berufsschulzentrum für Ernährung und Agrarwirtschaft sein, muss gute schulische Noten haben und Interesse am Dresdner Stollen. Die Agentur kommt quasi in die Schulen, schaut sich die Lehrlinge an und nimmt dann eine Vorauswahl und der Stollenschutzverbund gibt dann quasi das Okay zum Stollenmädchen und gibt die letzte Entscheidung."
    Doch zurück in die Backstube von Henry Mueller. Dort biegen die Hobby-Bäckerinnen und ihr Meister allmählich auf die Zielgerade ein. Der Ofen geht auf. Fünf braune Prachtkerle mit Rosinen-Sommersprossen lachen frischgebacken in die Welt.
    "Jetzt wird der Stollen heiß gebuttert, so wie er aus dem Ofen kommt. Dadurch kann die Butter in jede Pore des Gebäcks einziehen und gleichzeitig das Gebäck oben versiegeln."
    Am Ende wird er dick mit Puderzucker bestäubt, der sich mit der Butter zu einer feinen Kruste verbindet. Nun sollte er noch 14 Tage ruhen - und dann kann es Weihnacht werden. Weihnacht mit einem Stück jahrhundertealter süßer Tradition - aus der einzig wahren Stollenstadt - der an der Elbe.